Wie Rewilding zerstörte Ökosysteme in Europa wiederbeleben kann
Mehr Wildnis wagen
In Europa gibt es kaum noch unberührte Natur. Viele natürliche Ökosysteme sind Straßen, Siedlungen und Feldern gewichen, Tierarten wurden ausgerottet, Moore trockengelegt. Doch zumindest ein Teil soll künftig in seinen Ursprungszustand zurückversetzt werden. Möglich wäre das zum Beispiel mit Rewilding – Hilfe zur Selbsthilfe für geschädigte Ökosysteme.
Europa hat seine Wildnis gezähmt. Die Hälfte des Kontinents ist nicht weiter als 1,5 Kilometer von der nächsten Straße oder Bahnlinie entfernt. Viele einst heimische Tiere wie Wisente und Bären sind vielerorts seit Jahrhunderten verschwunden. Und doch ist noch längst nicht alles verloren. Das Konzept des Rewildings könnte dabei helfen, Europa wieder wilder zu machen und somit aus dem Gleichgewicht geratene Ökosysteme wiederherstellen. Doch was kann Rewilding? Und ist Europa überhaupt bereit für mehr Wildnis?
Rewilding als Hilfe zur Selbsthilfe für Ökosysteme
Emanzipation der Natur
Die Weltgemeinschaft hat Großes vor. Beim UN-Biodiversitätsgipfel im Dezember 2022 haben sich die Verhandlungspartner unter anderem darauf geeinigt, dass 30 Prozent aller geschädigten Ökosysteme bis zum Jahr 2030 wiederhergestellt werden sollen. Im Mai 2020 hatte bereits die Europäische Kommission ihre Biodiversitätsstrategie vorgelegt. Sie verfolgt das Ziel, die biologische Vielfalt Europas wieder auf den Weg der Erholung zu bringen – ebenfalls bis 2030. Doch es bleibt eine wichtige Frage: Wie?
Menschlichen Einfluss löschen
Die Antwort könnte Rewilding sein, eine verhältnismäßig junge Idee aus dem Naturschutz. „Beim Rewilding werden Ökosysteme wiederhergestellt, die zuvor durch menschliche Eingriffe verändert wurden, und zwar unter Verwendung der Pflanzen- und Tierwelt, die vorhanden gewesen wäre, wenn die Eingriffe nicht stattgefunden hätten“, erklärt die Weltnaturschutzunion IUCN.
Wie genau ein solcher menschenfreier „Urzustand“ eines Ökosystems aussieht, ist allerdings in vielen Fällen strittig und eine Frage des Zeitalters, das man dafür betrachtet. Eine allgemeingültige Definition gibt es daher nicht. Rewilding zielt jedoch typischerweise darauf ab, menschliche Eingriffe der Neuzeit rückgängig zu machen. Dazu gehört etwa die Errichtung eines Wehres oder die „kürzliche“ Ausrottung einer Tierart. Würde man in einem Ökosystem wirklich alle menschlichen Einflüsse ausradieren wollen, müsste man dafür wahrscheinlich so weit gehen, Elefanten als Mammutersatz wiederanzusiedeln.
41 Wölfe heilen ein Ökosystem
Ein Paradebeispiel für eine Rewilding-Maßnahme ist die Rückkehr der Wölfe in den Yellowstone-Nationalpark in den USA. Nachdem im Jahr 1926 das letzte bekannte Wolfsrudel im Yellowstone getötet worden war, geriet das Ökosystem aus dem Gleichgewicht. Die Zahl der Wapiti-Hirsche schoss in die Höhe, weil es keine Raubtiere mehr gab, um die Bestände zu regulieren. Sie fraßen zu viele junge Triebe ab, sodass weniger Bäume und Sträucher nachwachsen konnten, was wiederum andere Tierarten beeinträchtigte.
Im Zuge des Rewildings machten die Wildhüter ihren Fehler allerdings wieder gut, indem sie Mitte der 1990er Jahre insgesamt 41 Wölfe im Yellowstone ansiedelten. Die Raubtiere regulierten den Hirschbestand fortan, die Bäume erholten sich, Biber kehrten zurück und legten mit dem neuen Holz Teiche an, die wiederum Lebensraum für Fische, Vögel und Amphibien boten. Rewilding in Bestform.
