Am 4. Juli 2012 wurde das Higgs-Boson entdeckt – ein Meilenstein für die Physik. Mit ihm war endlich der Baustein des Universums gefunden, der allem seine Masse verleiht. Doch zehn Jahre später sind noch viele Fragen zu diesem einzigartigen Teilchen und seiner Wirkung offen – sie betreffen die Grundlagen unseres gesamten physikalischen Weltbilds.
Ohne das Higgs-Feld und das mit ihm verknüpfte Higgs-Boson sähe unserer Welt völlig anders aus – vermutlich gäbe es sie gar nicht. Das postulierten schon 1964 mehrere Physiker, darunter Robert Brout, Francois Englert und Peter Higgs. Seit 2012 ist das von ihnen vorhergesagte Teilchen zwar endlich nachgewiesen. Trotzdem klaffen noch einige große Lücken im Standardmodell der Teilchenphysik. Und auch das Higgs-Boson hat in mancher Hinsicht mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet. Wie also geht es weiter?
Das Rätsel der Masse
Wozu das Higgs?
Ohne Masse wäre das Universum ein völlig anderer Ort: Es gäbe keine Atome und keine normale Materie. Erst die Masse der sie bildenden Teilchen sorgt dafür, dass die Grundbausteine der Materie zusammenhalten und miteinander wechselwirken. Doch woher bekommen die Elementarteilchen ihre Masse? Das Standardmodell der Teilchenphysik – die Basis unseres physikalischen Weltbilds – lieferte darauf lange Zeit keine Antwort.
Die schwache Kernkraft passt nicht
Und noch ein Problem gibt es – bei den Trägerteilchen der Grundkräfte, den Bosonen. Anders als materiebildende Fermionen wie Quarks und Elektronen dürften sie laut Theorie eigentlich keine Masse besitzen. Bei Photonen und Gluonen, den Trägerteilchen der elektromagnetischen und starken Grundkraft, stimmt dies auch. Sie sind masselos. Deswegen können Photonen sich auch problemlos mit Lichtgeschwindigkeit bewegen.
Doch die schwache Kernkraft passt nicht ins Schema: Zum einen hat sie nicht nur ein Trägerteilchen, sondern gleich zwei, das W- und das Z-Boson. Zum anderen aber besitzen diese Bosonen eine Masse. Das erklärt zwar die geringe Reichweite der schwachen Kernkraft, die unter anderem bei radioaktiven Zerfällen wirkt. Aber woher diese Austauschteilchen ihre Masse bekommen und warum nur sie und nicht die anderen, blieb jahrzehntelang ein Rätsel.
Ein Skalarfeld als Lösung
Mehr Licht ins Dunkel kam erst Anfang der 1960er Jahre, als gleich mehrere theoretische Physiker nach einer Lösung für das Massenproblem suchten – unter ihnen Robert Brout und Francois Englert in Belgien und Peter Higgs in Großbritannien. Unabhängig voneinander kamen sie zu der Erkenntnis, dass ein das gesamte Universum durchziehendes, unsichtbares Feld das Problem lösen könnte. Dieses Skalarfeld kann quantenphysikalische Wechselwirkungen mit einigen der Elementarteilchen eingehen, durch die sich ihre Eigenschaften verändern. So können sie nur noch unter Energieaufwand beschleunigt werden – und haben damit eine Masse.
In einer bekannten Analogie vergleicht der britische Physiker David Miller diesen Brout-Englert-Higgs-Mechanismus mit einer Cocktail-Party. Betritt eine bedeutende Persönlichkeit den Raum, sammelt sich schnell eine Traube anderer Gäste um ihn. Der Prominente kann sich vor lauter Menschen kaum mehr vorwärtsbewegen – ähnlich einem Teilchen mit hoher Masse, das nur mit viel Energie beschleunigt werden kann.
