Urzeitliche Anpassungskünstler mit kleinen Eigenheiten
Schildkröten
Schildkröten sehen nicht nur altertümlich aus, sie haben sich auch seit etwa 220 Millionen Jahren äußerlich kaum verändert und krochen schon mit den Dinosauriern über unsere Erde. Die Entwicklung ihres typischen Rückenpanzers spielt dabei eine bedeutsame Rolle. Aber wie ist der Panzer entstanden? Und was macht die Schildkröten noch besonders?
Schildkröten sind mit Echsen, Krokodilen und Vögeln verwandt. In ihrer Evolution entwickelte sich zunächst nur ein Bauchpanzer, der den im Wasser lebenden Tieren als Schutz diente und ihre Jagd erleichterte. Und auch an Land galt der Panzer bald als ein evolutiver Vorteil – bis heute. Dass sie auch an das moderne Zeitalter angepasst sind, haben die gepanzerten Kriechtiere zusätzlich ihren Sinnen und besonderen, teils skurrilen Verhaltensweisen zu verdanken. Ihre Anpassungen sichern ihnen aber gegen einen Feind kaum Schutz: den Menschen.
Seit wann gibt es Schildkröten? Wie kamen sie zu ihrem typischen Rückenpanzer? Welche körperlichen Besonderheiten machen sie noch aus? Wie angepasst sind sie an das heutige Leben? Für welche skurrilen Verhaltensweisen sind sie bekannt? Und vor welchen Gefahren sind sie dennoch bedroht? Welche Rolle spielt der Mensch dabei?
Schildkröten als Erfolgsmodell der Evolution
Überlebende der Urzeit
Schildkröten (Testudinata) sind ein Erfolgsmodell der Evolution – sie existieren schon seit 220 Millionen Jahren, wie Fossilienfunde belegen. Damit entwickelten sie sich bereits zur Zeit der Dinosaurier und leben als kaum veränderte Urtiere noch heute.
Rätsel um den Ursprung der Schildkröten
Doch wie diese Überlebenskünstler entstanden sind, war lange strittig. Zunächst gingen Wissenschaftler davon aus, dass die Urahnen der Schildkröten zu den primitiven Reptilien, den sogenannten Anapsiden, gehören müssten. Diese trugen im Gegensatz zu Krokodilen oder Schlangen in ihrem Schädel keine zusätzlichen Öffnungen hinter den Augen. Diese Vermutung zu beweisen, war aber kaum möglich, da es nur wenige Fossilien von möglichen Übergangsformen gab.
Ein spektakulärer Fund im Jahr 2015 widersprach den Annahmen jedoch von Grund auf: In Vellberg in Baden-Württemberg haben Forscher Fossilien einer 240 Millionen Jahre alten Ur-Schildkröte ausgegraben, deren Panzer noch nicht vollständig geschlossen und deren Schädel gut erhalten war. „Das geologische Alter der Ur-Schildkröte passt genau in die zeitliche Lücke, in der man solche Übergangsformen erwartet hatte“, so Rainer Schoch vom Staatlichen Museum für Naturkunde in Stuttgart.
Bei näheren Untersuchungen zeigte sich, dass diese Ur-Schildkröte zwei große Öffnungen auf Schläfenhöhe im Schädelknochen besaß. Ihre Kiefer waren noch zahnbewehrt – heutige Schildkröten besitzen dagegen eine schnabelähnliche Kauleiste. Im Rücken hatte der Schildkröten-Urahn bereits verbreiterte, T-förmige Rippen. Seine kompakten Bauchrippen waren jedoch noch nicht zu einem Panzer verschmolzen.
Die Erkenntnis daraus: Mit diesen Merkmalen bildet die neue Art ein perfektes Bindeglied zwischen den frühen Echsen und den Schildkröten, sie ist ein Missing Link. Anhand der Anatomie stellen die Paläontologen nun den Ursprung der Schildkröten also nicht mehr an die Basis der Reptilien, sondern in die nähere Verwandtschaft der Echsen, Krokodile und Vögel. Denn auch sie besitzen zwei Schädelfenster und gehören damit zu den sogenannte diapsiden Reptilien.
