Ob Insekt, Blume oder Säugetier – fast alle mehrzelligen Organismen pflanzen sich durch Sex fort. Nur eine Handvoll von ihnen ist dauerhaft asexuell. Was auf den ersten Blick normal scheint, ist für Biologen seit Darwins Zeiten ein Rätsel. Denn evolutionär gesehen hat die sexuelle Vermehrung große Nachteile. Warum aber wurde sie dennoch so dominant?
Auch wenn Sex ein machtvoller Trieb ist und der Akt Lust bereitet: Aus biologischer Sicht ist die sexuelle Fortpflanzung alles andere als optimal, denn asexuelle Organismen vermehren sich weit schneller und effizienter. Warum aber ist die geschlechtliche Vermehrung in der Natur dann trotzdem so überwältigend dominant? Hypothesen dazu gibt es schon seit mehr als hundert Jahren, doch welche stimmen und wo die Haken liegen, zeigt sich erst in jüngster Zeit.
Der Siegeszug der geschlechtlichen Vermehrung
Die Erfindung des Sex
Am Anfang gab es noch keinen Sex: Die allerersten Zellen vermehrten sich durch einfache Zellteilung. Aus einer Ausgangszelle entstehen dabei zwei genetisch weitgehend identische Tochterzellen – Klone ihrer Mutterzelle. Den Erfolg dieser asexuellen Fortpflanzung beweisen nicht zuletzt die Bakterien – der mit Abstand artenreichste Ast im Stammbaum des Lebens.
Sexuelle Fortpflanzung ist dominant
Trotzdem scheint die Natur diese so erfolgreiche Strategie der Fortpflanzung nach der Erfindung der zellkerntragenden Organismen fast völlig aufgegeben zu haben. Denn bei fast allen eukaryotischen Lebewesen ist inzwischen sexuelle Fortpflanzung die Norm. Im Pflanzenreich gilt dies für 99,9 Prozent aller Spezies, bei den Tieren liegt der Anteil sogar noch höher: Nicht einmal ein Promille aller Tierarten verzichtet auf Sex und pflanzt sich ausschließlich asexuell fort.
Zu diesen Exoten gehört unter anderem der Amazonenkärpfling (Poecilia formosa). Von diesem Süßwasserfisch aus dem Grenzgebiet zwischen Texas und Mexiko sind ausschließlich Weibchen bekannt. Sie pflanzen sich fort, indem sie genetische Klone ihrer selbst produzieren und diese lebendgebären. Allerdings hat dieser Fisch seine asexuelle Reproduktion erst vor verhältnismäßig kurzer Zeit eingeführt: Erst vor rund 100.000 bis 200.00 Jahren entstand die Spezies durch Kreuzung zweier eng verwandter Arten.
Asexuell nur auf Zeit
Auch andere asexuelle Spezies sind evolutionsbiologisch gesehen sehr jung – oder sie „schummeln“, indem sie in großen Abständen doch immer mal wieder eine sexuelle Fortpflanzung einschieben. Dies gilt unter anderem für einige Schimmelpilzarten, aber auch für die in Süd- und Mittelamerika vorkommende Ameisenart Mycocepurus smithii. Diese pilzzüchtende Spezies galt lange als komplett asexuell, weil im Freiland nie Männchen gefunden wurden. Auch bei der Zucht im Labor gelang es nicht, die Königinnen dieser Spezies zur Produktion von Männchen zu bewegen.
Erst vor einigen Jahren haben Biologen Indizien dafür entdeckt, dass sich diese Ameisenart doch ab und an sexuell fortpflanzt – sie hat demnach keineswegs dauerhaft alle Männchen abgeschafft, wie lange vermutet wurde. Eine ähnliche Strategie der „kryptischen“, nur selten und unter speziellen Umständen stattfindenden Paarungen, nutzen auch mehrere Schimmelpilzarten, darunter der Penicillin-Produzent Penicillium chrysogenum. Erst 2013 wiesen Forscher nach, dass dieser Pilz nicht rein asexuell ist, sondern sich auch geschlechtlich vermehren kann.
