Warum die älteste Schrift Europas noch immer unentziffert ist
Das Geheimnis der Minoer-Schriften
Die von den Minoern entwickelte Linearschrift A ist die älteste Schrift Europas – schon vor 4.000 Jahren zierten ihre Zeichen Tontäfelchen, Schmuck und Opfergaben. Doch welche Bedeutung diese Zeichen hatten und in welcher Sprache die Minoer kommunizierten, ist bis heute ungeklärt. Hypothesen dazu gibt es zwar viele, alle Versuche einer Entzifferung scheiterten aber bisher.
Die Minoer waren die erste Hochkultur Europas: Schon um 2.500 vor Christus errichteten sie erste Palastanlagen auf Kreta und dominierten mit ihrer Flotte das gesamte östliche Mittelmeer. In dieser Zeit schufen die Minoer zwei verschiedene Schriftsysteme, eine Hieroglyphenschrift und die abstraktere Linearschrift A. Doch keine der beiden Schriften ist entziffert – und nicht einmal die Sprache der Minoer ist bisher bekannt. Aber warum?
Entdeckungen im Reich des Minos
Mysteriöse Hieroglyphen
Die Minoer sind ebenso legendär wie rätselhaft. Scheinbar aus dem Nichts errichteten sie ab etwa 2.500 vor Christus auf Kreta prachtvolle Paläste wie in Knossos oder Phaistos, schufen einzigartige Kunstwerke und dominierten über Jahrhunderte hinweg den Seehandel im gesamten östlichen Mittelmeer. Doch woher sie kamen und welche Sprache sie sprachen, ist bis heute ungeklärt. Auch der plötzliche Untergang dieser bronzezeitlichen Hochkultur gibt Archäologen Rätsel auf.
Doch das vielleicht größte Geheimnis dieser bronzezeitlichen Hochkultur liegt in ihrer Schrift: Die Minoer entwickelten gleich zwei verschiedene Schriftsysteme – die kretischen Hieroglyphen und die Linearschrift A. Sie gelte als die ältesten Schriften in Europa. Doch beide minoischen Schriften sind bis heute unentziffert. Generationen von Linguisten, Archäologen und Historikern haben bereits versucht, das Geheimnis der minoischen Sprache und Schrift zu enträtseln – vergeblich.
Rätselhafte Piktogramme
Einer der ersten und bekanntesten Erforscher der minoischen Schriften war der britische Archäologe Arthur Evans. Er bereiste schon im Jahr 1894 die Insel Kreta und suchte dort nach Hinweisen auf eine bis dahin noch unentdeckte minoische Kultur. Immer wieder stieß er dabei auf Keramikscherben und Siegelsteine, die mit rätselhaften Zeichen verziert waren. Diese alten Siegel wurden von den heutigen Bewohnern der Insel oft gelocht und als Amulette um den Hals getragen.
Als Evans dann ab dem Jahr 1900 den Palast von Knossos entdeckte und nach und nach freilegte, fand er auch dort weitere Exemplare der rätselhaften Hieroglyphen. Datierungen ergaben, dass die ältesten dieser piktografischen Zeichen schon um 2100 vor Christus entstanden. Ähnlich wie bei der ägyptischen Bilderschrift zeigen sie stilisierte Figuren, Tiere oder halbstrakte Symbole. Evans stellte 1909 ein erstes Inventar der minoischen Hieroglyphen zusammen, in dem er akribisch auflistete, in welchen Kombinationen die Zeichen auftraten und auf welchen Objekten sie gefunden wurden.
Was bedeuten die Hieroglyphen?
Der Archäologe erhoffte sich von seiner Aufstellung mehr Aufschluss über die Bedeutung der Hieroglyphen. Nach ersten Vergleichsanalysen vermutete er hinter einigen wiederkehrenden Zeichenkombinationen offizielle Titel oder die Symbole für minoische Dynastien. „Die personenbezogene Bedeutung wird bei einer der besonders häufig auftretenden Kombinationen dadurch unterstrichen, dass sie auf einem Siegel mit einem charakteristischen männlichen Kopf verknüpft ist. Er könnte das Bildnis eines minoischen Königs sein“, schreibt Evans.
