Verlorene Körperteile vollständig ersetzen? Diese Fähigkeit besitzen nur sehr wenige höhere Organismen. Säugetiere gehören nicht dazu. Ausnahme: Die Regeneration des Geweihknochens der Hirsche. Doch wie genau läuft diese Erneuerung ab? Auf diese Frage haben jetzt Wissenschaftler in der aktuellen Ausgabe des Online-Journals Public Library of Science (PLoS) ONE eine Antwort gegeben.
Danach liegt dem Wachstum des primären Geweihknochens wie dem Prozess der jährlichen Geweihknochenregeneration vermutlich eine periodische Aktivierung von Stammzellen beziehungsweise Vorläuferzellen zugrunde.
Das Verständnis der Mechanismen, die diesen einzigartigen Regenerationsprozess verursachen und regulieren, könnte einen wichtigen Beitrag im Rahmen des stark anwachsenden Forschungsgebietes der regenerativen Medizin leisten, so die Wissenschaftler um Dr. Hans Joachim Rolf von der Universitätsmedizin Göttingen gemeinsam mit Kollegen von der Universität Hildesheim in PLoS ONE.
Rosenstock im Visier der Forscher
Das jährliche Erneuern der Geweihknochenstrukturen ist das einzige bekannte Beispiel im Tierreich, bei dem ein ausgewachsenes Säugetier ein Körperteil in einem relativ kurzen Zeitraum vollständig wiederherstellen kann. Aus diesem Grund ist der Geweihknochen ein höchst interessantes Studienobjekt für Wissenschaftler, die sich mit Fragen zur Regeneration von Geweben und Körperteilen beschäftigen.
In diesem Zusammenhang werden seit längerem die Beteiligung von so genannten Vorläuferzellen, die zum Beispiel durch „Umprogrammierung“ von bereits differenzierten Zellen des Körpergewebes entstehen sollen, oder eine mögliche Aktivierung von im Gewebe „ruhenden“ Stammzellen diskutiert.
Das Geweih der Hirsche sitzt auf knöchernen Stirnzapfen, die als „Rosenstock“ bezeichnet werden. In einem jährlichen Zyklus fallen die Geweihe des Vorjahres von der Stirn des Tieres ab. An der Spitze der Stirnzapfen bleiben dabei offene Wunden zurück.
Regeneration mit bemerkenswerter Geschwindigkeit
Die Wundheilung und die Bildung der gleichzeitig entstehenden „Gewebeknospen“, aus denen neuer Geweihknochen hervorgeht, vollziehen sich in bemerkenswerter Geschwindigkeit. Bei größeren Arten, wie dem Rothirsch – Cervus elaphus -, entsteht neues Knochengewebe mit einer Wachstumsgeschwindigkeit von etwa einen Zentimeter pro Tag.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erkannten Biologen und Geweihforscher: Mit der Aufklärung der Mechanismen, die für die jährliche Geweihregeneration verantwortlich sind, kann ein wertvoller Beitrag auf dem Gebiet der Regenerationsforschung geleistet werden. Die Forschungen am regenerierenden Geweihknochen können dazu beitragen, die Frage zu beantworten: Warum ist es für Säugetiere unmöglich, verlorene Gliedmaßen zu ersetzen? Erst in jüngster Zeit wurde die Hypothese aufgestellt, dass die Geweihregeneration als so genannter stammzell-basierter Prozess anzusehen sei.
„Stammzell-Nischen“ im Rosenstock
Im Rahmen ihrer Forschungsprojekte zum Hirschgeweih hat nun das Göttinger Team um den Biologen Rolf Stammzellen beziehungsweise Vorläuferzellen im Rosenstock und im Gewebe des primären und regenerierenden Geweihknochens bei Damhirschen (Cervus dama) nachgewiesen. Damit konnten sie zum ersten Mal gesicherte Erkenntnisse präsentieren, die auf die Existenz von so genannten „Stammzell-Nischen“ im Rosenstock und im wachsenden Geweihknochen von Hirschen hindeuten.
Die Göttinger Wissenschaftler haben in ihrer Studie im Geweihknochen gezielt nach Zellen gesucht, die sich mit bekannten Oberflächen-Markern für Stammzellen/Vorläuferzellen markieren lassen. Solche Zellen wurden zunächst im Knochengewebe lokalisiert, anschließend mit modernen Methoden isoliert und dann unter verschiedenen Laborbedingungen weitergezüchtet. Die Wachstums- und Differenzierungseigenschaften dieser Zellkulturen wurden dann eingehend untersucht.
„Multipotente“ Vorläuferzellen
Eines der wichtigsten Ergebnisse der Studie ist nach Angaben der Wissenschaftler der Nachweis von STRO-1+ Zellen in unterschiedlichen Bereichen des Knochengewebes im Rosenstock, primären und regenerierenden Geweih von Damhirschen. Zellen, die sich mit dem Oberflächenmarker STRO-1 markieren lassen, werden nach aktuellem Wissensstand als so genannte „multipotente“ Vorläuferzellen angesehen, aus denen verschiedenste Zelltypen entstehen können.
Die von Rolf und seinen Kollegen beschriebenen Experimente untermauern die Hypothese, dass es sich bei der jährlichen Geweihregeneration insgesamt um einen stammzell-basierten Regenerationsprozess handeln muss. Allem Anschein nach liegt die Ursache für die besonderen Fähigkeiten des Geweihknochengewebes im höchst komplizierten Zusammenwirken verschiedener Zelltypen. Dabei sind offensichtlich Stammzellen/Vorläuferzellen erheblich an der Geweihregeneration beteiligt.
Stammzellenvermehrung als Startsignal
Zudem bestätigen die vorgelegten Ergebnisse die Vermutung, dass die jährliche Regeneration des Geweihknochens mit einer Vermehrung von Stammzellen/Vorläuferzellen beginnt und diese an der Geweihbasis in der Knochenhaut des Rosenstocks angesiedelt sind. In neueren wissenschaftlichen Untersuchungen konnte gezeigt werden, dass Stammzell-Populationen im Körper in so genannten „Nischen“ existieren, das sind spezielle Bereiche in den Körpergeweben, die bei Bedarf für notwendige Geweberegenerationen aktiviert werden können.
Die Göttinger Wissenschaftler nehmen deshalb an, dass auch bei Hirschen so eine „Stammzell-Nische“ in der Knochenhaut des Stirnzapfens vorhanden ist und dass die jährliche Regeneration des Geweihs von einer periodischen Aktivierung dieser Stammzellen/Vorläuferzellen abhängt.
(idw – Universitätsmedizin Göttingen, 02.05.2008 – DLO)