Was ist das Geheimnis von Coronaviren, Influenza und Co?
Viren – Erfolgsmodell der Evolution
Sie sind zahlreicher als alle lebenden Zellen, kommen überall und in allen Organismen vor und existieren schon seit Anbeginn des Lebens: Viren sind ein echtes Erfolgsmodell der Evolution. Doch was macht diese Zellparasiten so erfolgreich? Und warum lösen gerade behüllte RNA-Viren wie das Coronavirus, Ebola oder Influenza immer wieder Epidemien aus?
Klar ist: Viren sind überaus effiziente Zellpiraten. Ihr Aufbau und ihr Lebenszyklus sind perfekt daran angepasst, Zellen zu entern, sie zu übernehmen und in Virenfabriken umzuwandeln. Je nach Wirtstyp haben die Viren dabei eine erstaunliche Vielfalt an Strategien entwickelt. Gleichzeitig aber könnte gerade dieser Zellparasitismus der Viren dazu beigetragen haben, die Evolution entscheidend voranzubringen – möglicherweise stand sogar eine virenähnliche Struktur am Anfang allen Lebens.
Viren in jeden Lebensraum und Organismus
Sie sind überall
Viren sind die häufigste biologische Einheit unseres Planeten – und sie kommen in nahezu allen Lebensräumen unseres Planeten vor. Schätzungen zufolge könnte die Zahl der Viren die aller lebenden Zellen um das Zehn- bis Hundertfache übertreffen. Doch bisher ist nur ein verschwindend geringer Bruchteil der viralen Vielfalt überhaupt bekannt.
Virale Mitbewohner
Das gilt auch für uns buchstäblich so nahe Lebensräume wie unsere eigene Haut. Dort stießen Forscher bei einer „Rasterfahndung“ nach Virengenen auf mehrere hundert Millionen virale Gensequenzen. 90 Prozent davon sind der Wissenschaft bisher völlig unbekannt. Die Daten zeigten aber, dass jeder Körperteil seine eigene Population von Viren beherbergt, ähnlich wie auch beim bakteriellen Mikrobiom. Und selbst in unserem Darm tummeln sich noch unerkannte Viren. Eines von ihnen, das den Darmkeim Escherichia coli befällt, haben Forscher erst kürzlich aufgespürt.
Doch die allermeisten dieser viralen Mitbewohner auf und in unserm Körper sind keineswegs Krankheitserreger – wir sind nicht einmal ihr Wirt. Stattdessen befallen diese Viren vor allem Bakterien und nutzen deren Zellen als Vermehrungsfabriken. Von solchen Bakteriophagen könnte es ersten Erkenntnissen nach noch Millionen weitere in uns geben. Gegenüber dieser enormen Menge sind die Viren, die uns potenziell krank machen können, deutlich in der Unterzahl. Dafür sind ihre Auswirkungen auf unsere Gesundheit umso gravierender, wie die Corona-Pandemie gerade demonstriert.
Wirte im gesamten Stammbaum des Lebens
Doch Viren gibt es nicht nur in uns Menschen – das Wirtspektrum der Viren erstreckt über den gesamten Stammbaum des Lebens. Es gibt kaum einen Organismus, der nicht von Viren befallen wird. Die Spanne reicht von zellkernlosen Archaeen und Bakterien über eukaryotische Einzeller, Insekten und andere Wirbellose bis hin zu den Wirbeltieren und dem Menschen. Auch Algen und nahezu alle höheren Pflanzen haben spezifische Viren. Das erste Virus, dessen Zusammensetzung Wissenschaftler zumindest in Teilen entschlüsseln konnten, war im Jahr 1935 das Tabakmosaikvirus – ein Virus, das Tabakpflanzen krank macht.