Doch bis heute können Archäologen über die Bedeutung der minoischen Hieroglyphen nur spekulieren. Klar scheint nur, dass die meisten der insgesamt 137 minoischen Hieroglyphen für bestimmte Silben zu stehen scheinen, zehn Zeichen werden als Wortsymbole gedeutet. 23 weitere Symbole stellen vermutlich Zahlenwerte dar. Die Entzifferung der Hieroglyphen wird jedoch dadurch erschwert, dass die meisten Inschriften nur aus einem oder wenigen Zeichen bestehen, typischerweise auf Siegeln oder kleinen Tonbarren. Ihre Bedeutung lässt sich daher nur schwer aus dem Kontext erschließen. Auch eine Art „Rosetta-Stein“ wie bei den ägyptischen Hieroglyphen fehlt.
Ursprung ungeklärt
Ähnlich ungeklärt ist der Ursprung der minoischen Bildschrift: Evans vermutete, dass die Minoer ihre Hieroglyphen zwar eigenständig entwickelt haben, aber bei den Ägyptern abguckten: „Das ägyptische Hieroglyphensystem könnte einen gewissen prägenden Einfluss auf die Minoer gehabt haben“, schreibt der Archäologe. „Ein oder zwei ägyptische Zeichen könnten sogar übernommen worden sein“. Diese Beziehung konnte aber bisher weder bestätigt noch widerlegt werden.
Inzwischen werden auch andere Wurzeln der minoischen Hieroglyphen diskutiert: So gibt es ebenfalls Ähnlichkeiten mit bronzezeitlichen Bildschriften der Hethiter und Zyprioten. Einige Forscher vermuten deshalb, dass alle Hieroglyphen dieser frühen Kulturen auf einen gemeinsamen Vorfahren zurückgehen – eine Art Ur-Bildschrift des Nahen Ostens, deren Spuren nicht erhalten geblieben sind. Aber auch dies ist bisher kaum mehr als Spekulation.
Die Entdeckung der Linearschrift A
Geritzte Zeichen
Die Kultur der Minoer hat nicht nur die rätselhafte Hieroglyphenschrift hervorgebracht, die Menschen im bronzezeitlichen Kreta entwickelten auch ein zweites, deutlich abstrakteres Schriftsystem: die Linearschrift A. Diese wurde zeitweise parallel zu den Hieroglyphen genutzt und gilt als die älteste echte Schrift Europas. Ihre meist in säuberlichen Linien angeordneten Zeichen finden sich ab 1900 vor Christus überall im Einflussgebiet der minoischen Kultur.
Geritzt, nicht gedrückt
Anders als die minoischen Hieroglyphen ist Linear A weniger piktografisch und ähnelt in ihren von Strichen und Kurven dominierten Zeichen eher den Vorformen des Alphabets oder den Keilschriften Mesopotamiens. Während letztere aber mit der Kante eines Stäbchens in feuchten Ton eingedrückt wurde, ritzten die minoischen Schreiber ihre Schrift in den Schreibuntergrund. „Diese linearen Zeichen finden sich auf Ton ebenso wie auf Stein“, berichtet der britische Archäologe Artur Evans im Jahr 1909.