Sex mit Risiken, Nebenwirkungen…
Damit scheint klar: Die sexuelle Vermehrung durch Kombination elterlichen Erbguts ist in der Natur heute die Regel, vielleicht sogar unverzichtbar. Aber warum? Über diese Frage grübeln und debattieren Biologen schon seit der Zeit Darwins. Denn evolutionsbiologisch betrachtet scheint die geschlechtliche Fortpflanzung – abgesehen vom kurzfristigen Spaß am Akt selbst – wenig Vorteile zu haben.
Die Schwierigkeiten beginnen schon bei der Suche nach einem Paarungspartner. Tiere vollführen teils aufwändige Balz- und Paarungsrituale, um zum Zuge zu kommen. Dies kostet Energie und bringt die Partner nicht selten in Gefahr, bei der Liebeswerbung oder der Paarung von Fressfeinden überrascht und verspeist zu werden. Auch der sexuelle Akt ist nicht ungefährlich: Es droht die Übertragung von Krankheiten und Parasiten.
…und weiteren Nachteilen
In Bezug auf den Reproduktionserfolg und die Weitergabe der Gene an die nächste Generation haben sexuelle Arten ebenfalls erhebliche Nachteile: Bei ihnen kann nur die weibliche Hälfte der Population Nachkommen produzieren – Männchen liefern zwar die Spermien, bekommen aber selbst keine Kinder. Jedes Individuum gibt zudem nur die Hälfte seiner Gene an die nächste Generation weiter.
Bei der asexuellen Reproduktion produzieren dagegen alle Angehörigen der Population Nachkommen und geben dabei jeweils ihr komplettes Genom an die nächste Generation weiter. Populationen asexueller Lebensformen wachsen daher viel schneller als solche mit sexueller Fortpflanzung. „Die große Frage ist daher, warum sich die zweigeschlechtliche Fortpflanzung entwickelt hat – und warum es Männchen gibt“, sagt der Genetiker und Ökologie David Berger von der Universität Uppsala.
…oder doch nicht?
Rekombination ist Trumpf
Warum pflanzt sich die überwältigende Mehrheit der zellkerntragenden Lebensformen durch Sex fort? Wo liegen die Vorteile? Bis heute gibt es keine Einigkeit darüber, was der sexuellen Reproduktion zu ihrem enormen Erfolg verhalf. An Hypothesen herrscht jedoch kein Mangel.
Die älteste und in allen Lehrbüchern vertretene Hypothese dazu geht auf den deutschen Biologen August Weissmann zurück. Dieser postulierte Ende des 19. Jahrhunderts, dass sexuelle Fortpflanzung die Variationsbreite an Merkmalen in einer Population erhöht. Dies wiederum soll dafür sorgen, dass sich eine Spezies weiterentwickeln und besser an ihre Umwelt anpassen kann.
Meiose – die Basis der Rekombination
Grundlage für Weissmanns Hypothese ist der Mechanismus, über den das Erbgut der Elterngeneration an die Nachkommen weitergegeben wird. Während für die asexuelle Fortpflanzung eine normale Zellteilung – Mitose – ausreicht, um zwei gleiche Tochterzellen zu erzeugen oder eine Knospung hervorzubringen, erfordert die sexuelle Reproduktion eine weit komplexere Logistik auf Zellebene. Denn wenn die Nachkommen nach der Befruchtung wieder die gleiche Zahl an Chromosomen tragen sollen wie ihre Eltern, muss das Erbgut zuvor halbiert werden. Dies geschieht in der Meiose, der Reifeteilung, bei der jede Tochterzellen von jedem Chromosomenpaar nur eines der beiden Schwesterchromosomen erhält.