Die Natur einfach machen lassen
Das Yellowstone-Beispiel verdeutlicht auch eine zentrale Grundannahme des Rewildings: Die Natur kann sich selbst am besten regulieren, wenn man sie denn lässt. In der Regel braucht sie dafür allerdings erst einmal Starthilfe, wie die niederländische Stiftung „Rewilding Europe“ erklärt:
„Manchmal müssen wir anfangs helfend unterstützen und erste grundlegend nötige Bedingungen schaffen – indem wir Dämme und Wehre zurückbauen, um Flüssen wieder ihren natürlichen Lauf zu ermöglichen, indem wir Wildtiermanagement wie Jagd und Fischerei reduzieren, indem wir Naturwälder sich regenerieren lassen, und indem wir Wildtieren eine Rückkehr in Gebiete ermöglichen, aus denen sie aufgrund menschlicher Eingriffe verschwunden waren. Dann sollten wir uns zurückziehen und die Natur Natur sein lassen.“ Also Rewilding als Hilfe zur Selbsthilfe.
Europa muss lernen loszulassen
In Europa ist das Bild vom Naturschutz jedoch häufig noch ein anderes. Zwar haben auch wir unsere Rolle als Problemverursacher und Ökosystemzerstörer verstanden, doch die Lösung dieser Probleme gehen wir vielerorts eher im Stile eines „Anti-Rewildings“ an. Wir verstehen uns eher als Gärtner, der sich um die Natur kümmern, der sie gießen und Unkraut jäten muss, damit sie überlebt. Nicht umsonst gibt es hierzulande die Berufsgruppen des Försters und des Jägers.
Wir versuchen, die zerstückelten Überreste europäischer Natur, die es noch gibt, mit aller Macht zu bewahren. Wir schützen einzelne, vom Aussterben bedrohte Arten und verlieren dabei manchmal das Bild für das große Ganze, dafür dass Biodiversität weit mehr als nur Artenschutz ist, kritisiert Rewilding Europe. „Die Naturschutzarbeit der letzten 30 Jahre – in Europa und weltweit – hat deutlich gemacht, dass der rein bewahrende Schutz der noch vorhandenen Natur einfach nicht ausreicht.“
Doch wie macht man den fein gepflegten „Garten“, den wir in Europa angelegt haben, wieder wild?
Die Grundprinzipien des Rewildings
Kerngebiete, Wildtierkorridore, Schlüsselarten
Ein starkes Zugpferd des europäischen Rewildings ist derzeit die niederländische Stiftung „Rewilding Europe“. Sie hat sich zum Ziel gesetzt, in zehn Regionen Europas mindestens eine Million Hektar Fläche für Rewilding zu sichern. Diese zehn Gebiete liegen unter anderem in Portugal, Schweden, Bulgarien und Italien. Obwohl jedes von ihnen an anderen Stellen „Starthilfe“ benötigt, orientiert sich die Stiftung bei ihrer Arbeit an den Grundprinzipien des Rewildings, den sogenannten 3Cs.
Core: Kerngebiete im Donaudelta
„Rewilding kann auf bestehenden Kerngebieten aufbauen, zum Beispiel auf ausgewiesener Wildnis, Nationalparks oder privat verwalteten Naturgebieten“, erklären Steve Carver von der University of Leeds und seine Kollegen das erste der drei Cs. Diese Kerngebiete („Core“) sollten möglichst groß, zusammenhängend und geschützt sein. Im dicht besiedelten Europa sind sie zwar schwerer zu finden, aber es gibt sie. Eines davon ist das 580.000 Hektar große Donaudelta, das in Rumänien, Moldawien und der Ukraine liegt.
„Als eines der am dünnsten besiedelten Gebiete Europas bietet das Donaudelta eine einzigartige Gelegenheit zur Wiederherstellung eines ganzen Spektrums artenreicher Lebensräume – von offenen Mündungssystemen, natürlich beweidetem Grasland und ausgedehnten Schilfgebieten bis hin zu Süßwassersümpfen, Küstenlagunen, flachen Seen und Flusswäldern“, beschreibt Rewilding Europe das Gebiet. Um seine natürlichen Funktionen wiederherzustellen, renaturiert die Stiftung gerade 40.000 Hektar Feucht- und Landflächen.