Inschriften mit Linearschrift A wurden auf kleinen, offenbar zur Buchhaltung verwendeten Tontäfelchen gefunden, aber auch in Höhlenheiligtümern oder den großen Palästen von Phaistos und Knossos. In einem der Räume von Knossos stieß Evans zwischen zahlreichen Siegeln mit Hieroglyphen auf ein besonderes Beispiel dieser Schrift: „Zwischen ihnen lagen zwei Schalen, die auf ihrer Innenseite rundherum in Tinte mit diesen linearen Zeichen beschrieben waren“, berichtet er. „Diese Zeichen wurden offenbar vor dem Brennen der Tongefäße mit einer Rohrfeder geschrieben.“
Zeichen für Silben und Wörter
Inzwischen sind rund 1.362 Funde mit Linearschrift A bekannt. Die meisten von ihnen stammen aus Kreta, aber auch auf einigen Inseln der Ägäis, auf dem griechischen Festland, in der Levante und an der Westküste der Türkei wurden vereinzelt Linear-A-Inschriften entdeckt. Je nach Region weisen diese Funde teilweise deutliche Eigenheiten und Variationen auf. „Es gibt daher guten Grund zu der Annahme, dass es damals provinzielle oder koloniale Formen der Schrift gab, die wir heute noch nicht kennen“, schrieb Evans. „Dabei könnten lokale Schreiber bestimmte Zeichen primitiver Vorformen anderen vorgezogen und so ihr Überdauern gefördert haben.“
Die dokumentierten Zeichen gliedern sich in rund 70 Silbenzeichen und rund 100 Zeichen, die wahrscheinlich für ganze Wörter stehen, sowie Verbindungsmarker. Das zumindest schließen Linguisten aus der Zahl und Verteilung der Zeichen. Einige dieser Schriftzeichen gelten dabei als Kernbestandteil der Linearschrift A: Diese Zeichen sind aus allen Linear-A-Funden bekannt und wurden in verschiedenen Fundstätten auf Kreta und den ägäischen Inseln gefunden.
„Im Moment wissen wir aber noch nicht, wie viele Zeichen tatsächlich als Kernzeichen gewertet werden können“, erklärt die Archäologin Ester Salgella von der University of Cambridge. Sie geht von rund 80 solchen Basissymbolen aus. Zusätzlich existieren ortsspezifische Zeichen, die jeweils spezifisch für nur einen Fundort zu sein scheinen.
Dezimalsystem mit Brüchen
Außerdem gibt es in der minoischen Schrift noch Gruppen von Strichen und Kreisen, die als Zahlenzeichen gewertet werden. Auf Grundlage dieser Zeichen und ihrer Anordnung gehen Archäologen davon aus, dass die Minoer zum Rechnen ein Dezimalsystem nutzten. Dabei scheinen Zehnerwerte mit waagerechten Strichen oder Punkten gekennzeichnet zu sein, Hunderter mit Kreisen und Tausender mit von Strichen umgebenen Kreisen.
Im Jahr 2020 hat ein Team um Michele Corazza von der Universität Bologna zudem herausgefunden, wie die Minoer Dezimalbrüche zum Rechnen und für Mengenangaben verwendeten. „Linear A umfasst 17 Zeichen, die für Bruchzahlen zu stehen scheinen“, erklären sie. Die Bruchzahlen bestehen aus dreieckigen oder halbkreisförmigen Grundzeichen, die durch einen oder mehrere Punkte ergänzt sind. Lange war jedoch unklar, welches System hinter den Bruchsymbolen steckt. Erst eine computergestützte Auswertung enthüllte das Grundprinzip dieser Notation.
Doch abseits des Zahlensystems bleibt die Linearschrift A bis heute ein Rätsel. Was aber macht ihre Entzifferung so schwierig?
Rätsel um Sprache und Herkunft der Minoer
Dunkle Ursprünge
Bis heute hat die minoische Linearschrift A ihr Geheimnis bewahrt: Trotz mehr als einem Jahrhundert der Entzifferungsversuche ist es Wissenschaftlern bisher nicht gelungen, diese Schrift zu lesen und zu verstehen.
Einer der Hauptgründe dafür: Wir wissen nicht, welche Sprache die Minoer nutzten oder zu welcher der großen Sprachfamilien ihre Sprache gehörte. Selbst den Namen, den sich die Angehörigen dieser ersten europäischen Hochkultur selbst gaben, kennen wir nicht. „Minoer“ taufte sie erst der britische Archäologe Arthur Evans um 1900. Er war angesichts der in den Palästen entdeckten Fresken mit Stiermotiven überzeugt, dass dies die Kultur des aus griechischen Sagen bekannten König Minos gewesen sein müsse.