Asymmetrische Wirkung
Und auch für die Tatsache, dass nicht alle Trägerteilchen eine Masse haben, liefert der Brout-Englert-Higgs-Mechanismus eine Erklärung: Das Higgs-Feld interagiert nicht mit allen Bosonen gleich, es zeigt eine Asymmetrie. Weil es in Bezug auf die Elektrodynamik und Quantenchromodynamik neutral ist, bleiben die Trägerteilchen dieser Kräfte – Photonen und Gluonen – masselos. Auf alle anderen Teilchen hingegen übt das Feld eine Art Bremswirkung aus und verleiht ihnen Masse.
Vergleichbar ist dies mit der Haarrichtung in einem Fell: Bewegt sich ein Teilchen, beispielsweise das Photon, mit dem „Haarstrich“ des Higgs-Felds, erfährt es keinen Widerstand und bleibt masselos. Bewegt sich ein Teilchen hingegen gegen den Strich, ist mehr Energie nötig – es bekommt eine Masse. Die gilt für alle materiebildenden Fermionen und die W- und Z-Bosonen der schwachen Kernkraft.
Das Higgs-Feld und sein Boson
Soweit die Theorie. Doch wie beweist man sie? Hier kommt das Higgs-Boson ins Spiel. Denn wenn es dieses Skalarfeld gibt, dann besitzt es die Fähigkeit, sich an bestimmten Stellen zu verdichten. Ähnlich wie ein Photon Welle und Teilchen zugleich ist, kann sich auch das Higgs-Feld an diesen Stellen in einem Teilchen manifestieren. „Was könnte das Standardmodell besser mit den Messdaten versöhnen als dieses? Wenn es kein Higgs-Boson gibt, dann ergibt die ganze Theorie keinen Sinn“, konstatierte Peter Higgs im Jahr 2004.
Der Physiker war schon damals zuversichtlich, dass dieses fehlende Puzzlestück im Standardmodell bald gefunden werden würde. Die Jagd auf das Higgs-Boson war eröffnet.
Wie das Higgs-Boson entdeckt wurde
Auf Teilchenjagd
Fast 50 Jahre lang haben Physiker in aller Welt nach dem Higgs-Boson gesucht, bevor sie es dann im Jahr 2012 endlich nachweisen konnten. Was aber machte die Fahndung nach diesem noch fehlenden Teilchen des Standardmodells so schwierig?
Wo verbirgt sich das Higgs?
Das Problem: Ausgerechnet die für den experimentellen Nachweis des Higgs-Bosons entscheidende Eigenschaft ging nicht aus den Theorien hervor. Nach diesen müsste dieses Teilchen weder Spin noch Ladung besitzen, wohl aber eine Masse. Doch wie groß diese war, blieb unklar. Die mögliche Spanne reichte von nur 18 Megaelektronenvolt bis zu 800 Gigaelektronenvolt. In Elektronenvolt wird die Energie angegeben, die man für die Beschleunigung eines Teilchens benötigt. Dies beschreibt auch die Masse eines Elementarteilchens.
Für die Fahndung nach einem Teilchen bedeutet dies: Wenn man die Masse kennt, weiß man auch, mit welchen Energien man Partikel aufeinander schießen muss, um bei einer Kollision das gesuchte Teilchen zu produzieren. Im Falle des Higgs-Bosons tappten die Physiker jedoch im Dunklen und konnten mit Teilchenbeschleunigern zudem nur Kollisionsenergien bis zu einer gewissen Grenze erzeugen. Immerhin hatten diese Versuche bereits ergeben, dass das Higgs-Boson wahrscheinlich schwerer als 114 Gigaelektronenvolt sein müsste.
Wie findet man einen Heuhalm im Heuhaufen?
Als dann 2008 der Large Hadron Collider (LHC) am Forschungszentrum CERN bei Genf in Betrieb ging, bekam die Suche nach dem Higgs-Boson den entscheidenden Schub. Denn dieser größte Teilchenbeschleuniger der Welt bot mit seinen energiereichen Protonenkollisionen beste Voraussetzungen, um das gesuchte Teilchen endlich zu finden. „Sollte das Universum die vom Standardmodell vorhergesagte Version des Higgs-Mechanismus nutzen, dann konnte sich dieser nicht mehr verstecken, nachdem der LHC einmal angelaufen war“, erklärt der CERN-Physiker Matthew McCullough.