Wie die Tiere zu ihrem Panzer kamen
Der Fund löste aber noch ein weiteres Rätsel: Wie der damals wie heute charakteristische Panzer der Schildkröten entstanden ist. In der Vergangenheit ging man davon aus, dass sich das starre Gebilde aus sogenannten Osteodermen entwickelt haben könnte. Dabei handelt es sich um die knöchernen Hautschuppen, aus denen auch die Haut einiger heute lebenden Reptilien wie beispielsweise der Krokodile besteht und aus denen sich vermutlich auch die Haut der Dinosaurier zusammensetzte.
Doch diese Vermutung wurde widerlegt: Bei den Schildkröten hat sich laut der Fossilien aus Vellberg zuerst der Bauchpanzer entwickelt – und zwar aus den Rippen der Tiere. Diese Erkenntnis lieferte auch ein in China in der Provinz Guizhou entdecktes 220 Millionen Jahre altes Fossil einer weiteren Urzeit-Schildkröte. Olivier Rieppel, Leiter der Geologischen Abteilung des Chicagoer Field Museums, und seine chinesischen und kanadischen Kollegen hatten bei Analysen des Funds festgestellt, dass auch dieses Relikt eine noch unvollständige Schutzschale besaß, die ein Fortsatz der Wirbelsäule und Rippen war.
Die Entdeckung passt auch zu Untersuchungen der Embryonalentwicklung von heutigen Schildkröten: Sie zeigen, dass sich bei diesen die Wirbelsäule und Rippen allmählich verbreitern und dann verschmelzen.
Vom Wasser an Land
Doch warum hat sich die Entwicklung dieses starren Gebildes bei den Schildkröten überhaupt durchgesetzt? Welchen Überlebensvorteil kann der Panzer haben, obwohl er den Körper der Schildkröten abflacht und versteift und dadurch den Gang der Tiere verlangsamt?
Auch dafür haben Wissenschaftler heute eine Antwort: Die entdeckten urzeitlichen Schildkröten-Arten lebten vermutlich ähnlich wie heutige Galapagosechsen vorwiegend im Wasser. Die schwer gebauten Rippen und Bauchrippen ermöglichten es ihnen dabei, tiefer zu tauchen und vielleicht länger im Wasser zu bleiben als gewöhnliche Echsen.
Zudem schützte der Halbpanzer beim Schwimmen in Oberflächennähe den empfindlichen Bauch vor Angriffen durch Fressfeinde von unten. „Reptilien, die auf dem Land lebten, hatten ihre Bäuche nah am Boden und waren dadurch weniger Gefahr ausgesetzt“, so Rieppel. Nach Ansicht der Forscher deutet dies also darauf hin, dass der Schildkrötenpanzer ursprünglich im Wasser entstanden sein könnte und die Schildkröten erst später das Land erobert haben.
Auch an Land praktisch?
Es könnte aber bald darauf auch halbpanzerige Landschildkröten gegeben haben, wie ein internationales Forscherteam um Tyler Lyson vom Denver Museum of Nature and Science festgestellt hat. Denn der Bauchpanzer könnte auch an Land erste Überlebensvorteile geboten haben: Möglicherweise diente der halbe Schildkrötenpanzer ursprünglich als „Grabungshilfe“.
Urzeitliche Landschildkröten oder zumindest ihre Vorfahren lebten laut Forschenden vermutlich in trockenen Gebieten, die von harten Böden gekennzeichnet waren. Dort war es schwierig, mit den Krallen an den Vordergliedmaßen zu graben. Es brauchte also Werkzeuge: Der versteifte Brustkorb, könnte als harte Basis gedient haben, um kräftiger und effektiver graben zu können, so die Vermutung von Lyson und seinem Team.
Typische körperliche Merkmale von Schildkröten
Gepanzert, zahnlos und mit Adleraugen
Ob Riesenschildkröten, Wüstenschildkröten oder Lederschildkröten: Sie alle sind hauptsächlich für ihren schützenden Panzer bekannt, weisen aber noch weitere Körpermerkmale auf, die ihnen ihr Überleben sichern.
Panzer mit Vorteilen
Der Panzer der heutigen Schildkrötenarten verbindet den Rücken und den Bauch der Tiere als starre Platten miteinander. So bietet er den Landschildkröten (Testudinidae) Regenschutz und vor allem sicheren Schutz vor Fressfeinden, da nicht nur ihre Organe und der größte Teil des Körpers dauerhaft unter dem Panzer versteckt sind, sondern sie auch ihren Kopf bei Gefahr schützen können.
