Klar scheint: Der Mechanismus von Antikythera konnte Informationen anzeigen, die für die antiken Nutzer gleich in mehrfacher Hinsicht nützlich waren. Doch im Gegensatz zu spezialisierteren Werkzeugen wie Astrolabien, Kalenderanzeigern oder Finsterniskarten glich dieses Gerät eher einer eierlegenden Wollmilchsau: Es konnte alles auf einmal und war daher entsprechend hochkomplex und aufwendig konstruiert. Aber warum?
Teil einer Skala und Beschriftungen auf einem der Fragmente des Antikythera-Mechanismus. © bearbeitet nach Junaxi/CC-by-sa 3.0
Nützlich nur in Teilen
Für die Menschen der griechisch-römischen Welt war beispielsweise der lunisolare Kalender von enormer Bedeutung: An ihm orientierten Bauern ihre Aussaat und Ernte, er gab die Feiertage vor und den Takt des gemeinschaftlichen Lebens. Ein Gerät, das diesen Kalender koordinierte und anzeigte, war daher durchaus nützlich. Auch die Mondphasen galten damals als ein wichtiger Einfluss auf Wohlergehen und Wachstum von Menschen, Tieren und der Pflanzenwelt. Dass der Mechanismus von Antikythera auch sie anzeigte, ist daher nicht überraschend.
Deutlich merkwürdiger ist jedoch, dass der „Himmelscomputer“ zusätzlich die Planetenpositionen sowie die babylonischen und ägyptischen Tierkreiskalender nachbildete – Angaben, die eher für die Astrologie relevant waren. Für diese Zwecke jedoch wäre die Anzeige der Olympiaden oder der Finsternisse deutlich weniger interessant gewesen.
Für die Navigation auf See wiederum wären zwar die Sternenpositionen hilfreich, nicht aber der Finsterniszyklen-Rechner auf der Rückseite des Mechanismus. Zudem hielt schon Albert Rehm im Jahr 1905 den Antikythera-Mechanismus für viel zu fragil, um auf See eingesetzt zu werden: „Dieses zarte und komplizierte mechanische Kunstwerk war nicht dafür gedacht, von Seeleuten genutzt zu werden“, schrieb er damals.
Grundlage der griechischen und römischen Astronomie war das geozentrische Weltbild, hier in einer Darstellung aus dem 17. Jh. © historisch
Für vieles zu kompliziert und fragil
„Es scheint demnach kein spezifisches Feld praktischer Anwendungen zu geben, das alle Funktionen des Antikythera-Mechanismus erklärt“, konstatiert der US-Archäologe Alexander Jones. Das Gerät zeigte für die meisten Einsatzgebiete schlicht zu viel unnötige Information an oder war zu empfindlich.
„Es ist schwer vorstellbar, dass ein Bauer diese Technologie nutzte, um den Zeitpunkt für das Beschneiden seiner Bohnen zu ermitteln“, sagt Jones. „Ebenso unwahrscheinlich ist es, dass ein Athlet damit nachschaute, wann die nächsten Wettkämpfe anstanden.“ Für solche einfacheren Auskünfte gab es damals längst weniger teurere und robustere Alternativen. Und für einige Zwecke war der Mechanismus wiederum nicht präzise genug – dafür existierten bessere Werkzeuge, wie der Forscher erklärt.
Laien als Zielgruppe
Doch wozu diente der Mechanismus von Antikythera dann? Einen Hinweis darauf liefern erst vor einigen Jahren entzifferte Inschriften auf der Innenseite des Geräts. Sie beschreiben ausführlich, wie der Mechanismus funktioniert und was die verschiedenen Anzeigen darstellen – ein wenig wie in einer Gebrauchsanleitung. Das könnte darauf hindeuten, dass die Nutzer des Mechanismus keine erfahrenen Astronomen oder Wissenschaftler waren, sondern eher interessierte Laien oder vielleicht Studenten.
Ein weiterer Hinweis stammt aus den Schriften des berühmten römischen Philosophen und Schriftstellers Cicero. In zwei seiner Schriften beschreibt er ein Gerät, das er „Sphaera“ nennt und das die korrekten Konfigurationen von Sonne, Mond und Erde anzeigen kann. Cicero lässt seinen Protagonisten diese Sphäre im Haus eines reichen Römers bestaunen – auch das deutet auf eine Nutzung durch Laien hin.
War der Antikythera-Mechanismus ein astronomischer Apparat für den Unterricht? © Marsyas /CC-by-sa 3.0
Eine „Astro-App“ der Antike?
Aus all dem schließen Jones und seine Kollegen vom Antikythera-Projekt, dass die „Himmelsmaschine“ wahrscheinlich als Schaustück oder vielleicht Lehrmittel diente. „Es ist wie eine Art Lehrbuch der Astronomie, wie man sie damals kannte“, erklärt Jones. „Der Mechanismus von Antikythera verknüpfte die Bewegungen am Himmel und die Planeten mit dem Leben der alten Griechen und ihrer Umwelt.“
Tatsächlich hat die Weitergabe von Wissen an eine breitere Öffentlichkeit Tradition in der griechisch-römischen Astronomie, wie Jones erklärt. „Es gab keine klare Trennung zwischen einem astronomischen Text, der für Kollegen geschrieben wurde und einem, der einer breiteren Leserschaft zugedacht war“, so der Forscher. Auch die Lehre war wenig formell und fand meist in offenen Zirkeln statt. Das legt nahe, dass der Antikythera-Mechanismus möglicherweise für solche Lehrzwecke eingesetzt worden ist – als antike Entsprechung einer „Astro-App“ oder eines Lehrfilms.
Oder doch ein Schaustück?
Möglich wäre aber auch, dass die schiere Kunstfertigkeit und Komplexität des Mechanismus einfach nur Eindruck schinden sollte – beispielsweise bei reichen Gönnern der Gelehrten. Die „Himmelsmaschine“ hätte dann dazu gedient, sowohl das reiche Wissen der griechischen Astronomie zu demonstrieren als auch die Kunstfertigkeit der Handwerker.
Diese These vertrat schon 1905 auch der Altphilologe Albert Rehm. Er schrieb: „Es ist eine dieser Handelswaren, mit denen die kulturell überlegenen Griechen ihre römischen Herrscher beeindrucken wollten.“ Doch ob er damit Recht hatte oder ob der Mechanismus von Antikythera vielleicht doch ein didaktisches Lehrmittel war, bleibt offen. „Selbst ein vollständiger und perfekt erhaltener Antikythera-Mechanismus würde uns vermutlich nicht eindeutig verraten, wer ein solches Gerät nutzte und wofür“, sagt Jones.