Jede einzelne Virenart ist jedoch meist auf nur einen Wirt oder eine eng verwandte Organismengruppe spezialisiert. Deshalb sind die Millionen Bakteriophagen in unserem Körper für uns harmlos – sie haben es nur auf unser bakteriellen Mitbewohner abgesehen. Und auch Viren, die wirbellose Organismen oder Pflanzen krankmachen, können uns nicht befallen. „Solche Barrieren erscheinen plausibel, denn Organismen, die evolutionär weit auseinanderliegen, unterscheiden sich auch in stark in ihrer Zellbiologie“, erklärt Arshan Nasir von der University of Illinois. „Das macht es für ein Virus schwer, sich in diesen so andersartigen Umgebungen zu vermehren.“
Vom Tiefengestein bis in die Atmosphäre
Die Vielfalt ihrer Wirte hat es den Viren ermöglicht, sich in nahezu alle Lebensräume der Erde auszubreiten. Man findet sie in fast allen Böden und terrestrischen Ökosystemen, aber auch in Gewässern von der kleinsten Pfütze über unser Abwasser bis in die Weiten der Ozeane. Allein jeder Tropfen Meerwasser enthält schon mehr als zehn Millionen Viren. Mit der Meeresgischt, aber auch dem Wüstenstaub werden Viren sogar bis hoch in die Atmosphäre geschleudert.
„Jeden Tag schweben dadurch mehr als 800 Millionen Viren pro Quadratmeter in der atmosphärischen Grenzschicht“, erklärt Curtis Suttle von der University of British Columbia. Dort, in 2,5 bis drei Kilometer Höhe, werden diese schwebenden Viren mit den Luftströmungen rund um den Globus verteilt. „Es ist durchaus wahrscheinlich, dass ein Virus auf einem Kontinent in die Luft gerissen wird und dann auf einem anderen wieder landet“, so der Forscher. Das erklärt auch, warum viele Viren sich selbst dann genetisch gleichen, wenn sie tausende von Kilometern weit voneinander entfernt gefunden wurden.
Und selbst in den lebensfeindlichsten Umgebungen unseres Planeten finden sich Viren. So kommen sie in den subglazialen Seen der Antarktis, in heißen Quellen, hydrothermalen Schloten der Tiefsee oder den Gesteinsschichten mehr als einen Kilometer unter dem Meeresgrund vor. Dort, in der tiefen Biosphäre, könnten sie sogar den Hauptanteil der Biomasse ausmachen, wie Forscher aufgrund von Stichproben vermuten.
„Viren sind überall“, sagt Eddie Holmes von der University of Sydney. „Das zeigt, wie gewaltig die Virosphäre – das Universum der Viren – tatsächlich ist.“
Was aber ist ihr Erfolgsgeheimnis?
Simpler Aufbau mit maximaler Effizienz
Was sind Viren?
Im Prinzip sind Viren kaum mehr als eine Ladung Erbgut, umgeben von einer schützenden Proteinhülle. Sie sind die Minimalisten im Reich der Natur. Im Vergleich zur Komplexität einer lebenden Zelle ist ihr simpler Aufbau wie eine Hundehütte verglichen mit der Sixtinischen Kapelle. Doch das macht Viren nicht weniger effizient und erfolgreich – im Gegenteil.
Variantenreiches Erbgut
Viren sind perfekt an ihren Daseinszweck angepasst – sie bringen genau die Ausrüstung mit, die sie für ihre Vermehrung und damit für das Weiterbestehen ihrer Art benötigen. Allen Viren gemeinsam ein Erbgut, das die Bauanleitung für die aus Proteinen bestehende Virenhülle sowie für wichtige Enzyme des Virus birgt. Die Größe des Genoms ist dabei je nach Virenart extrem verschieden – die Spanne reicht von Bakteriophagen mit nur rund 3.500 Basen oder Polioviren mit 7.500 Basen bis zu Riesenviren mit 1,2 Millionen Basen.
Im Gegensatz zu allen echten Organismen, deren genetischer Code über das Erbmolekül DNA weitergegeben wird, ist das Erbgut von Viren extrem variabel: Je nach Virentyp kann es aus DNA oder RNA bestehen und auch Einzelstränge oder aber Doppelsträngen aufgebaut sein. Zu den DNA-Viren gehören unter anderem Herpesviren, Papillomaviren und auch das Pockenvirus.