Man unterscheidet bei Schildkröten zwischen Halslegern (Pleurodira), die ihren Kopf zur Seite legen, wenn sie ihn einziehen, und Halsbergern (Cryptodira), die ihren Kopf direkt einziehen. Eine Ausnahme dabei ist die Großkopfschildkröte (Platysternon megacephalum): Ihr Kopf ist so groß, dass sie ihn zum Schutz nicht einziehen kann – für sie ist daher Angriff die beste Verteidigung.
Aufs Wasserleben spezialisiert
Bei Wasserschildkröten (Cheloniidae) spielt der Panzer auch bei der Feindesabwehr eine Rolle, hat aber noch eine weitere entscheidende Bedeutung: Ihr Panzer ist flacher und stromlinienförmiger als der der Landschildkröten und ihre Füße sind zusätzlich meist flossenartig geformt oder es befinden sich Schwimmhäute zwischen den Krallen, wie zum Beispiel bei den in Mitteleuropa vorkommenden Sumpfschildkröten (Emys orbicularis). Zusätzlich ist ihr Panzer von zahlreichen Hohlräumen durchzogen. Der schwammartige Aufbau verleiht ihnen Auftrieb.
Diese körperlichen Anpassungen ermöglichen es den Wasserschildkröten, beachtliche Geschwindigkeiten beim Schwimmen zu erreichen. Die schnellste lebenden Schildkröte ist die Lederschildkröte (Dermochelys coriacea): Sie kann bis zu 35 Kilometer pro Stunde zurücklegen.
Ausnahmefall Hörner-Panzer
Bei einer älteren riesigen, aber mittlerweile ausgestorbenen Schildkröte kam noch ein weiterer Nutzen des Panzers dazu: Paläontologen um Edwin Alberto Cadena von der Universität del Rosario in Bogota haben bei Ausgrabungen von Fossilien der riesenhaften Meeresschildkrötenart in Venezuela entdeckt, dass die Männchen große Hörner an ihrer Panzer-Vorderseite trugen.
„Die Ausrichtung der Hörner spricht dafür, dass sie nicht nur zum Schutz dienten, sondern auch für den Kampf“, erklären die Forscher. Die als Stupendemys bezeichnete Art könnte die Hörner etwa in Rivalenkämpfen eingesetzt haben, um die Gegner auszuhebeln und auf den Rücken zu drehen. Ein ähnliches Verhalten gibt es auch bei einigen heute lebenden Schildkrötenarten ohne Hörner.
Ideale Orientierung im Lebensraum
Neben dem Panzer bieten auch ihre Sinne den Schildkröten wichtige Überlebensvorteile. So ist beispielsweise der Sehsinn der gepanzerten Vierbeiner sehr gut ausgeprägt. Sie haben wie alle Reptilien vier verschiedene Farbrezeptoren und können daher auch Infrarot- und Ultraviolett-Strahlung wahrnehmen. Ebenso können Schildkröten ausgezeichnet riechen. Wasserschildkröten nehmen Duftstoffe über kauend-pumpende Bewegungen des Unterkiefers und Halses wahr. Ihre Geruchsrezeptoren befinden sich im Rachen. Über den Duft erkennen Schildkröten nicht nur ihr Fressen, sondern auch ihre Partner. Und sie nutzen den „Duft“ der Umgebung auch zur Orientierung: Meeressschildkröten legen oft tausende von Kilometern in den Ozeanen zurück.
Zudem besitzen die Schildkröten einen ganz besonderen Sinn – den Magnetsinn. Die Reptilien können sich wie zum Beispiel auch Forellen, Lachse oder Zugvögel am Magnetfeld der Erde orientieren. Sie verfügen über eine Art inneren Kompass, mit dem sie die Feldlinien des Erdmagnetfelds wahrnehmen und ihre Reiseroute entsprechend anpassen können.
Zähne überflüssig
Während die vor 220 Millionen Jahre lebenden fossilen Schildkröten noch Zähne besaßen, sind sie bei den rezenten Arten zurückgebildet. Heute nutzen Schildkröten deshalb ihre zu kräftigen Schneidewerkzeugen umgewandelte Kieferleisten aus Hornsubstanz. Wie alle Reptilien kauen Schildkröten ihre Nahrung nicht, sondern verschlingen sie entweder unzerkleinert oder reißen sie mit dem Schnabel in Stücke.