Der Clou dabei: Die komplexen Abläufe der Meiose sorgen auf doppelte Weise dafür, dass die Tochterzellen genetisch nicht identisch sind. Zum einen sind die Schwesterchromosomen eines Paares nicht identisch, weil eines von der Mutter und eines vom Vater stammt. Welches Exemplar in welcher Tochterzelle landet, ist oft Zufall. Zum anderen kommt es vor Auftrennung der Paare zu einem Austausch von Genomabschnitten zwischen den Einzelsträngen der Chromosomen. Dieses Crossing-Over sorgt für eine mosaikartige Durchmischung der chromosomale DNA-Stränge.
Große Fische, kleine Fische
Weissmanns Hypothese nach ist es diese Rekombination des Erbguts, die den entscheidenden Vorteil der geschlechtlichen Vermehrung ausmacht. Sie kann dafür sorgen, dass sich Merkmale neu kombinieren und so einem Organismus bei der natürlichen Selektion Vorteile bringen. Letzteres ist aber nicht immer der Fall, wie man heute weiß: „Zum einen erhöht Sex keineswegs immer die Variabilität der Nachkommen, und zum anderen ist eine höhere Variabilität nicht automatisch vorteilhaft“, erklärt Sarah Otto vom der University of British Columbia.
Ein Beispiel: Gehen wir davon aus, dass es ein Gen gibt – A – durch das große Individuen einer Fischart entstehen, ein zweites – a – bringt kleine Exemplare hervor. Würde sich diese Spezies asexuell vermehren, gäbe es nur diese beiden Körpergrößen. Durch die sexuelle Fortpflanzung entstehen jedoch auch mittelgroße Formen mit dem Gentyp Aa. Im Prinzip erhöht sich damit zunächst die Variabilität.
Wenn Variabilität zum Nachteil wird
Doch jetzt kommt die natürliche Selektion hinzu. Weil unsere Fische in einem Riff leben, können sich kleine Exemplare dort gut verstecken und entgehen so den Fressfeinden. Sehr große Exemplare wiederum sind für die Räuber zu sperrig und werden daher meist verschmäht. Im Endeffekt sind es daher die mittelgroßen Fische, die am stärksten dezimiert werden. Dies bedeutet: Die Mischvarianten, die erst durch die sexuelle Fortpflanzung entstanden sind, gehen wieder verloren und der Aufwand für sie war letztlich vergeudet. Hätten sich die großen und kleinen Exemplare asexuell reproduziert, wären die biologischen Kosten geringer gewesen.
„Dieses Beispiel illustriert einen generellen Punkt: Wenn die Elterngeneration gut an ihre Umwelt angepasst ist, führt die Mischung ihrer Gene durch Sex und genetische Rekombination meist zu Nachkommen mit geringerer Fitness“, erklärt Otto. Die Rekombination reißt bereits von der Selektion optimierte Genensembles wieder auseinander. Forscher sprechen deshalb auch von der Rekombinationslast. Unter stabilen Umweltbedingungen ist demnach eine sexuelle Fortpflanzung im Nachteil.
Vorteil nur unter wechselnden Bedingungen
Lag Weissmann demnach falsch? Nicht ganz. Der Blick in die Natur zeigt, dass die Rekombination durch sexuelle Fortpflanzung vor allem dann ihre Vorteile ausspielen kann, wenn sich die Umweltbedingungen häufig verändern. Viele Rädertierchen beispielsweise pflanzen sich solange asexuell fort, wie sie genug Futter finden und die Wasserbedingungen optimal sind. Trocknet ihr Gewässer aber aus oder bleibt die Nahrung weg, wechseln sie zur geschlechtlichen Vermehrung.
Ähnlich sieht es aus, wenn eine Art einen neuen Lebensraum erschließt: Weil sie an diesen noch nicht optimal angepasst ist, verbessert eine variantenreichere Nachkommenschaft die Überlebenschancen der Spezies. Denn dies erhöht die Chance, dass zumindest einige der Nachkommen die für die neuen Bedingungen nötigen Eigenschaften aufweisen.