Unter den RNA-Viren sind besonders viele Erreger gefährlicher und weit verbreiteter Infektionskrankheiten – auch das neue Coronavirus SARS-CoV-2, sowie Ebola, Masern und Influenza gehören in diese Gruppe. Außerdem sind viele von Mücken oder Zecken übertragene Krankheiten von RNA-Viren verursacht, darunter Dengue, Zika, West-Nil-Fieber oder Gelbfieber. Auch der Erreger von Aids, das HI-Virus, besitzt als Erbgut RNA.
Effizient konstruierte Schutzkapsel
Die zweite bei allen Viren vorhandene Komponente ist die Virenkapsel, das Kapsid. Sie umhüllt das Virenerbgut und besteht aus mehrfachen Kopien eines oder weniger Proteine. Dadurch ist die komplette Kapsid-Bauanleitung kurz und lässt sich platzsparend im Genom der Viren unterbringen. Ein Nachteil dieser effizienten Konstruktion ist es allerdings, dass sich die Proteinzusammensetzung des Kapsids nicht so leicht ändert – Viren mit nur ihrem Kapsid als Außenhülle können sich daher weniger gut an neue Wirte anpassen.
Auch die Anordnung der Proteine im Kapsid ist ein Beispiel für die Effizienz der Natur: In der Regel bilden die Proteine ein Muster sich wiederholender identischer Grundeinheiten, aus denen sich dann die symmetrische Virenkapsel ergibt. In der einfachsten Form bilden die Proteine scheibenartige Einheiten, die sich zu einer Helix zusammenlagern und das Virenerbgut in ihrem Innern einschließen. Zu den Viren mit einem solche helikalen Kapsid gehören das Tabakmosaikvirus, aber auch Influenzaviren, Masernviren oder das Tollwutvirus.
Die zweite, sehr häufige Kapsidform ist ein Ikosaeder – eine 20-flächiges Gebilde, das aus dreieckigen Grundeinheiten aus jeweils drei gleichen Proteinen aufgebaut ist. Je nach Virentyp setzt sich das Ikosaeder aus 20 solcher Dreiereinheiten oder deren Vielfachen zusammen. Zu den einfachsten und kleinsten Viren mit diesem Kapsid gehören das Poliovirus und die Rhinoviren – die Erreger, die bei uns am häufigsten den klassischen Schnupfen auslösen. Ihr Kapsid besteht aus vier verschiedenen Proteinen, die jeweils 20 dieser Dreier-Grundeinheiten bilden.
Geklaute Hülle
Doch das ist noch nicht alles: Viele als Epidemie-Auslöser gefürchtete Viren – darunter auch das Coronavirus SARS-CoV-2 – besitzen neben Erbgut und Kapsid noch eine dritte Komponente – die Virenhülle. Sie besteht wie die Membran unserer Zellen aus einer Doppellipidmembran, in die Proteine eingelagert sind. Diese Hülle umgibt das Nukleokapsid und schirmt so das Innenleben des Virus vor der Außenwelt ab.
Der Clou dabei: Die meisten behüllten Viren besorgen sich ihre Virenhülle, indem sie einfach durch die Zellmembran hindurchknospen und dabei ein Stück davon um sich wickeln – ergänzt durch zuvor von der Wirtszelle hergestellten viralen Proteinen. Das bedeutet, dass die Viren sich eine eigene Bauanleitung für die Doppellipidmembran sparen können – sie klauen sich die Hülle einfach. Umgekehrt erleichtert die Membranhülle es diesen Viren, in die Zelle einzutreten, denn ihre Hülle kann einfach wieder mit der Zellmembran verschmelzen und so das erbgutgefüllte Kapsid in den Innenraum freisetzen.
Warum sind gerade behüllte Viren so epidemieträchtig?
Schlüssel zur Anpassung
Ob das neue Coronavirus SARS-CoV-2, Influenza, die Pocken oder Ebola: Es ist kein Zufall, dass viele Epidemien von behüllten Viren ausgelöst werden. Denn die Virenhülle erleichtert es diesen Erregern auch gleich mehrfache Weise, sich an neue Bedingungen anzupassen und so auch erfolgreich den Menschen zu befallen.