Die Rückbildung der Zähne schränkt die gepanzerten Vierbeiner in ihrer Nahrungsauswahl jedoch kaum ein: Viele Arten sind Allesfresser und bei ihrer Nahrungswahl nicht sehr wählerisch, was ihnen einen großen Überlebensvorteil verschafft. Das Nahrungsspektrum reicht je nach Art von Wiesenkräutern, Blüten und Früchten über Insekten und Würmer bis hin zu Aas von anderen Tieren. Außerdem verspeisen Schildkröten Schnecken, um mit den Schalen ihre Calciumversorgung zu decken. Meeresschildkröten ernähren sich zudem vor allem von Algen, Fischen, Seesternen und Krabben.
Überraschend dabei: Manche Schildkröten verwandeln sich im Laufe ihres Lebens vom Fleischfresser im Wasser zum Pflanzenfresser an Land, wie Josef Weisgram und sein Team von der Universität Wien herausgefunden haben. Die Ursache für diese erstaunliche Entwicklung hängt mit dem Wachstum der Zunge zusammen: Wenn die Zunge der Tiere zu groß wird, behindert sie die Nahrungsaufnahme im Wasser. Dann wechseln diese Schildkrötenarten an Land und steigen auf pflanzliche Nahrung um.
Keine Nieren notwendig
Eine ganz skurrile Verhaltensweise weist die chinesische Weichschildkröte (Pelodiscus sinensis) auf. Bei ihr konnten Forscher beobachten, dass sie in Trockenzeiten ihren Kopf manchmal mehr als eine Stunde lang in eine Pfütze oder einen Tümpel steckt und unter Wasser hält. Was dahintersteckt, haben Yuen Ip von der National University of Singapore und seine Kollegen herausgefunden.
Hinter dieser Verhaltensweise steckt eine ungewöhnliche Art, Urin loszuwerden: Die Weichschildkröte gibt in der Zeit, in der sie ihren Kopf ins Wasser steckt, Harnstoff über die Mundschleimhäute ab – sie uriniert gewissermaßen über ihren Mund. Die Nieren, die bei den meisten Tieren die Entsorgung dieses Abfallstoffs übernehmen, seien dagegen kaum beteiligt, so die Wissenschaftler.
Überlebensförderliche und bizarre Verhaltensweisen
Erfolgsstrategien der Schildkröten
Bei den Schildkröten haben sich im Laufe der Zeit nicht nur körperliche Anpassungen ausgebildet, sondern auch zahlreiche, teils bizarre, Verhaltensweisen entwickelt, durch die sie an ihre verschiedenen Lebensräume perfekt angepasst sind.
Überall angepasst
Bis auf die Polargebiete und die Hochgebirge besiedeln Schildkröten alle Kontinente und Ozeane, ob gemäßigte, tropische oder subtropische Klimazonen. Das Überleben verdanken die wechselwarmen Tiere dabei ihrer kaum anspruchsvollen Lebensweise: Schildkröten leben im Wasser und an Land. Vor allem die Landschildkröten sind dabei an verschiedene klimatische Bedingungen angepasst und können bei wechselnden Jahreszeiten in nördlichen Gefilden in eine Kältestarre oder einen Winterschlaf verfallen, wenn es im Herbst kalt wird.
Zudem können Schildkröten lange Zeit ohne Nahrung auskommen. Bei manchen Spezies haben sich zusätzlich besonders raffinierte Fangmethoden entwickelt. Zum Beispiel besitzt die im Wasser lebende Geierschildkröte (Macrochelys temminckii) einen kleinen roten Zungenfortsatz, den sie aus ihrem Mund streckt und leicht bewegt, wenn sich ein Fisch nähert. Dieser verwechselt den Zungenfortsatz leicht mit einer Beute wie Würmern und schwimmt darauf zu, sodass die Geierschildkröte schnell zuschnappen kann.