„Weissmann hatte demnach durchaus Recht in seiner Annahme, dass Sex sich entwickelt hat, um Variantenreichtum zu entwickeln“, sagt Otto. Aber seine Hypothese gilt eben nur in ganz bestimmten Grenzen. Aber reicht dies aus, um die Dominanz der sexuellen Fortpflanzung zu erklären?
Sex als Hilfe gegen Parasiten und Erreger
Die Rote Königin
Bisher scheint belegt, dass Sex und die damit verbundenen Neukombination von Merkmalen die Anpassung von Organismen an neue Umwelten erleichtern kann. Doch das allein reicht nicht aus, um den Erfolg der sexuellen Reproduktion im Organismenreich zu erklären: Warum pflanzen sich auch die Pflanzen und Tiere geschlechtlich fort, die seit Jahrmillionen unter stabilen Bedingungen leben?
Eine mögliche Erklärung liefert die Red-Queen-Hypothese – benannt nach der Figur aus „Alice hinter den Spiegeln“. Diese erklärt Alice in Lewis Carrolls Buch: „Hierzulande musst du so schnell rennen wie du kannst, wenn du am gleichen Fleck bleiben willst.“ Übertragen auf die Evolutionsbiologie soll dies dies den ständigen Wettlauf zwischen Räuber und Beute, Parasiten und Wirten oder auch Krankheitserregern und ihren Wirten illustrieren.
Bessere Chancen im evolutionären Wettstreit
Und auch an diesem Punkt kommt der Sex ins Spiel: „Sich geschlechtlich vermehrende Organismen mischen ihre Gene während der Bildung der Keimzellen und bei der Verschmelzung des Erbguts zweier Individuen“, erklärt Deanna Soper von der University of Iowa. „Weil ihre Nachkommen dadurch auch neue, ungewöhnliche Genkombinationen entwickeln, kann ihnen dies helfen, einer Infektion zu entgehen.“
Im Falle einer Epidemie beispielsweise kann die größere genetische Variabilität dazu führen, dass einige Individuen von Natur aus bessere Abwehrkräfte gegen den Erreger haben oder dass sie komplett resistent sind. Dadurch können sie überleben und die Spezies weiterführen. Bei einer asexuellen Population hingegen stammen die Individuen oft von wenigen Ausgangsexemplaren ab und sind daher genetisch weitgehend identisch. Sind sie für die Infektion anfällig, kann ein Erreger im Extremfall die gesamte Population dahinraffen.
Süßwasserschnecken gegen Saugwürmer
Soper und ihr Team haben diese Hypothese an der Neuseeländischen Zwergdeckelschnecke (Potamopyrgus antipodarum) überprüft. Diese Süßwasserschnecke kann sich sexuell und asexuell vermehren, bevorzugt unter den meisten Bedingungen aber die Parthenogenese – die Fortpflanzung ohne Männchen. In ihrem Experiment setzte das Team diese Schnecken einem parasitischen Saugwurm aus, dessen Larven sich nach drei Monaten in den Schnecken entwickeln. Diese werden dadurch unfruchtbar.
Es zeigte sich: Schon die Präsenz der Saugwürmer im Becken reichte, um das Fortpflanzungsverhalten der Schnecken zu verändern: „Die Parasiten bewirkten einen Anstieg der sexuellen Paarungen und der Promiskuität unter den Schnecken“, berichtet Soper. „Die genetische Rekombination und die multiplen Paarungen wiederum erhöhen die genetische Diversität und können so die Resistenz der Nachkommen gegen den Parasiten stärken.“ Nach Ansicht des Forschungsteams könnte dies ein Indiz für die Gültigkeit der Red-Queen-Hypothese sein.
Sex hilft Primeln gegen Mehltau
Auch im Pflanzenreich finden sich Beispiele für Arten, die durch die sexuelle Vermehrung besser gegen Krankheitserreger und Parasiten gewappnet sind. Ein Team um Erika Hersch-Green von der Michigan Technological University hat dies an Primeln und ihrer Widerstandskraft gegen Mehltau untersucht. Wie sie feststellten, waren die Primelarten, die sich rein asexuell fortpflanzen, anfälliger für den Befall durch den Pilz als die Linien mit sexueller Reproduktion.