Raffinierte Tarnung
Ein Faktor ist ihr „Tarnmantel“: Die Membran der Virenhülle und einige in ihr sitzende Hüllproteine sind bei vielen Viren denen von typischen Wirtsmolekülen und Zellkomponenten sehr ähnlich. Dies hilft dem Erreger, sich gegenüber der Immunabwehr zu tarnen – er wird im Idealfall zunächst nicht als fremd erkannt. So besitzen beispielsweise einige Coronaviren Hüllproteine, die einem Teil der menschlichen Immunglobulin-G-Antikörper ähneln.
Viele andere Viren nutzen zudem körpereigene Zuckermoleküle als Tarnüberzug. Diese Zucker, sogenannte Glykane, lagern sich an die Hüllproteine an und maskieren so deren charakteristische Enden. Gleichzeitig ähneln diese Zuckerüberzüge denen von körpereignen Proteinen, was die Erkennung des Virus als fremd zusätzlich erschwert. Beim HI-Virus machen diese Glykane fast 50 Prozent der Gesamtmasse seines Hüllproteins aus – sie bilden einen fast flächendeckenden Tarnmantel.
Täuschmanöver
Hinzu kommt: Die äußeren Enden der viralen Hüllproteine haben oft Vorsprünge oder schleifenförmige Seitenketten, die besonders variabel sind. Sie verändern sich schon durch kleine Mutationen im Erbgut des Virus, sind aber für die Funktion des Erregers nicht entscheidend. Das macht es ihm leicht, seine äußere Struktur schnell und oft zu variieren. Als Folge verlieren die Antikörper der Immunabwehr ihre Erkennungsmarker und Andockstellen – und das Virus bleibt ungeschoren.
Noch raffinierter ist die Strategie des Ebolavirus: Es produziert vor seinem Austreten aus der Wirtszelle „Täuschkörper“ – kleine Membranstücke mit aufsitzenden Proteinteilen, die die Antikörper des Wirts an sich locken und von den echten Viren ablenken.
Zielgenaues Andocken
Doch es gibt noch einen Faktor, weswegen gerade behüllte Viren so oft neue Epidemien auslösen: Sie können sich relativ leicht an neue Wirte anpassen und so auch die Artbarriere vom Tier zum Menschen überspringen. Denn im Gegensatz zu unbehüllten Viren, die ihr Kapsid nur schwer verändern können, nutzen Influenza, Coronaviren und Co Teile eines Hüllproteins, um an bestimmte Rezeptoren auf ihren Wirtszellen anzudocken.
Nur wenn die Konfiguration dieser Bindungsstelle genau passt, kann das Virus die Zellen befallen. Weil nicht alle Körperzellen die gleichen Rezeptoren tragen, beeinflusst dies auch, welche Organe oder Gewebe ein Virus befällt. Beim Coronavirus SARS-CoV-2 beispielsweise ist das Spike-Protein so konfiguriert, dass es an den ACE2-Rezeptor auf menschlichen Atemwegs- und Lungenzellen andocken kann. Die Bindungsstelle des FSME-Virus, das die von Zecken übertragene Hirnhautentzündung hervorruft, ist dagegen an Rezeptoren auf Zellen des Nervensystems angepasst.
Prädestiniert für den Artsprung
Das Entscheidende jedoch: Die Bindungsstelle der behüllten Viren ist variabel und kann durch Mutationen ihre Konfiguration leicht ändern. Das ermöglicht es diesen Erregern, sich an die Zellrezeptoren neuer Wirte anpassen. Auch die Artbarriere zwischen verschiedenen Tierarten oder zum Menschen können sie so überwinden. Es ist daher kein Zufall, dass die meisten Zoonosen – neu von Tieren auf den Menschen überspringende Infektionskrankheiten – von behüllten Viren ausgelöst werden.
Das aktuellste Beispiel ist SARS-CoV-2: Ursprünglich hat sich dieses Coronavirus in Fledermäusen entwickelt, bevor es dann durch Mutationen die Fähigkeit erlangte, auch Menschen zu befallen. Über ein weiteres Tier – möglicherweise Pangoline – als Zwischenwirt ist es dann Ende 2019 in China auf den Menschen übergesprungen. Ob das Coronavirus alle dafür nötigen Anpassungen schon im Tier oder erst in den ersten menschlichen Wirten erworben hat, ist allerdings noch unklar.