Ebenso hat auch die Fransenschildkröte (Chelus fimbriata) eine eigene Jagdtaktik: Mit grünen Algen bewachsen lebt sie gut getarnt am Meeresgrund und versteckt sich so vor ihrer Beute. Nähert sich etwa ein Fisch, reißt sie ihren riesigen, tief gespaltenen Rachen weit auf, sodass ein gewaltiger Sog entsteht, der die Beute zu ihr zieht.
Eine besonders verblüffende Jagd zeigt sich zudem bei einer auf den Seychellen lebenden Riesenschildkröte: Justin Gerlach von der University of Cambridge und seine Kollegin Anna Zora von der Frégate Island Foundation haben sie dabei gefilmt, wie sie einen jungen Vögel jagt und tötet – ein für Schildkröten nie zuvor dokumentiertes Verhalten. Das Reptil stapft gezielt mit aggressiv geöffnetem Maul zu dem Jungvogel, beißt zu und vertilgt das Küken anschließend.
Ausgeklügelte Fortpflanzungsstrategie
Auch in ihrer Fortpflanzung sind Schildkröten anpassungsfähig: Sind zum Beispiel die Witterungsbedingungen schlecht, kann sich der Schlupf der Nachkommen hinauszögern und so mehr Nachkommen das Überleben sichern. Zudem sind die Weibchen der gepanzerten Vierbeiner auch nicht ständig auf neue Paarungen angewiesen: Zur Paarungszeit werden die Weibchen zunächst gezielt von den Männchen umworben, teilweise aber auch mit Bissen und Rammstößen gegen den Panzer eingeschüchtert.
Dann folgt die Begattung, bei der die Männchen von hinten auf die Weibchen aufreiten und ihren Schwanz unter die Schale des Weibchens biegen. Auf diese Weise wurden nachweislich auch schon vor rund 50 Millionen Jahren Schildkrötenweibchen begattet, wie Fossilienfunde im Ölschiefer der Grube Messel zeigten. Nach der Begattung bleiben die weiblichen Schildkröten einiger Arten, wie die der Griechischen Landschildkröte (Testudo hermanni), befruchtungsfähig. Denn sie speichern den männlichen Samen und können so auch nach Jahren noch befruchtete Eier legen, ohne erneut kopulieren zu müssen.
Brut läuft selbstständig
Zusätzlich haben sich bei der Schildkröten-Brut vorteilhafte Verhaltensweisen entwickelt: Nicht nur Landschildkröten, sondern auch Meeresschildkröten legen ihre Eier immer an Land ab. Bei Letzteren legt das Weibchen dafür häufig lange Wanderungen zurück, um zu einer geeigneten Eiablagestelle zu gelangen. Wurde einmal ein Ort mit passender Sonnenlage sowie Bodenbeschaffenheit gefunden, der auch sicher vor Überschwemmungen ist, merken sich die Tiere diese Stelle und können dank ihres guten Orientierungssinns über viele Jahre diesen Standort zur Brut aufsuchen.
Das Ausbrüten der bis zu 200 Eier überlassen die Schildkröten der Sonne, die auch über das Geschlecht der Tiere entscheidet: Je mehr Sonne die Eier abbekommen, desto eher schlüpfen aus ihnen Weibchen. Denn Wissenschaftler haben herausgefunden, dass bei niedrigeren Temperaturen überwiegende Mengen an Testosteron für die Entwicklung von Männchen sorgen. Bei rund 32 Grad Celsius wird hingegen das Enzym Aromatase aktiviert, das Testosteron in das weibliche Geschlechtshormon Estradiol umwandelt. Die Folge: Es entstehen Weibchen.
Unsoziales Verhalten zum Eigenschutz
Die Muttertiere können nach dem Vergraben wieder in ihr sichereres, gewohntes Umfeld zurückkehren. Haben sich die Jungtiere vollständig entwickelt, sind geschlüpft und haben den Dottersack aufgebraucht, wagen es häufig alle Jungtiere gemeinsam, ihre Brutstätte zu verlassen. Dadurch wird die Chance, von Fressfeinden erwischt zu werden, minimiert. Dabei hasten sie kollektiv nur nachts ins Meer und orientieren sich am Mondlicht, um den schnellsten Weg dorthin zu finden.