Woher kamen die Minoer?
„Wenn wir die Sprache hinter Linear A kennen würden, dann könnte uns das auch einen Hinweis auf die Herkunft dieser Kultur geben“, erklärt Ester Salgarella von der University of Cambridge. „Wer waren diese Besiedler von Kreta? Wo kamen sie her?“ Bekannt ist nur, dass die Bevölkerung der Insel vor rund 5.000 Jahren plötzlich stark zunahm – möglicherweise durch die Ankunft neuer Siedler. Kurz darauf entstanden die ersten größeren Bauten und Paläste. Die zuvor bäuerliche Kultur Kretas wandelte sich zu einer komplexen und fortschrittlichen Hochkultur.
Arthur Evans und einige andere Historiker vermuteten, dass dieser Entwicklungsschub auf Flüchtlinge aus Ägypten oder einer der anderen frühen Hochkulturen des Nahen Ostens zurückging. „Er begründete dies mit auffallenden Ähnlichkeiten zwischen der minoischen und ägyptischen Kunst“, erklärt Jeffery Hughey vom Hartnell College in Kalifornien. Auch in der Hieroglyphenschrift und den Bestattungsformen gab es Übereinstimmungen, so ähnelten die Rundgräber der frühen Minoer stark den damals im Nahen Osten üblichen Grabbauten.
Im Jahr 2013 wurde diese Hypothese jedoch durch DNA-Analysen widerlegt: Das Erbgut von Toten aus der Zeit der Minoer zeigte keine Übereinstimmungen mit Populationen aus Nordafrika oder der Levante. Allerdings ließ sich das Erbgut auch keiner anderen Population der Bronzezeit eindeutig zuordnen. Bis heute ist daher strittig, wo die Wurzeln der Minoer lagen.
Eine unbekannte Sprache
Dadurch bleibt die Sprache die Minoer im Dunkeln – hier beißt sich die Katze in den Schwanz: Ohne Sprache lässt sich die Linearschrift A nicht entschlüsseln. Wenn man aber weder die Schrift lesen kann noch die kulturellen Wurzeln eines Volks kennt, macht es dies fast unmöglich, ihre Sprache zu rekonstruieren. Der Archäologe Brent Davis von der University of Melbourne vergleicht die Herausforderung mit einem Gang über ein Drahtseil, das an einem Ende frei in der Luft hängt: „Das ist extrem schwierig und erfordert einen Akt des Glaubens bei jedem Schritt.“
Bis heute können Forschende nur spekulieren, zu welcher Sprachgruppe das Minoische einst gehörte. Einige halten es für eine semitische Sprache, andere vermuten dahinter eine archaische Form des Phönizischen oder Etruskischen. Auch eine Verwandtschaft zu kleinasiatischen Sprachen wird diskutiert.
Es gibt aber auch Archäologen, darunter Davis, die das Minoische für eine isolierte, keiner der großen Sprachfamilien angehörende Sprache halten – ähnlich wie heute das Baskische. Dieser Hypothese nach hat die minoische Sprache ihre Wurzeln bei den steinzeitlichen Ureinwohnern der Insel Kreta und entwickelte sich dort weitgehend unabhängig von den Sprachen der umliegenden Völker. Im Laufe der Zeit übernahmen die Minoer dann zwar Lehnwörter aus anderen Kulturen, ihre Sprache blieb aber einzigartig – so die Annahme.
Aber auch das ist bisher nur eine Hypothese von mehreren, eindeutige Belege dafür fehlen. Klar scheint nur, dass es sich bei der minoischen Sprache wohl nicht um eine Frühform des Griechischen handelt. „Das macht es viel schwieriger, sie zu enträtseln, wenn auch nicht unmöglich“, sagt Davis.