Allerdings: Das Higgs-Boson entsteht nur bei etwa jeder Milliardsten Protonenkollisionen und es hat eine extrem kurze Lebensdauer: Es zerfällt schon nach weniger als einer Trilliardstel Sekunde wieder. Es kann daher nicht direkt gemessen oder beobachtet werden. Aufspüren kann man es nur anhand der Zerfallsprodukte, die es hinterlässt. Leider bestehen diese aber aus Elementarteilchen wie Photonenpaaren, Myonen oder Z-Bosonen, die auch bei Zerfällen der unzähligen anderen Kollisionsprodukte freigesetzt werden.
Die Signatur des Higgs-Bosons inmitten dieser Millionen Teilchen zu identifizieren, gleicht daher eher der Suche nach einem bestimmten Heuhalm im Heuhaufen als der Fahndung nach der berühmten Nadel. Möglich wird diese scheinbar unlösbare Aufgabe aber, indem man gezielt vergleicht, welche auf schon bekannten Prozessen beruhenden Zerfallsprodukte die Detektoren finden müssten, und dann schaut, ob es in einem Massen- und Energiebereich Abweichungen von dieser erwarteten Kurve gibt. Ist das Higgs-Boson mit im Spiel, müsste sich dies in einem winzigen Überschuss der aus ihm entstehenden Zerfallsprodukte äußern.
Ein Buckel in den Kurven
Genau das zeigte sich im LHC – an gleich zwei der großen Detektoren: Am 4. Juli 2012 traten die Sprecher der ATLAS- und CMS-Kollaboration vor die Weltöffentlichkeit und verkündeten das lange ersehnte Ergebnis: An beiden Detektoren hatte man unabhängig voneinander das eindeutige Signal des Higgs-Bosons entdeckt. Nachweisbar war dies jeweils an einem „Buckel“ in der Kurve der Zerfallsprodukte, erzeugt von den beim Higgs-Zerfall freigesetzten Photonenpaaren beziehungsweise Z-Bosonen.
Beide Ergebnisse erreichten eine Signifikanz von mehr als fünf Standardabweichungen – dies entspricht einer Wahrscheinlichkeit von rund 3,5 Millionen zu eins, dass es sich um ein echtes Signal und nicht bloß Zufall handelt. Mit diesem Wert erfüllte die Ergebnisse von ATLAS und CMS die Voraussetzung für die offizielle Entdeckung eines Teilchens. Ihren Daten zufolge musste dieses Teilchen zudem eine Masse von gut 125 Gigaelektronenvolt aufweisen. Das passte perfekt zu dem Massenbereich, in dem man aufgrund von früheren Fahndungen das Higgs-Boson vermutete.
Meilenstein der Physik
„Ich denke, damit haben wir es, oder?“, konstatierte CERN-Generaldirektor Rolf Heuer unter dem Jubel des vollbesetzten Auditoriums am CERN. Nach jahrzehntelanger Suche war endlich das noch fehlende Teilchen im Puzzle des Standardmodells gefunden – das Higgs-Boson. Sein Nachweis bestätigte den mehr als 50 Jahre zuvor postulierten Brout-Englert-Higgs-Mechanismus und die Existenz eines massegebenden Skalarfelds im Kosmos.