Ebenfalls besonders gute „Artbarrieren-Springer“ sind die Influenzaviren. Viele der heute zirkulierenden Grippeviren stammen ursprünglich aus Vögeln, gleichzeitig entwickeln sich immer wieder neue Vogelgrippe-Varianten, die erste Anzeichen für eine Anpassung an den Menschen zeigen. Auch das Virus, das 1918 die verheerende Influenza-Pandemie verursachte, ist von einem Vogel auf den Menschen übergesprungen. Seine Nachfahren schafften es 2009, über den Umweg des Schweins erneut eine Pandemie auszulösen – die „Schweinegrippe“.
Wie sich Viren in unseren Zellen vermehren
Zellpiraten in Aktion
Viren sind obligatorische Zellparasiten. Um sich zu vermehren, müssen sie die Zelle eines Organismus entern und für ihre Zwecke umfunktionieren. Sie besitzen keinen eigenen Stoffwechsel, erzeugen keine energiereichen Moleküle wie ATP und können weder ihr Genom noch ihre Hülle selbst herstellen. Sie sind obligatorische Zellparasiten.
DNA-Viren: Übernahme der Zellmaschinerie
Nachdem ein Virus in die Zelle eingedrungen ist, beginnt die feindliche Übernahme. Das Herpesvirus, Papillomaviren und einige andere doppelsträngige DNA-Viren schleusen dafür ihr Erbgut in den Zellkern ein. Dort bringen sie die zelleigenen Enzyme dazu, Teile der Viren-DNA abzulesen und daraus Messenger-RNAs zu erzeugen. Diese werden aus dem Zellkern zu den Ribosomen gebracht, die daraus virale Enzyme produzieren.
Nun folgt der zweite Schritt: Mithilfe dieser Enzyme übernimmt das Virus nun die Zelle komplett und wandelt sie in eine Virenfabrik um. Im Zellkern werden nun in schneller Folge immer neue Kopien des Virenerbguts synthetisiert, gleichzeitig entstehen an den Ribosomen die Proteine für das Kapsid und die Virenhülle. Im letzten Schritt werden Erbgut und Kapside der neuen Viren miteinander verbunden und beim Knospen durch die Zellmembran mit der Virenhülle umgeben. Das Resultat sind Unmengen neuer Viren und eine zerstörte, tote Zelle.
Coronaviren: Vermehrung mit eigener RNA-Fabrik
Etwas anders läuft die Vermehrung beim Coronavirus ab. Denn sein Erbgut besteht nicht aus DNA, sondern aus einem einzelnen positiven RNA-Strang – was für die Übernahme der Zellmaschinerie Vor- und Nachteile hat. Der Nachteil: Unsere Zellmaschinerie ist nicht darauf ausgelegt, RNA zu vervielfältigen, weil unser Genom als DNA vorliegt. Die RNA dient nur dazu, den genetischen Code aus dem Zellkern zu den Ribosomen zu bringen. Ein Kopieren von RNA in RNA ist dabei nicht vorgesehen. Das Coronavirus muss daher erst einmal seine eigene Vervielfältigungs-Einheit in der Zelle installieren.
Der Vorteil jedoch: Wenn das Virus in die Zelle eingedrungen ist, kann ein Teil seines RNA-Strangs direkt zu den Ribosomen wandern und dort ohne weitere Änderungen abgelesen werden. Die Ribosomen produzieren daraus zunächst einen langen Proteinstrang, der dann durch die ebenfalls hergestellte Hauptprotease in seine funktionalen Einheiten zerteilt wird.
Daraus entsteht die Replikationsmaschinerie – die Zelle wird nun zu einer Fabrik für neue Coronaviren. Dabei transkribiert ein virales Enzym, eine Polymerase, zunächst den ursprünglichen RNA-Strang des Virus und erzeugt sein komplementäres Gegenstück. Dieser negative RNA-Strang dient nun als Transkriptions-Schablone für die Produktion großer Mengen neuer positiver RNA-Stränge – dem Erbgut der neu entstehenden Viren. Parallel dazu wird ein kleiner Abschnitt des negativen RNA-Strangs von den Ribosomen abgelesen und die Proteine des Kapsids und der neuen Virenhülle entstehen.