Denn Archäologen und Linguisten haben noch ein Ass im Ärmel…
Die Entzifferung der Linearschrift B
Ähnlich und doch ganz anders
Als der Archäologe Arthur Evans vor gut hundert Jahren die auf Kreta entdeckten Schriftzeichen und Symbole katalogisierte, fiel ihm bei den Linearschriften etwas auf: Neben den meist kurzen Zeichenfolgen der Linear A gab es – vor allem im Palast von Knossos – offenbar noch ein zweites System linearer Zeichen.
„Zu dieser Klasse gehört die Mehrheit der Tontafeln, die in den Räumen und Vorratslagern der Gebäude entdeckt wurden“, berichtet Evans im Jahr 1909. „Sie repräsentieren eine Form der Schrift, die zur Zeit des katastrophalen Niedergangs dieser Kultur verwendet wurde, um das 15. oder frühe 14. vorchristliche Jahrhundert herum.“ Ähnlich wie bei Linear A scheint es sich um eine Kombination von Silben- und Wortzeichen zu handeln. Auch einige Zeichen stimmen mit denen der Linearschrift A überein.
Mykener statt Minoer?
Allerdings gibt es auch viele abweichende Zeichen und ihre Abfolge erscheint fundamental verschieden. Generell erscheint die Linear B weiter entwickelt: Die Zeichen sind einfacher, einheitlicher und wirken in ihrer Form und Anordnung „europäischer“, wie Evans es ausdrückte. Auf den ersten Blick scheint es daher naheliegend, dass die Linear B eine Weiterentwicklung der älteren Linear A darstellt. Doch der Archäologe hat daran seine Zweifel: Zwar wurden beide Linearschriften offensichtlich im minoischen Kreta verwendet, dennoch vermutet er hinter Linear B mehr als nur einen simplen Abkömmling von Linear A.
Dies sollte sich bestätigen: Wie sich zeigt, kommt Linear B keineswegs nur auf Kreta vor, sondern sogar noch häufiger in den Zentren der mykenischen Kultur – dem auf dem griechischen Festland entstandenen Reich, das die Ära der Minoer im östlichen Mittelmeerraum ablöste. In Mykene, Sparta und der mykenischen Königsstadt Tyrins haben Archäologen zahlreiche Tontafeln und andere Objekte mit Linearschrift B entdeckt. Einige dieser Inschriften entstanden sogar vor den ältesten Linear-B-Funden aus Kreta.
Alice Kobers Tripletts
Doch auch bei Linear B bleibt zunächst unklar, zu welcher Sprache diese Zeichen gehören und was sie bedeuten. Das ändert sich erst in den 1930er Jahren, als sich die US-amerikanische Historikerin Alice Kober der Linear B annimmt. Fasziniert von dieser frühen Schrift und ihrer rätselhaften Geschichte, beginnt sie in ihrer Freizeit, die Zeichenfolgen systematisch auf kleinen Kärtchen zu katalogisieren. Sie entwickelt dabei ein Verfahren, durch das sie nachvollziehen kann, welche Symbole in welchen Zusammenhängen auftauchen und wie.
Dabei macht Kober eine entscheidende Entdeckung: Einige Zeichen bilden Gruppen, bei denen die ersten beiden Symbole gleich bleiben, das dritte aber verändert oder ausgetauscht ist. Auf Basis ihres linguistischen Vorwissens vermutet Kober, dass es sich dabei um Wörter handelt, deren Ende grammatikalisch gebeugt wurde – je nachdem, ob das Bezugswort weiblich, männlich oder eine Mehrzahlform ist. Damit verraten diese „Kober-Tripletts“, dass Linear B in einer Sprache mit flektierender Grammatik geschrieben sein muss.
Aber welcher? Zu solchen Flexionssprachen gehören die große Gruppe der indoeuropäischen Sprachen, aber auch einige semitische Sprachen. Noch bevor Kober die Frage der Sprache klären kann, stirbt sie mit erst 43 Jahren. Sie hinterlässt mehr als 40 Notizbücher und ihren Katalog aus 200.000 Kärtchen mit Zeichenfolgen in Linear B.