Als Ursache dafür identifizierten die Forschenden die größere Variantenvielfalt eines für die Pilzabwehr wichtigen Gens. Während die asexuellen Primelarten die ursprüngliche, wenig optimierte Version dieses Gens beibehielten, hatten die sexuellen Arten durch die genetische Rekombination mehrere optimierte, besser schützende Genvarianten entwickelt. „Das stimmt mit der Hypothese überein, dass Sex den Organismen evolutionäre Vorteile gegenüber Pathogenen verschafft“, so Hersch-Green.
Sex zur Elimination von Mutationen?
Mullers Ratsche
Es gibt noch eine dritte Hypothese, warum sich Sex in der Evolution durchgesetzt haben könnte: Die sexuelle Vermehrung ist besser darin, schädliche Mutationen loszuwerden. Bei jeder Zellteilung besteht das Risiko, dass Kopierfehler zum Austausch von DNA-Basen, zu fehlenden Abschnitten im Erbgut oder anderen Mutationen führen. Als Folge sammeln sich solche Veränderungen im Erbgut an.
Fatale Anreicherung
Diese Anreicherung mit Mutationen ist selbst bei besten genetischen Reparaturmechanismen unvermeidlich – nur die Mutationsrate unterscheidet sich je nach Organismus. Auch wir Menschen werden im Schnitt mit rund 70 Mutationen geboren, die unsere Eltern noch nicht besaßen und die in unserer Embryonalentwicklung entstanden sind. Die meisten dieser subtilen DNA-Veränderungen bleiben folgenlos.
Doch im Laufe der Zeit können Kombinationen von Mutationen entstehen, deren schädliche Effekte sich potenzieren. Im Extremfall machen sie krank oder können sogar zum Tode führen. Biologen sprechen in diesem Zusammenhang von Mullers Ratchet – nach dem US-Genetiker Hermann Joseph Muller und dem Mechanismus der Ratsche oder Sperrklinke. In der Mechanik ist dies ein Bauteil, das zwar eine Vorwärtsbewegung ermöglicht, nicht aber ein Zurück.
Muller postulierte in den 1930er Jahren, dass es auch bei Mutationen im Erbgut von Organismen immer nur eine Richtung gibt – hin zu einer Anreicherung. Irgendwann kommt dadurch der Punkt, an dem wichtige Gene mutationsbedingt nicht mehr korrekt funktionieren und ein Organismus krank wird oder stirbt. Für eine asexuelle Spezies aus genetischen Klonen kann dies das Ende bedeuten. „Ohne Sex reichern Populationen schädliche Mutationen an und bringen so jede Generation näher ans Aussterben“, erklärt Matthew Gage von der University of East Anglia.
Rekombination als Chance und Gefahr
Anders ist dies hingegen, wenn das Erbgut durch die Meiose und Befruchtung ständig rekombiniert wird. Weil dabei ganze DNA-Abschnitte und Chromosomen „herausgemendelt“ werden und nicht in die Keimzellen gelangen, entstehen einige Nachkommen, denen ein ganzer Packen dieser Mutationen fehlt. Sie starten demnach mit einem „frischen“, mutationsärmeren Genom ins Leben.
Umgekehrt werden aber auch Nachkommen gebildet, die bei dieser genetischen Neuverteilung eine Niete gezogen haben: Ihr Erbgut hat so viele schädliche Mutationen erhalten, dass sie nicht lebensfähig sind – sie sterben oft schon vor der Geburt. Dies ist zwar für das einzelne Individuum fatal, wirkt sich aber günstig auf das Wohlergehen der Gesamtpopulation aus. Denn dadurch werden regelmäßig mehrere schädliche Mutationen auf einmal aus dem Genpool der Art entfernt – so jedenfalls besagt es Mullers Ratschen-Hypothese.