Connectivity: Wildtierkorridore im Velebit
Das zweite C bezieht sich auf „Connectivity“, also auf die Vernetzung zwischen Kerngebieten. „Ihre Wiederherstellung fördert die Bewegung und Migration in der gesamten Landschaft und verbessert die Widerstandsfähigkeit gegenüber den Auswirkungen des Klimawandels“, erklären Carver und seine Kollegen. Im kleinen Maßstab findet sich Connectivity hierzulande zum Beispiel beim Errichten von Grünbrücken über Autobahnen, die Waldgebiete miteinander verbinden.
An Connectivity in größerem Maßstab arbeitet Rewilding Europe gerade unter anderem im kroatischen Velebit-Gebirge. Die Stiftung hat dort 30.000 Hektar Jagdgebiete erworben, die zuvor zwei große Nationalparks voneinander getrennt hatten. Durch diesen Wildtierkorridor im XXL-Format sind die beiden Parks nun zu einer einzigen großen Fläche zusammengewachsen.
Carnivores: Rückkehr der Schlüsselarten
Große Raubtiere erfüllen eine wichtige, stabilisierende Funktion im Ökosystem und gelten daher als das dritte C des Rewildings („Carnivores“). Ohne sie bleiben die Wildbestände unreguliert, was sich wiederum in einer Negativkaskade auf viele weitere Bestandteile des Ökosystems auswirkt. Nachdem große Raubtiere wie Wolf, Luchs und Bär in Europa vielerorts schon vor langer Zeit ausgerottet wurden, will das Rewilding sie nun Schritt für Schritt wieder ansiedeln. Nur mit ihnen können Ökosysteme auf Dauer allein klarkommen.
Doch Raubtiere sind nicht die einzigen Tiere, die im Fokus des Rewildings stehen. Vielmehr orientieren sich Auswilderungsprogramme an sogenannten Schlüsselarten. Ebenso wie die Hauptrolle eines Theaterstücks wichtiger für die Handlung ist als die Nebencharaktere, gibt es auch Tierarten, die wichtiger für das Ökosystem sind als andere.
„Wenn die Populationen dieser Schlüsselarten zurückgehen oder verschwinden, gibt es nur sehr wenige oder gar keine anderen Arten, die ihre Rolle übernehmen können“, erklärt Raquel Filgueiras von Rewilding Europe. In der Folge kann ein Ökosystem dann im schlimmsten Fall kollabieren und zu einer leeren Kulisse werden.
Ein Bison für Europa
Eine typische Schlüsselart für europäische Ökosysteme ist der Wisent, auch Europäischer Bison genannt. Indem die Tiere einst durch Europa stapften und mampften, schufen sie charakteristische offene Landschaften. In den 1920er Jahren wurden die letzten wilden Wisente getötet. Ihre Art überlebte nur dank 54 Tieren, die in verschiedenen Zoos gehalten wurden. Mittlerweile streifen aufgrund von Rewilding-Bemühungen wieder 7.000 Wisente durch Europa – zum Beispiel im polnischen Białowieża-Urwald oder in den südlichen Karpaten.
Doch nicht jede Art hatte so viel Glück. So bleiben etwa der Auerochse oder das Tarpan-Wildpferd für immer ausgerottet. Wenn Rewilding-Bemühungen ihre einstigen Funktionen im Ökosystem wiederherstellen wollen, müssen sie stattdessen auf nah verwandte Arten oder nicht-originalgetreue Rückzüchtungen zurückgreifen.
Die sechs Cs
Im Laufe der Zeit ist das 3C-Modell immer wieder erweitert worden. So kam 2014 etwa das Prinzip des Mitgefühls („Compassion”), 2019 das der Koexistenz („Coexistence“) und 2020 das der Klimaresilienz („Climate resilience“) hinzu. Sie sollen daran erinnern, dass beim Rewilding auch das Wohlergehen der ausgewilderten Tiere, ihre Koexistenz mit den Menschen vor Ort und die Klimawandel-Widerstandsfähigkeit eines Ökosystems mit in Naturschutz-Entscheidungen einfließen müssen.
Das Oder-Delta wird wieder wild
Rewilding in Deutschland
Rewilding findet auch direkt vor unserer Haustür statt. 2015 hat Rewilding Europe die Schirmherrschaft über ein 450.000 Hektar großes Projektgebiet im Oder-Delta an der Ostseeküste übernommen. „Das Oder-Delta beherbergt eine Lebensraumvielfalt, die es so in Mitteleuropa kaum noch gibt: Buchenwälder auf Steilküsten, riesige Flussdeltas, Auwälder, ausgedehnte Moore, trockene Heidelandschaften und großflächige Wälder mit Seen reihen sich wie eine Perlenkette rings um die Wasserflächen des Stettiner Haffs“, beschreibt die Deutsche Umwelthilfe das Gebiet.