Die Entdeckung des Higgs-Bosons war für Physiker weltweit ein einmaliger Meilenstein. „Für mich und wahrscheinlich die meisten meiner Generation fühlte es sich an, als wenn ein ganz neuer Kontinent der Wissenschaft entdeckt worden wäre – ein Kontinent, dessen Erforschung unser gesamtes Leben dauern könnte“, schildert McCullough seine Gefühle am 4. Juli 2012. „An diesem Tag wussten wir endlich, dass es ihn wirklich gibt.“
2013 erhielten Francois Englert und Peter Higgs dafür den Nobelpreis für Physik. Die schon verstorbenen Theoretiker und die tausenden an der Fahndung beteiligten Experimentalphysiker am CERN gingen dagegen leer aus – weil der Nobelpreis seinen Statuten zufolge nur auf maximal drei lebende Personen aufgeteilt werden darf.
Den Wechselwirkungen des Higgs-Bosons auf der Spur
Das Higgs und die anderen
„Das Higgs-Boson ist der Grundstein des Standardmodells und daher ist alles, was wir über dieses Teilchen lernen, zentral für die Grundgesetze der Physik“, erklärt der Physiker Matthew McCullough vom CERN.
Mit wem interagiert das Higgs?
Eine der entscheidenden Fragen nach der Entdeckung des Higgs-Bosons war daher die seiner Wechselwirkungen: Koppelt das Higgs wirklich auf die von der Theorie beschriebene Weise mit anderen Teilchen? Alle bei seinem Nachweis untersuchten Zerfälle betrafen Interaktionen mit anderen Bosonen – Photonen sowie W- und Z-Bosonen. Wenn das Higgs aber das gesuchte „Massegeber“-Teilchen ist, müsste es auch auf spezifische Weise mit Quarks und Leptonen interagieren. Zu letzteren gehören das Elektron und seine schwereren „Geschwister“ Myon und Tau-Lepton.
2016 gelang es den Physikern am LHC tatsächlich, die erste dieser Wechselwirkungen nachzuweisen, den Zerfall des Higgs-Bosons in Bottom-Quark und Tau-Leptonen. Damit war klar, dass das Higgs tatsächlich nicht nur mit Trägerteilchen der Grundkräfte interagiert, sondern auch mit Materieteilchen. Etwas länger dauerte der Nachweis des eigentlich häufigsten Zerfalls des Higgs-Bosons: „Dieser favorisierte Zerfall des Higgs in zwei Bottom-Quarks sollte eigentlich in 58 Prozent der Fälle auftreten“, erklärt Karl Jacobs, Sprecher der ATLAS-Kollaboration. „Er ist damit ein entscheidendes Teil im Higgs-Puzzle.“
Doch gerade diese Zerfallsform war im „Heuhaufen“ der vielen bei der Protonenkollision im Teilchenbeschleuniger erzeugten Partikel nur schwer eindeutig nachzuweisen. 2018 endlich war es dann soweit: Sowohl der ATLAS-Detektor als auch der CMS-Detektor am LHC lieferten Daten, die den Zerfall des Higgs-Bosons in zwei Bottom-Quarks mit einer Signifikanz von mehr als fünf Sigma belegten.
Schwergewichte unter sich
Nun fehlte noch eine entscheide Interaktion: Der Theorie zufolge müsste dabei die Kopplung des Higgs-Bosons an das schwerste Materieteilchen, das Top-Quark, am stärksten sein – erst so bekommt dieses seine große Masse. Ist dies der Fall, dann müsste bei einigen Protonenkollisionen im LHC ein Higgs-Boson gemeinsam mit einem Top-Quark und einem Anti-Top-Quark entstehen.
Doch dieser sogenannte ttH-Produktionsprozess ist äußerst selten: „Nur ein Prozent der Higgs-Bosonen entstehen zusammen mit Top-Quarks“, erklärt Sandra Kortner vom Max-Planck-Institut für Physik. Weil die Top-Quarks nicht stabil sind, lassen auch sie sich wieder nur über ihre Zerfallsprodukte nachweisen. Die nötige Signifikanz erreichten die Messungen am LHC daher erst im Jahr 2018. „Dies ist das erste Mal, dass dieser Prozess experimentell verifiziert worden ist – und das mit überwältigender Signifikanz“, berichtete Jakobs.