Indizien in unserem eigenen Genom
Ob sich für diesen Eliminationseffekt auch Belege in der Natur finden, haben seither viele Forschungsteams untersucht – und einige Anhaltspunkte dafür gefunden. Diese finden sich sogar in unserem eigenen Genom, wie ein Team unter Leitung von Philip Awadalla von der University of Montreal 2015 herausgefunden hat. Ausgangspunkt ihrer Studie war die Tatsache, dass manche Bereiche unserer Chromosomen häufiger umverteilt werden als andere.
Für ihre Studie untersuchten die Wissenschaftler am Genom von 1.400 Menschen aus aller Welt, ob sich die Zahl der angehäuften Mutationen in diesen Rekombinations-Hotspots von denen weniger veränderlichen Regionen unterscheidet. Und tatsächlich: „Exons in Regionen mit geringer Rekombination sind signifikant mit schädlichen und krankmachenden Genvarianten angereichert“, berichten Awadalla und sein Team. Umgekehrt wiesen die Rekombinations-Hotspots im Genom eine deutlich geringere Mutationsdichte auf.
Potenzierte Wirkung
In die gleiche Richtung weist die Studie eines Teams um Alexey Kondrashov von der University of Michigan aus dem Jahr 2017. Sie hatten anhand der Mutationsrate von Mensch und Fruchtfliege überprüft, wie viele und welche schädlichen Mutationen sich im Verlauf der Generationen angereichert haben müssten und wie viele es tatsächlich sind. Damit wollten sie überprüfen, ob die Rekombination tatsächlich so selektiv wirkt, dass die besonders schädlichen Mutationen verstärkt eliminiert werden.
Das Ergebnis: Während die Dichte der Mutationen mit keinem oder nur latent schädlichem Effekt in realen Populationen mit dem Modell übereinstimmten, galt dies für stärker schädliche Mutationen nicht: Ihre Zahl ist im menschlichen Erbgut signifikant geringer als sie sein müsste. Schwere Erbkrankheiten sind daher bei uns Menschen selten, aber Risikofaktoren für Zivilisationskrankheiten trägt nahezu jeder von uns.
Selektive Selektion
Die Forscher schließen daraus, dass die Selektion im Rahmen der sexuellen Fortpflanzung stärker auf solche Genveränderungen wirkt: Weil sich die Schadwirkung dieser Mutationen bei ihrem rekombinationsbedingten Zusammentreffen potenziert, verschwinden sie schneller aus der Population. „Das erklärt, warum die Populationen von Mensch und Fruchtfliege trotz ihrer hohen Mutationsraten erhalten geblieben sind“, so das Team.
Zusammengenommen bestätigen diese und weitere Studien, dass Sex nicht nur Vorteile durch schnellere Anpassung und optimierte Widerstandskraft bringt. Er trägt auch dazu bei, der zunehmenden Mutationslast einer Spezies entgegenzuwirken.
Das Rätsel der asexuellen Bdelloid-Rädertierchen
Die Sex-Verweigerer
Es gibt eine Tiergruppe, die der Dominanz des Sex in der Natur zu trotzen scheint: Rädertierchen aus der Ordnung der Bdelloidea. Diese winzigen Wassertiere leben in nahezu jedem Teich oder See und ernähren sich, indem sie organisches Material über ihr mit Cilien besetztes Räderorgan in ihren Mund strudeln. Schon seit rund 40 Millionen Jahren gibt es bei diesen Tieren aber weder Männchen noch Sex. Die Bdelloidea vermehren sich ausschließlich asexuell.
Doppeltes Rätsel
Dies ist aus gleich zwei Gründen äußerst ungewöhnlich: Zum einen gibt es von diesen Rädertierchen mehr als 360 verschiedene Arten. Wie aber konnten diese entstehen, wenn jede Genration aus genetisch identischen Klonen ihrer Muttertiere besteht? Normalerweise gilt die Rekombination der elterlichen Gene als die Haupttriebkraft für die Entstehung neuer Merkmale und damit auch der Artbildung.