Doch trotz der gemeinsamen Reise ins Wasser lauern sowohl an Land als auch im Meer viele Gefahren auf die kleinen Schildkröten – von Raubmöwen bis hin zu Raubfischen. Nur wenige kommen durch. Wie rentiert sich da das unsoziale Verhalten der Eltern? Statt persönlicher Betreuung setzen Schildkröten auf ihren eigenen Schutz – und auf Masse. Um die Verluste an Nachwuchs auszugleichen, legen sie bis zu 3.000 Eier in ihrem Leben. So garantieren die gepanzerten Vierbeiner, dass wenigstens ein paar Nachkommen die Geschlechtsreife erlangen und selbst zur Arterhaltung beitragen.
Die Fortbewegungsstrategien der Schildkröten
Möglichst energiesparend zum Ziel
Schildkröten gelten nicht nur als enorme Anpassungskünstler, sondern auch als wahre Energiesparer – und trotzdem legen sie enorme Distanzen zurück.
Langsam lebt’s sich lange
Die gepanzerten Kriechtiere bewegen sich an Land mit für Reptilien typischen, schlängelnden, langsamen Bewegungen fort. Diese Art der Fortbewegung senkt den Energiebedarf. Derart können Schildkröten weite Entfernungen zurücklegen, wie Stephen Blake vom Max-Planck-Institut für Ornithologie und sein Kollege Washington Tapia vom Galapagos-Nationalpark nachgewiesen haben.
Sie statteten Galapagos-Schildkröten (Chelonoidis nigra) mit GPS-Sendern und 3D-Beschleunigungsmessern aus. Diese erlaubten es den Forschern, die genaue Position und das Wanderverhalten der riesigen Reptilien zu bestimmen. Die GPS-Daten kombinierten sie mit Temperaturangaben und Informationen über den Zustand der Vegetation sowie ihren Beobachtungen der Tiere, um ein Bild der Gesamtpopulation und ihre Bewegungen zu erhalten.
Das Ergebnis: Insbesondere die größeren, erwachsenen Exemplare unternehmen eine Wanderung von bis zu zehn Kilometern. Sie zieht es dabei vor allem in die Hochlagen, wobei die erwachsenen Weibchen zunächst bis zur Eiablage im Tiefland bleiben. Die kleineren Schildkröten dagegen bleiben das ganze Jahr über in den niedriger gelegenen Gebieten, vermutlich weil sie auch dort genug Nahrung finden. Das Wanderungsmuster der Schildkröten unterscheidet sich damit von dem anderer Tierarten. Denn bei diesen vollziehen in der Regel die Jungtiere saisonale Wanderungen. Die dominanten erwachsenen Männchen können sich dagegen am ehesten gegen Konkurrenten behaupten und müssen somit nicht fortgehen, um zu überleben.
Weite Entfernungen mit biologischem Sinn
Auch Meeresschildkröten bewegen sich unter geringem Energiebedarf fort: Sie nutzen ihre perfekt an das Schwimmen angepassten Anatomie. Dafür schlagen sie die vorderen flossenähnlichen Gliedmaßen auf und ab und gleiten mit ihrem stromlinienförmigen Panzer durchs Wasser. Auf diese Weise können manche Arten mehrere hundert Meter tief tauchen – und dabei stundenlang ohne neuen Sauerstoff auskommen. Möglich wird dies durch die Verlangsamung ihres Herzschlages.
Ihre energieeffiziente Fortbewegung ermöglicht es den Wasserschildkröten auch, weite Entfernungen zurückzulegen. Ein Extrem stellt in dieser Hinsicht das Verhalten der Unechten Karettschildkröte (Caretta caretta) dar. Vertreter dieser Art schwimmen tausende von Kilometern, um ihre Eier wieder an den Ort ihrer eigenen Geburt abzulegen.
Diese extreme Ortstreue hat einen biologischen Sinn. Denn laut Evolutionsbiologen des GEOMAR Helmholtz Zentrums für Ozeanforschung Kiel vererben die Mütter ihrem Nachwuchs genau die Immun-Ausstattung, die diesen am besten vor den Parasiten und Erregern an ihrem Geburtsort schützt. Inzucht gibt es aber trotzdem nicht, da die Schildkröten-Männchen weniger ortstreu sind.