„Dieser Nachweis ist ein Meilenstein in der Erforschung des Higgs-Bosons“, konstatierte der Sprecher der ATLAS-Kollaboration. „Wir haben damit nun alle Kopplungen des Higgs-Bosons mit den schweren Quarks und Leptonen der dritten Generation beobachtet und auch alle wichtigen Erzeugungsarten dieses Teilchens.“ Damit ist klar, dass das 2012 entdeckte Boson tatsächlich die Eigenschaften besitzt, die dem Higgs-Mechanismus und seinem Teilchen zugeschrieben werden.
Durch das „Higgs-Portal“ zur Dunklen Materie
Aber noch spannender als diese von der Theorie beschriebenen Wechselwirkungen mit schon bekannten Elementarteilchen könnten jedoch die noch unbekannten sein: Anders als andere Teilchen des Standardmodells hat das Higgs-Boson weder Ladung noch Spin und kann daher auch mit neutralen Partikeln wechselwirken – auch mit bisher noch unentdeckten Arten von Bosonen. Ein solches neutrales Teilchen könnte nach Vermutung vieler Physiker das lange gesuchte Teilchen der Dunklen Materie sein.
„Das macht das Higgs zu einem fantastischen Werkzeug für die Jagd nach der Dunklen Materie – wir nennen diese Chance auch das Higgs-Portal“, sagt der CERN-Physiker Matthew McCullough. Erkennen könnte man solche „dunklen“ Wechselwirkungen unter anderem daran, dass bei einigen Higgs-Bosonen im LHC ein Teil der Zerfallsprodukte zu fehlen scheint: Weil dabei die neutralen, nicht mit den Detektoren nachweisbaren „dunklen Bosonen“ entstehen, entweichen sie unerkannt oder erzeugen ein Ungleichgewicht in den bekannten Zerfallsmustern.
Bisher könnten die Physiker des CERN zwar erste Hinweise auf verräterische Abweichungen gefunden haben. Von einem Nachweis oder einer genaueren Eingrenzung, worum es sich dabei handelt, sind sie aber noch weit entfernt. Hier hoffen sie auf die besseren Daten und vermehrte Higgs-Produktion während der jetzt beginnenden dritten Laufzeit des LHC.
Von Symmetriebrüchen, Sombreros und Selbst-Interaktionen
Die Geheimnisse des Higgs
Das Higgs-Boson hat eine bedeutende Lücke im physikalischen Standardmodell gefüllt. Trotzdem bleibt auch nach seiner Entdeckung vieles ungeklärt – nicht zuletzt über das Higgs-Feld und sein Teilchen selbst. „Das Higgs-Boson sagt uns, dass unsere Theorie fantastisch funktioniert“, sagt der britische Physiker John Ellis. „Es wird daher oft als das Teilchen dargestellt, das das Standardmodell komplett macht. Aber in Wirklichkeit wirft es einen ganzen Haufen neuer Fragen auf.“
Spontaner Symmetriebruch im Higgs-Feld
Eine dieser Fragen betrifft die Entstehung und Natur des Higgs-Felds. „Das Higgs-Boson ist das erste und bisher einzige Skalar-Teilchen unter den Grundkräften der Natur“, erklärt der Nobelpreisträger frühere CERN-Generaldirektor Carlo Rubbia. „Anders als andere Kräfte hat das Higgs-Feld keine bevorzugte Richtung und sieht auch gespiegelt immer gleich aus.“ Der Theorie zufolge entstand dieses Feld direkt beim Urknall – lange bevor es Atome gab. In seinem Urzustand ergaben die Skalarwerte des Higgs-Felds im Schnitt überall Null. Dadurch hatte nichts und niemand eine Masse.
Doch schon wenige Sekundenbruchteile nach dem Urknall durchlief das Higgs-Feld einen spontanen Symmetriebruch: Es nahm eine neue Konfiguration an, deren Werte im Mittel einer Energie von ungefähr 246 Gigaelektronenvolt entsprechen. Dadurch begann es, andere Felder und Teilchen zu beeinflussen und einem Teil von ihnen eine Masse zu verleihen. Das scheinbar Paradoxe daran: Die dieses Feld beschreibenden Gleichungen sind noch immer symmetrisch, nur die physikalische Realität ist es nicht.