Kopierfehler machen RNA-Viren anpassungsfähiger
Nach diesem Muster vermehren sich nicht nur die Coronaviren, sondern auch alle anderen positiven Einzelstrang-RNA-Viren. Unter ihnen sind besonders viele Verursacher sich schnell verbreitender Infektionskrankheiten, darunter Dengue, Gelbfieber, Chikungunya, Zika und West-Nil-Virus, aber auch Rhinoviren, Röteln, das Poliovirus oder der Erreger der Maul-und-Klauen-Seuche bei Tieren. Generell gelten RNA-Viren als die wahrscheinlichsten Kandidaten für neu auftretende Zoonosen und Pandemien.
Das ist kein Zufall: Weil die RNA-Viren nicht die normale Replikationsmaschinerie der Zelle nutzen können, fehlen ihnen die Kontroll- und Korrekturmechanismen, die Kopierfehler verhindern. Als Folge schleichen sich bei der Produktion neuer Viren-RNA weit mehr Fehler ein als bei der Zellteilung oder bei DNA-Viren.
Das aber bedeutet: RNA-Viren mutieren weitaus schneller als andere Erreger – und können dadurch auch schneller weiterentwickeln. „Das ist ein wichtiger Faktor, der Viren dabei hilft, sich an schwierige Bedingungen anzupassen, darunter auch an die körpereigene Immunabwehr oder antivirale Medikamente“, erklärt Vadum Agol vom Belozersky Forschungsinstitut in Russland. Auch an neue Wirte und deren zelluläre Andockstellen können sich RNA-Viren so schnell anpassen. Beim Coronavirus beispielsweise betreffen die Mutationen besonders oft das Spike-Protein und damit die Bindungsstelle an die Wirtszellen. „Deshalb sind Coronaviren so gut darin, von einer Art zur anderen überzuspringen“, erklärt die Virologin Christine Tait-Burkard von der University of Edinburgh.
Wie Viren das Leben vorangebracht haben könnten
Viren als Evolutionshelfer?
Viren haben keinen guten Ruf – schon gar nicht in Zeiten einer Pandemie. Wir neigen dazu sie primär als unsichtbare Feinde, als Krankheitserreger und Seuchenbringer zu sehen. Doch es gibt noch eine andere Seite unserer viralen Mitbewohner: Ihre Existenz könnte die Evolution des Lebens vorangetrieben und vielleicht sogar erst ermöglicht haben.
So groß wie ein Bakterium
Einen Hinweis darauf liefert die Entdeckung der Riesenviren – Viren, die kaum kleiner sind als manche Bakterien. Die in Amöben gefundenen Pandoraviren und Megaviren erreichen beispielsweise einen Durchmesser von rund 700 Nanometern und sind damit mehr als doppelt so groß wie Bakterien aus der Gruppe der Chlamydien. Und nicht nur das: Sowohl sie als auch das 2017 in einem österreichischen Klärwerk entdeckte Klosneuvirus besitzen ein riesiges Genom. Beim Klosneuvirus ist es 1,54 Millionen Basen lang – das ist fast dreimal so lang wie das des bakteriellen Erregers Mycoplasma genitalium.
Noch ungewöhnlicher aber ist das, was im Erbgut dieser Riesenviren kodiert ist. Denn ihre DNA enthält nicht nur die Bauanleitung für neue Viren, sondern auch Gene für die Proteinbiosynthese – den Prozess, durch den Zellen die Moleküle für ihren Stoffwechsel und ihre Vermehrung herstellen. Diese Viren besitzen damit zumindest den Gencode für einen Großteil dieser Zellmaschinerie.
Viren in der Ursuppe?