Michael Ventris: Über Ortsnamen zur Entschlüsselung
Kobers Erkenntnisse und ihr Nachlass bilden die Basis für den entscheidenden Durchbruch bei der Entzifferung von Linear B. Dieser gelingt dem jungen britischen Architekten Michael Ventris. Seitdem der sprachbegabte Junge mit 14 Jahren einen Vortrag von Arthus Evans gehört hat, ist er vom Rätsel der minoischen Sprache und Schrift fasziniert. Als junger Mann beginnt er – ebenfalls in seiner Freizeit – sich mit den Zeichenlisten von Alice Kober zu beschäftigen.
Ventris vergleicht die Linear-B-Zeichenfolgen vom griechischen Festland mit den auf Kreta gefundenen Inschriften. Dabei fällt ihm auf, dass bestimmte Symbol-Kombinationen ortspezifisch zu sein scheinen, einige tauchen nur auf kretischen Tafeln auf, andere nur an anderen Fundstätten. Ventris vermutet, dass es sich dabei um Ortsnamen handeln könnte – aber welche?
Durch langwierige Vergleiche, für die er auch Schriftzeichen aus dem benachbarten Zypern hinzuzieht, gelingt es Ventris schließlich, die ersten Orte zuzuordnen: Er identifiziert die Zeichenkombination für Knossos – Ko-no-so – und die flektierten Varianten für männliche und weibliche Bewohner – Ko-no-si-ja und Ko-no-si-jo. Ähnliches gelingt Ventris für andere Ortsnamen. Dadurch kennt er nun die Silbenlaute für die ersten Linear-B-Zeichen – und kann nun nach und nach weitere Zeichenfolgen entschlüsseln. Er entziffert die Zeichen, die für bestimmte Güter wie Wein, Oliven oder Getreide stehen und kann so nach und nach sogar ganze Sätze transkribieren.
Zu seiner großen Überraschung stellt Ventris fest, dass die transkribierten Linear-B-Passagen keineswegs in einer ihm unbekannten Sprache geschrieben sind: „Obwohl es allem widerspricht, was ich in der Vergangenheit gesagt haben, bis ich nun fast vollständig davon überzeugt, dass die Linear-B-Tafeln in Griechisch geschrieben sind“, schreibt er an einen Kollegen.
Nachdem Evans, Ventris und alle anderen Forscher jahrzehntelang davon überzeugt waren, dass Linear B ebenso wie Linear A auf minoisch verfasst sein musste, erweist sich dies nun als Fehlschluss. „Es ist ein schwieriges und archaisches Griechisch, angesichts der Tatsache, dass diese Tafeln 500 Jahre älter sind als Homer“, erklärt Ventris 1952 in einem BBC-Interview. „Sie sind auch in einer ziemlich verkürzten Form geschrieben, dennoch ist es eindeutig Griechisch.“
Inzwischen gehen Archäologen davon aus, dass die Linearschrift B von den Mykenern auf Basis der älteren, minoischen Linear A entwickelt worden ist. Sie nutzten die Zeichen der Minoer, aber notierten damit ihre eigene, frühgriechische Sprache. Als die Macht der Mykener im östlichen Mittelmeerraum zunahm und das Reich der Minoer endete, begannen auch die Menschen auf Kreta, diese Praxis zu übernehmen. Sie behielten ihre gewohnten Zeichen, verwendeten sie nun aber auf andere Weise.
Was aber bedeutet dies für die noch unentzifferte Linearschrift A?
Hoffnung auf einen Rosetta-Stein der Minoer
Das Rätsel bleibt
Auf den ersten Blick erscheint es seltsam, dass die minoische Linearschrift A noch immer nicht entschlüsselt ist. Schließlich hat man inzwischen die scheinbar ganz ähnliche Linearschrift B entziffert und kennt ihre Zeichen und ihre Sprache. Und man weiß, dass zumindest einige Zeichen in beiden Schriften auftauchen.