Physiker beschreiben diesen spontanen Symmetriebruch des Higgs-Felds auch mit dem Sombrero- oder Sektflaschen-Modell: Das Skalarfeld ähnelt dabei dem aufgewölbten Boden einer Sektflasche oder einem gewölbten Sombrero. Würde man nun einen Bleistift auf der zentralen Erhebung balancieren, wäre alles perfekt symmetrisch – die Form des Felds macht dies möglich. Doch in der Realität kippt der Stift ziemlich schnell um und fällt in eine Richtung – die Symmetrie wird zumindest für den Stift gebrochen, obwohl sich die Form des Felds nicht ändert.
Was liegt hinter der Hutkrempe?
Das Problem an diesem Szenario: Bisher ist unklar, ob sich das Higgs-Feld tatsächlich mit dem Sombrero-Modell beschreiben lässt und wie es hinter dem ansteigenden Rand der Hutkrempe weitergeht. Gibt es dahinter womöglich einen Abgrund, in dem das Feld noch niedrigere Werte als im Tal der „Hutkrempe“ annehmen kann? Dann wäre das Feld nur metastabil und könnte in einen neuen, niedrigeren Energiezustand umkippen. Steigen die Werte der „Hutkrempe“ hingegen nach außen immer weiter an, wäre das Higgs-Feld stabil.
Eine Möglichkeit, diese Frage zu beantworten, bietet die sogenannte Tripel-Kopplung des Higgs-Bosons – ein Verhalten, das die Wechselwirkung der Higgs-Bosonen mit seinesgleichen beschreibt. Der Theorie nach könnte das Higgs das einzige Teilchen im Standardmodell sein, das mit sich selbst interagiert. Wäre dies der Fall, müssten einige Higgs-Bosonen im Teilchenbeschleuniger in zwei weitere Higgs-Bosonen zerfallen.
Das Entscheidende daran: Wenn diese Tripel-Kopplung existiert, könnte ihre Häufigkeit und die Energien, bei denen sie auftritt, Aufschluss darüber geben, ob das Higgs-Feld den Vorhersagen des Standardmodells folgt oder ob es Raum für „neue Physik“ in Form unerkannter Teilchen oder Kräfte gibt. Die ATLAS-Kollaboration am LHC hat bereits begonnen, nach den Zerfallsprodukten solcher Tripel-Kopplungen zu suchen, und auch hier erhoffen sich die Physiker mehr und bessere Daten in der ab Sommer 2022 beginnenden dritten Laufzeit des LHC.
Ist das Higgs unteilbar?
Und noch eine weitere Frage zum Higgs-Boson erforschen die Physiker der ATLAS-Kollaboration zurzeit: Handelt es sich bei ihm um ein echtes, unteilbares Elementarteilchen wie Photonen, Quarks und Gluonen oder hat das Higgs-Boson womöglich sogar eine Unterstruktur? Einige Modelle zu physikalischen Prozessen jenseits des Standardmodells sagen dies voraus. Demnach könnte das Higgs eher einem Pion gleichen, einem Partikel aus einem Up-Quark und einem Anti-Down-Quark, das bei der Bindung der Protonen und Neutronen im Atomkern eine Vermittlerrolle spielt.
Erkennbar wäre eine solche Unterstruktur des Higgs-Bosons an der Bildung exotischer „Vektor-ähnlicher“ Quarks. 2021 haben Physiker der ATLAS-Kollaboration dazu erste Auswertungen der Kollisionsdaten im LHC vorgestellt. Diese sprechen jedoch bisher dafür, dass sich das Higgs-Boson so verhält wie im Standardmodell beschrieben und damit ein echtes Elementarteilchen ist.