Fast wie Fische
Neben den Langstreckenschwimmern, gibt es unter den Meeresschildkröten auch Langzeittaucher: So zum Beispiel die Cantors Riesen-Weichschildkröte (Pelochelys cantorii). Sie verbringt 95 Prozent ihres Lebens vergraben und bewegungslos in Seen, wobei nur ihre Augen und ihr Mund aus dem Sand ragen. Zweimal am Tag taucht sie auf, um Luft zu holen oder Beutetiere zu jagen.
Noch bizarrer verhalten sich Moschusschildkröten (Sternotherus odoratus): Sie können rund sechs Monate lang unter Wasser leben, ohne aufzutauchen. Wie das funktioniert, hat ein Team um Egon Heiss vom Department für Theoretische Biologie der Universität Wien enthüllt.
Demnach kann die Moschusschildkröte anders als viele Amphibien oder etwa die Weichschildkröten (Trionychidae) nicht mit der Haut atmen. Denn ihre Haut ist dick und verhornt und es befinden sich kaum Gefäße darunter. Stattdessen liegen im Mund- und Rachenraum der Schildkröte Papillen – lappenförmige, von Blutgefäßen durchzogene Oberflächenstrukturen, die den im Wasser enthaltenen Sauerstoff aufnehmen und Kohlendioxid abgeben.
Bis ins hohe Alter
Aufgrund ihrer Anpassungen können Schildkröten ein hohes Alter erreichen: Bei den meisten Arten werden die Tiere zwischen 40 und 100 Jahren alt. Das älteste bekannte Exemplar – Adwaita aus Indien – soll sogar rund 255 Jahre alt geworden sein. Das hohe Alter ist auch der Grund, warum Schildkröten in einigen Religionen als Symbol der Unsterblichkeit angesehen werden.
Mangelnder Lebensraum, Klimawandel und der Mensch
Schildkröten in Gefahr
Obwohl sie Massensterben, Eiszeiten und Naturkatastrophen überstanden haben und bis heute vielfältige Anpassungen aufweisen, sind Schildkröten nicht gegen jede Bedrohung gewappnet.
Wandel der Lebensräume
Viele Land- und nahezu alle Meeresschildkröten sind in ihren Beständen gefährdet, einige sogar vom Aussterben bedroht. Ein Grund dafür sind die Veränderungen des Klimas: Zum Beispiel hat ein Forschungsteam von Greenpeace herausgefunden, dass sich die Erwärmung der Ozeane negativ auf die Fortpflanzungsfähigkeit von Meeresschildkröten auswirkt.
Und auch die Geschlechterverteilung der Meerestiere könnte sich durch den Klimawandel verändern. Denn da das Geschlecht der Jungtiere durch die Temperatur des Nestes im Sand bestimmt wird, werden mehr Weibchen geboren, wenn der Strand besonders warm ist. Das könnte bei weiter ansteigenden Temperaturen dazu führen, dass vielerorts nur noch weiblicher Nachwuchs geboren und die Fortpflanzungsrate der Schildkröten so langfristig dezimiert wird. Zudem hat das veränderte Klima zur Folge, dass der Meeresspiegel steigt und damit zukünftig womöglich häufiger die Nistplätze an den Sandstränden von Überschwemmungen bedroht sind, sodass Schildkröteneier zerstört werden.
Zum Fressen gern
Zusätzlich sind viele Schildkröten aufgrund der klimatischen Veränderungen in ihren Lebensräumen neuen tierischen Feinden ausgesetzt. Zum Beispiel ist der Waschbär aus Nordamerika in Westeuropa eingewandert und wird insbesondere für Sumpfschildkröten zu einem neuen Fressfeind.
Auch einige zuvor für Schildkröten ungefährliche Tiere sind heute zu Fressfeinden geworden: Im Jahr 2019 haben Simone Pika von der Universität Osnabrück und ihre Kollegen im Loango Nationalpark in Gabun überraschende, bisher unbekannte Räuber von Schildkröten beobachtet. Schimpansen jagten nach den gepanzerten Tieren und knackten die Panzer der Schildkröten auf, indem sie die schützende Schale am Bauch der Schildkröte immer wieder gegen eine harte Oberfläche schlugen.
Der Mensch als größter Feind
Die wohl größte Gefahr für die gepanzerten Reptilien geht aber vom Menschen aus: Er sorgt dafür, dass viele Lebensräume der Reptilien schrumpfen – etwa durch den Städtebau oder wenn Dämme und Reusen in Flüsse gebaut oder Sümpfe und Feuchtgebiete trockengelegt werden, in denen die Tiere heimisch sind.