Zum anderen aber stellt sich die Frage, wie die Bdelloidea es geschafft haben, Mullers Ratsche zu entgehen – der Anreicherung schädlicher Mutationen im Laufe der Zeit. Als rein asexuelle Tiergruppe fehlt ihnen die Möglichkeit, diese Genveränderungen durch die genetische Rekombination loszuwerden. Im Prinzip widersprechen diese Rädertierchen damit gleich mehreren Hypothesen zur Notwendigkeit der sexuellen Fortpflanzung.
Horizontaler Gentransfer statt Sex
Eine Lösung dieser Rätsel entdeckten Irina Arkhipova und Matthew Meselson von der Harvard University schon vor rund 15 Jahren, als sie das Erbgut dieser Rädertierchen analysierten: „Im Genom der Rädertierchen fanden wir viele Gene, die aus Bakterien, Pilzen und Pflanzen zu stammen schienen“, berichten sie. „Es ist faszinierend, dass die Bdelloiden fremde Gene rekrutieren können, die aus so unterschiedlichen Quellen stammen, und dass sie diese dann in ihrer neuen Umgebung in Funktion nehmen.“ Immerhin rund zehn Prozent des Bdelloidea-Erbguts erwies sich als artfremd.
Nähere Untersuchungen bestätigten dann, dass die Rädertierchen die Fähigkeit zum horizontalen Gentransfer besitzen: Sie können Gene mit anderen Organismen und auch Individuen ihrer eigenen Spezies austauschen, ohne dafür Sex zu benötigen. „Bdelloiden haben die Fähigkeit, den gesamten Genpool ihrer Umgebung anzuzapfen“, sagt Arkhipova. „Das könnte ihnen helfen, sich in neue ökologische Nischen zu verbreiten und so zu ihrer Artbildung beitragen.“
DNA-Reparatur als Schlüssel
Wie aber schaffen es die Bdelloidea, fremde Gene aus der Umwelt aufzunehmen und voll in ihr Genom zu integrieren? Bisher galt der horizontale Gentransfer als Domäne vor allem einzelliger Organismen. Wie dies den mehrzelligen Rädertierchen gelingt, untersuchen Karine Van Doninck der Universität Namur in Belgien und ihre Kollegen schon seit einigen Jahren. Dabei sind sie auf eine vielversprechende Spur gestoßen.
Bdelloid-Rädertierchen sind schon länger dafür bekannt, dass sie bei der Austrocknung ihres Gewässers extrem robuste Überdauerungsstadien bilden. In diesem Ruhezustand können ihnen weder Wassermangel, noch Hitze oder harte Strahlung viel anhaben. Wie Van Doninck und ihr Team herausfanden, liegt das Geheimnis dieser Widerstandsfähigkeit im Erbgut der Tiere: Bei Austrocknung zerfällt ihre DNA in unzählige Fragmente – im Prinzip wäre dies ein Todesurteil für jeden Organismus.
Nicht so bei den Rädertierchen: Wenn sie nach einem Regen wieder zum Leben erwachen, sorgen ungewöhnlich effektive Reparaturmechanismen dafür, dass die DNA-Brüche behoben und die Genfragmente wieder zusammengesetzt werden. Dabei kommt es manchmal zu einer Umsortierung von Genabschnitten und auch Fremdgene aus der Umwelt können in diesem Prozess „versehentlich“ eingebaut werden. Van Doninck vermutet daher, dass dieser Prozess der Schlüssel zum horizontalen Gentransfer der Bdelloiden sein könnte.
Ausnahme bestätigt die Regel
Zusammengenommen könnte dies erklären, wie diese Rädertierchen es geschafft haben, mehr als 40 Millionen Jahre ohne Sex zu überleben: Sie haben die genetische Rekombination der geschlechtlichen Vermehrung durch den direkten Austausch von Genen mit Artgenossen und ihrer Umwelt ersetzt. Damit umgehen die kleinen Wasserbewohner die Nachteile der asexuellen Reproduktion, profitieren aber von ihren Vorteilen – eine geniale Lösung der Natur.