Noch allerdings hat die Erforschung des Higgs-Bosons und seiner Eigenheiten gerade erst begonnen. „Wenn wir die Merkmale des Higgs messen können, dann wird dies einige der brennenden Fragen der Physik beantworten“, erklärt die Physikerin Nima Arkani-Hamed vom Institute for Advanced Study der Princeton University.
Was kommt nach Higgs und LHC?
Wie es weitergeht
Die Entdeckung des Higgs-Bosons war ein Meilenstein der Physik und ein großer Erfolg. Aber seither sind weitere große Entdeckungen in der Teilchenphysik ausgeblieben und viele große Fragen blieben ungeklärt. Die erhoffte Schwemme neuer Teilchen und Durchbrüche, die sich Physiker vor allem von der zweiten Laufzeit des LHC und der Erkundung des Higgs-Bosons erhofft hatten, lässt auf sich warten.
„Einige Leute laufen mit gesenktem Kopf herum, sind enttäuscht oder sogar deprimiert und beklagen sich, dass wir ’nur das Higgs entdeckt haben und nichts sonst'“, schilderte Nima Arkani-Hamed vom Institute for Advanced Study in Princeton kürzlich im „CERN Courier“ die Stimmung.
Rätselraten bei Gravitation und Antimaterie
Tatsächlich gäbe es noch reichlich offene Fragen, die die Physik zu klären hat. Denn auch wenn das Higgs-Boson einige Unklarheiten im Standardmodell beseitigt hat, klaffen in ihm noch immer große Lücken. So haben Physiker noch immer keine echte Erklärung dafür, wie die vierte Grundkraft, die Gravitation, mit dem Rest der Grundkräfte zusammenhängt – an dieser Frage versuchte sich schon Albert Einstein vergeblich. Auch ob die Gravitation analog zu den anderen Grundkräften ein Trägerteilchen besitzt, ist offen.
Ebenfalls ungeklärt ist, warum unser Universum nicht schon direkt nach dem Urknall wieder selbst kollabiert ist. Denn eigentlich müssten damals gleich große Mengen an Materie und Antimaterie entstanden sein, die sich gegenseitig ausgelöscht hätten. Doch die große Annihilation blieb offensichtlich aus – sonst gäbe es uns nicht. Wissenschaftler vermuten daher, dass es irgendeinen subtilen Unterschied in den Merkmalen oder dem Verhalten von Teilchen und ihren Antimaterie-Gegenparts gegeben haben muss. Doch bisher sucht man danach vergebens.
Der dunkle Sektor
Dazu kommt, dass fast 95 Prozent unseres Universums buchstäblich im Dunkeln liegen: Sie werden von Dunkler Materie und Dunkler Energie dominiert – zwei Einflussfaktoren, deren Natur noch immer völlig unbekannt ist. Die Dunkle Energie ist die Triebkraft für die Ausdehnung unseres Universums. Wie sie dies jedoch bewerkstelligt und warum sich die kosmische Expansion beschleunigt, gibt Astronomen und Physikern noch immer Rätsel auf.
Fast ebenso geheimnisvoll, wenn auch ein wenig besser untersucht, ist die Dunkle Materie. Von ihr wissen wir, dass sie fast überall im Kosmos vorhanden sein muss – im intergalaktischen Raum ebenso wie im Halo der Milchstraße oder sogar in unserem Sonnensystem. Ihre Präsenz prägt die Form und Bewegung von Galaxienhaufen und Galaxien. Doch weil die Dunkle Materie fast nur über die Schwerkraft mit normaler Materie wechselwirkt, ist auch ihre Natur ungeklärt. Aus was für Teilchen die Dunkle Materie besteht – und ob möglicherweise ein Boson wie das Higgs dahinter stecken könnte, ist noch offen.
Wo stecken die alle?