Häufig durchschneiden auch Straßen die Habitate der Schildkröten und führen zu hohen Opferzahlen, wobei gerade trächtige Weibchen auf der Suche nach einem geeigneten Nistplatz am meisten betroffen sind. Zudem sorgen Flussbegradigungen und Kanalisierungen für einen Verlust an Plätzen zum Nisten und Sonnen. Zusätzlich vergiften etwa in der Landwirtschaft genutzte Insektizide und Herbizide die Tiere oder vernichten ihre Nahrungsgrundlage.
Lebensraum verschmutzt
Und auch die Lebensräume, die für Schildkröten noch übrig sind, bergen vom Menschen verursachte Gefahren. So sind beispielsweise die Niststrände und Ozeane so sehr von Plastik kontaminiert, dass Meeresschildkröten immer weniger Plätze zum Nisten finden und häufig Plastikteile fressen. Beispielsweise können Lederschildkröten den im Wasser treibenden Kunststoffmüll nicht von ihrer Nahrung wie etwa Quallen unterscheiden und verenden so an unverdaulichen Plastiktüten. Hinzu kommt, dass die Industrie Abwasser in die von Wasserschildkröten bewohnten Gewässer leitet. Die Tiere verlieren dadurch oft ihre Nahrungsgrundlage oder gar den Lebensraum.
Auch die Lichtverschmutzung wird einigen Meeresschildkröten zum Verhängnis: An Stränden, an denen die Muttertiere ihre Eier legen, werden immer häufiger beispielsweise Hotelanlagen gebaut. Ihre Lichter können den Schlüpflingen, die sich auf ihrem Weg zum Meer üblicherweise nachts am Mond orientieren, die falsche Richtung weisen. Eine weitere Gefahr stellt der Schiffsverkehr dar: An einem der Hauptbrutgebiete, dem indischen Strand Orissa, fanden in einer einzigen Brutsaison schätzungsweise 20.000 durch Schiffsschrauben verletzte Tiere den Tod.
Damit einhergehend ist auch die Bedrohung, die von der industriellen Fischerei ausgeht: Durch sie verenden viele der Meeresschildkröten als Beifang in Treib-, Schlepp- und Fangnetzen. Schätzungen zufolge landen jährlich mehr als 250.000 Tiere ungewollt in den Netzen und Leinen von Fischern.
Jagd auf die Panzertiere
Neben der Verschmutzung stellen auch die Jagd und der Handel mit Schildkröten eine enorme Gefährdung dar: Seit Jahrhunderten werden die Panzertiere gejagt, weil ihr Fleisch und ihre Eier in manchen Kulturen als Delikatesse gelten und das Schildpatt aus ihrem Panzer als Glücksbringer oder für Schmuckstücke genutzt wird. Zwar ist der Handel mit Schildkröten in vielen Ländern verboten und einige Arten stehen unter strengem Schutz, doch in manchen Regionen oder auf dem Schwarzmarkt sind Schildkröten weiterhin beliebte Ware.
Mancherorts noch ausgeprägter als der Handel und Schmuggel mit den gepanzerten Reptilien ist der Tourismus: Nach Berechnungen des WWF lässt sich mit Meeresschildkröten-Tourismus, also beispielsweise touristischen Beobachtungstouren, fast dreimal mehr Geld verdienen als durch den Handel mit Schildpatt, Schildkrötenfleisch und -eiern.
Schutzmaßnahmen dringend nötig
Um Schildkröten an Land wie im Wasser zu schützen, braucht es deshalb wirksame Schutzmaßnahmen. Neben Artenschutzabkommen, die den Handel mit den Reptilien unterbinden, ist hierzulande für Schildkröten-Halter ein Reptilienpass mit Fotos der unverwechselbaren Panzermaserung verpflichtend.
Auch gibt es weltweit aktive Artenschutzprojekte für Schildkröten: Zum Beispiel wird der Schutz und die Wiederansiedlung der heimischen Sumpfschildkröte in Deutschland unter anderem an der Naturschutzstation Rhinluch in Brandenburg betrieben. Solche Projekte können aber nur wirksam sein, wenn auch die Gefahrenquellen nachhaltig eingedämmt werden.