Doch woher kommen diese Gene? Theoretisch gibt es dafür zwei Möglichkeiten: Zum einen könnten diese und andere Viren aus frühen Einzellern hervorgegangen sein, die sich zurückentwickelten. Dass würde bedeuten, dass Viren und alle zelltragenden Lebewesen einen gemeinsamen Ursprung haben. Weil dann die Virenvorläufer zu obligatorischen Zellparasiten wurden, bildeten sie alle Komponenten zurück, die sie nicht mehr benötigten – darunter auch die Zellmaschinerie.
Eine andere Möglichkeit wäre, dass die simple Konstruktion der Viren am Anfang allen Lebens stand. Schon länger vermuten viele Forscher, dass die ersten zellähnlichen Strukturen in der „Ursuppe“ RNA statt DNA als Erbgutmolekül nutzten. Das könnte bedeuten, dass sich die ersten Organismen vielleicht aus Vorfahren der heutigen RNA-Viren entwickelt haben.
Lieferanten neuer Gene
Doch auch im späteren Verlauf der Evolution könnten Viren eine wichtige Rolle gespielt haben. Denn viele von ihnen besitzen die Fähigkeit, ihr Erbgut in das ihrer Wirtszellen einzuschleusen. Manchmal bleiben Teile dieser viralen Gene erhalten und vererben sich sogar an die Nachkommen weiter – vor allem, wenn sich diese Sequenzen als nützlich erweisen. Erst kürzlich entdeckten Forscher um Arshan Nasir von der University of Illinois, dass sich Proteinstrukturen viralen Ursprungs in nahezu allen Domänen des Lebens finden – von Bakterien bis zu eukaryotischen Pflanzen und Tieren.
Auch in unserem Erbgut finden sich virale Gensequenzen: Als Wissenschaftler im Jahr 2001 die erste Entschlüsselung des menschlichen Genoms vollendeten, fanden sie zu ihrem großen Erstaunen 600.000 Basenabfolgen im menschlichen Erbgut, die eindeutig viralen Ursprungs waren. Inzwischen ist klar, dass solche viralen DNA-Sequenzen rund 43 Prozent unseres gesamten Erbguts ausmachen – und teilweise lebenswichtige Funktionen übernehmen. So sind die viralen Gene unter anderem für die Entwicklung der Plazenta entscheidend, aber auch für die Hormonproduktion in den Nebennieren und Eierstöcken, den Schutz vor Krebs und für die Funktion von Muskeln und Gehirn.
„Wir sollten Viren daher als Quelle neuer Gene für zelluläre Organismen ansehen – und nicht bloß als Krankheitserreger“, so Nasir. Er und andere Wissenschaftler gehen davon aus, dass Viren im Verlauf der gesamten Evolution Gene auf zelluläre Organismen übertragen haben – und dass ihnen dies zu neuen Fähigkeiten und Merkmalen verhalf. Gleichzeitig könnten Teile dieser viralen Sequenzen sogar auf den letzten gemeinsamen Vorfahren von Viren und Zellen zurückgehen.
Motor der Anpassung
Doch Viren haben auch indirekt die Entwicklung neuer Merkmale angeschoben, wie David Enard von der Stanford University im Jahr 2016 herausfanden. Sie hatten verglichen, wie schnell sich 10.000 evolutionär sehr alte Säugetier-Proteine im Laufe der Evolution verändert haben. Dabei zeigte sich:
Die Proteine, die mit der Virenabwehr oder anderen Formen der Vireninteraktion verknüpft sind, haben sich dreimal schneller und stärker verändert als die meisten anderen Proteine.
Aber nicht nur sie: „Viren scheinen für rund 30 Prozent aller Aminosäure-Veränderungen im urzeitlichen Anteil des menschlichen Proteoms verantwortlich zu sein“, berichtet Enard. „Das ist der erste Beleg für einen so starken Einfluss der Viren auf die Anpassung.“ Dabei prägt die Konfrontation mit viralen Erregern offenbar nicht nur unsere Immunabwehr, sondern auch tausende weitere Proteine, die auf den ersten Blick keinerlei Bezug zu Viren oder dem Immunsystem haben, wie die Forscher berichten.
Auch wenn Viren eine tödliche Gefahr für unsere Gesundheit sein können – ohne sie wäre das Leben auf unserem Planeten vermutlich um einiges ärmer.