Ebenso offen sind noch immer einige fundamentale Fragen zum Verhalten und den Eigenschaften im Bereich der Teilchenphysik: Eine betrifft die Theorie der Supersymmetrie, nach der es für jedes bekannte Teilchen einen noch unerkannten, schwereren Partner geben soll. Eigentlich hatten sich die Verfechter dieser Theorie schon von den ersten Laufzeiten des LHC eine Schwemme solcher SUSY-Teilchen erhofft – doch in den Daten findet sich bisher von diesen hypothetischen Partikeln keine Spur.
Bei den Neutrinos versuchen Physiker noch immer zu klären, ob es eine vierte, sterile Form dieser „Geisterteilchen“ gibt. Und auch die Zusammenfassung der elektromagnetischen und schwachen Grundkraft zur elektroschwachen Wechselwirkung birgt noch einige ungelöste Diskrepanzen. Gerade in diesem Bereich erhofft man sich auch vom Higgs-Boson und seinen Zerfällen mehr Aufklärung.
Was kommt als nächstes?
All diese Phänomene könnten auf noch unerkannte Prozesse und Teilchen zurückgehen – auf „neue Physik“. Bisher jedoch hat sich diese erfolgreich vor den Augen der Physikergemeinschaft verborgen. Zwar haben Physiker am LHC und in anderen Teilchenbeschleunigern einige verräterische Abweichungen entdeckt, unter anderem beim magnetischen Moment des Myons oder bei Zerfällen des B-Mesons. Antworten auf die großen Fragen blieben jedoch bisher aus.
Zumindest einige Antworten erhofft man sich nun von der im Sommer 2022 beginnenden dritten Laufzeit des LHC am CERN. Denn ihre noch leistungsstärkeren, häufigeren Kollisionen könnten zumindest die schon in Andeutungen festgestellten Anomalien erhärten und klären helfen. Viele der noch ungeklärten Phänomene erfordern allerdings mehr Energie und andere Methoden als die maximal 13,4 Teraelektronenvolt, die der LHC bei Protonenkollisionen erzeugen kann.
Nach dem LHC
Deshalb sind bereits einige Nachfolge-Projekte in der Diskussion, die noch stärkere und größere Teilchenbeschleuniger umfassen. Am CERN geht es im „Physics Beyond Colliders“-Programm darum, wie die vorhandenen Beschleunigerringe, weiter genutzt werden sollen. Gleichzeitig plant man für die Zeit nach 2040 bereits einen 100 Kilometer großen Beschleunigerring. In diesem „Future Circular Collider“ (FCC) sollen zunächst Elektronen und Positronen kollidieren und als „Higgs-Fabrik“ dienen. Sie kollidieren zwar mit geringerer Energie, erzeugen aber weniger Stör-Teilchen, was die Analyse der Higgs-Produkte einfacher macht.
Später sollen im FCC dann Protonen-Kollisionen mit Energien von bis zu 100 Teraelektronenvolt stattfinden. Auch China plant mit dem CEPC eine Higgs-Fabrik in Form eines ähnlich großen Ringbeschleunigers für Elektronen und Positronen. In Japan war ein Linearbeschleuniger in der Diskussion, ob die Regierung die Finanzierung mitträgt, ist aber unklar. Parallel zu den großen – und teuren – Anlagen setzen einige Physiker ihre Hoffnung aber auch auf neuartige Mini-Beschleuniger, die Elektronen mithilfe von Plasmalasern auf Touren bringen. Deren Energien sind zwar eher gering, dafür sind sie aber günstig, überall einsetzbar und könnten gezielt spezielle Unteraspekte erforschen.
„Es ist zu früh zu sagen, welche dieser Projekte umgesetzt werden und welche davon ihre Ziele erreichen werden“, kommentierte 2019 das Fachmagazin „Nature Reviews Physics“ in einem Editorial. „Aber klar ist: Um eine neue Physik jenseits des Standardmodells zu entdecken, müssen wir alles in den Ring werfen, was wir haben: große Hochenergie-Teilchenbeschleuniger, kleine Experimente bei geringeren Energien und astrophysikalische Beobachtungen.“