Phonetisch lesbar, aber unsinnig
Tatsächlich hat der Vergleich beider Schriftsysteme es ermöglicht, einige Begriffe des Linear A zu identifizieren. „Es gibt einige Zeichenfolgen, die in Linear A und B gleich sind, meist handelt es sich dabei um Orts- oder Personennamen“, erklärt Esther Salgella von der University of Cambridge. „Es spricht zudem einiges dafür, dass die übereinstimmenden Zeichen auch gleich oder zumindest ähnlich ausgesprochen wurden.“ Auch von einigen in den Tontäfelchen von Knossos gelisteten Gütern kennt man die phonetische Transkription.
Das Problem jedoch: „Wir können die Linear-A-Inschriften aussprechen, aber das, was dabei herauskommt, klingt wie kompletter Unsinn“, erklärt der Linguist und Archäologe Brent Davis von der University of Melbourne. Zudem zeigen die Vergleiche, dass Linear A sich grammatikalisch in Vielem vom Griechischen der Linearschrift B unterscheidet – unter anderem im Satzbau, wie Davis herausgefunden hat. Denn anders als im Altgriechischen oder Sumerischen nutzten die Minoer in ihrer Sprache nicht die Reihenfolge Subjekt -Objekt – Verb, sondern wahrscheinlich eher den Satzbau Verb-Subjekt-Objekt wie im Altägyptischen.
Ohne neue Funde wird es schwer
Und noch etwas erschwert die Entzifferung der minoischen Linear A: Die Linear-A-Funde sind spärlich und linguistisch sehr unergiebig. Meist handelt es sich um extrem kurze, nur aus wenigen Zeichen bestehende, grammatikalisch stark verkürzte Bestandslisten. „Es gibt keine Funde von erzählenden Texten, diplomatischer Korrespondenz, monumentalen Inschriften oder privaten Briefen“, erklärt Salgella. Das macht es fast unmöglich, näheren Aufschluss über die Sprache von Linear A zu gewinnen oder sie durch kryptografische Methoden zu entschlüsseln
„Mathematiker sagen uns, dass wir 10.000 bis 12.000 verschiedene Textbeispiele benötigen, um Linear A mit solchen Methoden zu knacken“, sagt Davis. Aber bisher wurden nur gut 7.000 Inschriften in Linear A gefunden. „Das sind etwa drei bis vier DINA-4-Blätter voll“, so der Forscher. Hier sei daher die Archäologie gefragt. „Der Satzbau ist schon mal ein Anfang, aber wenn wir die Sprache knacken wollen, brauchen wir einfach mehr Material.“
Wo bleibt der Rosetta-Stein der Minoer?
Noch besser wäre es allerdings, wenn Archäologen einen „Rosetta-Stein“ der Minoer finden würden – eine längere Inschrift, die den gleichen Inhalt einmal in Linear A und einmal in Linear B enthält. Ähnlich wie bei der Entzifferung der ägyptischen Hieroglyphen könnte dies die entscheidenden Hinweise auf die Sprache der Minoer liefern und die Entschlüsselung der rätselhaften Linearschrift A ermöglichen.
„Aber man sollte niemals nie sagen: Es kann gut sein, dass archäologische Feldarbeiten eines Tages ein solches unschätzbar wertvolles Objekt zutage fördern“, sagt Salgella. „Bis dahin sind wir auf unsere Kreativität angewiesen und auf innovative Methoden und Ansätze, um die mageren Funde auszuwerten.“ Salgella und ihr Team sind zurzeit dabei, ein digitales Kompendium aller Zeichen in Linear A zusammenzustellen. Dies soll computergestützte Analysen der Schrift ermöglichen. Vielleicht, so die Hoffnung, gelingt dadurch der entscheidende Durchbruch und das Rätsel der Minoer-Sprache und Schrift wird endlich gelöst.