Wobei braucht das Delta Starthilfe?
Zwar wurden in den vergangenen 25 Jahren bereits große Bereiche der unteren Oder und der Odermündung wieder an die Natur zurückgegeben, doch das Gebiet braucht immer noch an einigen Stellen „Starthilfe“. Ein wichtiger Bereich, an dem das Rewilding-Team arbeitet, ist die Renaturierung der Flüsse Ina und Gowienica, die im polnischen Bereich des Deltas liegen. Die Mitarbeiter sanieren die Ufer, binden Überschwemmungsgebiete wieder an und räumen Hindernisse aus dem Weg, damit verschiedene Fischarten wieder ungestört ihre Wanderungen durchführen können.
Außerdem werden aktuell Küstengebiete auf den Inseln in Vorpommern renaturiert, damit sich Küstenvögel dort besser fortpflanzen können. Die Helfer sind auch an der Ueckermünder Heide und in Trzebiez zugange. Dort vernässen sie einst trockengelegte Moore. Intakte Moore sind ein wichtiger Lebensraum für seltene Tier- und Pflanzenarten und außerdem bedeutsame Senken für Treibhausgase und Nährstoffe.
Den Teppich ausrollen für die Big Seven
Was die Rückkehr verschwundener Tierarten angeht, so siedelt Rewilding Oder Delta keine neuen Tiere an, sondern will stattdessen den noch vorhandenen Populationen auf der polnischen Seite die Ausbreitung nach Deutschland erleichtern. Das Team überwacht also zum Beispiel die Wiederansiedlung der Kegelrobbe und bereitet deutsche Gemeinden auf die Rückkehr von Elch und Wisent vor.
Alle drei gehören zu den Schlüsselarten des Oder-Deltas. Zusammen mit Seeadler, Biber, Wolf und Atlantischem Stör bilden sie die sogenannten „Big Seven“ dieses Gebiets. Sie sind nötig, um das Gleichgewicht des Ökosystems aufrechtzuerhalten.
Neuer Hotspot für Naturtourismus
Parallel zu diesen Vorhaben soll auch der Tourismus im Bereich der Odermündung weiter angekurbelt werden. Geführte Naturreisen zur Beobachtung von Wölfen, Elchen und Adlern sollen künftig noch mehr Besucher ins Delta locken. „Auf diese Weise können lokale Landbesitzer, Unternehmer und Anwohner von den Bemühungen zur Wiederbelebung der Natur und der Wiederansiedlung von Wildtieren profitieren“, erklärt Rewilding Europe.
Wie groß der Nutzen des Rewildings für das Oder-Delta genau ist, untersucht gerade eine dreijährige Studie. Sie soll außerdem Aufschluss darüber geben, ob sich die Region als Modellgebiet eignet und wo sonst in Deutschland Rewilding-Projekte entstehen könnten.
Wenn Renaturierung nach hinten losgeht
Rewilding gone wrong
Ob Rewilding gelingt, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Selbst wenn die drei Cs – Kerngebiete, Wildtierkorridore und Fleischfresser – gegeben sind, kann Rewilding immer noch fehlschlagen. Etwa dann, wenn es Nutzungskonflikte gibt oder die ökologische Situation falsch eingeschätzt wurde. Drei Beispiele für Rewilding, das zwar gut gemeint, aber trotzdem erfolglos war.
Die niederländische Serengeti
Eine 45-minütige Autofahrt von Amsterdam entfernt liegen die Oostvaardersplassen, eine 56 Quadratkilometer große Seenlandschaft, die auch „niederländische Serengeti“ genannt wird. Heckrinder, Konikpferde und Rotwild streifen dort grasend durchs Marschland. Doch der friedliche Anblick trügt, denn das Gebiet gilt als eine der umstrittensten Rewilding-Bemühungen Europas.
Tatsächlich leben all diese großen Pflanzenfresser erst seit 1983 beziehungsweise 1992 in den Oostvaardersplassen – angesiedelt vom niederländischen Ökologen Frans Vera. Sie sollten die Landschaft offenhalten und damit das Ökosystem wiederherstellen, das vor dem Eingreifen des Menschen dort geherrscht hat. Die Heckrinder galten dabei als Ersatz für den ausgestorbenen Auerochsen, die Konikpferde als moderne Entsprechung des Tarpan-Wildpferdes.
Hungertod im Marschland
Zunächst erging es den Tieren in den Oostvaardersplassen gut. Aus anfänglich nicht einmal hundert Pflanzenfressern waren bis 2017 über 5.000 geworden. „Doch der lange und kalte Winter führte dazu, dass 3.226 von ihnen starben, die meisten an den Folgen des Verhungerns“, berichtet Mirjam Hazenbosch von der University of Oxford. Die Tiere hatten mit ihren großen Beständen die Belastungsgrenze des Ökosystems ausgereizt und sich dadurch gewissermaßen die eigene Lebensgrundlage „weggefressen“.
Das massenhafte Sterben der Rinder, Pferde und Hirsche führte zu Protesten der Bevölkerung, denen die Regierung schließlich nachgeben musste. Statt sich wie bislang weitestgehend aus dem Leben der Wildtiere herauszuhalten, wird ihre Zahl nun durch Beschuss reguliert. Doch was genau war schiefgelaufen, dass es überhaupt so weit kommen konnte?
Helen Kopnina von der Hague University of Applied Sciences und ihre Kollegen haben die Vorfälle in den Oostvaardersplassen analysiert und kritisieren, dass das dortige Rewilding entgegen allen Grundprinzipen stattfand: „Die Oostvaardersplassen versagen bei den drei Cs, indem sie Megafauna in ein Gebiet einführten, aus dem sie nicht abwandern kann und in dem es keine großen Fleischfresser gibt“, so das Forschungsteam. Die Bestände blieben dadurch unreguliert und eingepfercht, was letzten Endes zum Leid und Tod der angesiedelten Tiere führte.
Eine Kennzahl für den Erfolg
Während die Fehler des Rewildings in den Oostvaardersplassen deutlich sind, ist es an anderen Orten nicht immer offensichtlich, ob die Renaturierungsmaßnahmen ihren Zweck erfüllt haben oder nicht. Forschende um Josiane Segar vom Deutschen Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) Halle-Jena-Leipzig haben deshalb eine Kennzahl entwickelt, die die Fortschritte des Rewildings in einem Gebiet zusammenfasst.
Dabei fließen einerseits die Meinungen verschiedener Experten ein und andererseits die Auswertung von Satellitendaten der vergangenen zehn Jahre. Der Blick von oben zeigt, wie sehr sich die Umwelt im Zeitverlauf regenerieren konnte, ob die Vegetation etwa dichter geworden ist oder ob sich Flussläufe verändert haben. Segar und ihr Team konnten auf diese Weise bei sieben von Rewilding Europe verwalteten Gebieten ermitteln, ob diese durch die Interventionen tatsächlich „wilder“ geworden waren.
In fünf dieser Gebiete hatte sich die „Rewilding Scores“ im Laufe der Zeit verbessert, in zwei allerdings verschlechtert. In den italienischen Zentral-Apenninen ist der Score am stärksten gestiegen, und zwar um 47,1 Prozent. In den bulgarischen Rhodopen gab es hingegen Einbußen um 13 Prozent, im kroatischen Velebit um 6,7 Prozent.
Erst schießen, dann fragen?
„Der Grund für den großen Erfolg in den Zentral-Apenninen liegt darin, dass die Ausgangslage relativ schlecht war, die Menschen vor Ort das Rewilding jedoch als attraktiven sozioökologischen Prozess betrachtet haben“, erklärt Segar im Interview. Außerdem sei die Großflächigkeit des Gebiets von Vorteil gewesen. In den Rhodopen hingegen habe sich die Landwirtschaft im Laufe der Zeit wieder intensiviert und somit weniger Platz für Wildnis gelassen.
Im Velebit-Gebirge scheiterte das Rewilding nicht nur an menschlichen Einflüssen, sondern auch an menschlichem Widerstand. Die Einheimischen waren größtenteils gegen das Rewilding, mit dramatischen Folgen: „Jedes Mal, wenn eine neue Schlüsselart in die Region gebracht wurde, wurde sie umgehend erschossen. Die Rewilding-Gruppe konnte kein Vertrauen aufbauen, die Leute fühlen sich bedroht“, berichtet Segar.
Gerade das Velebit-Beispiel zeigt eine Besonderheit des Rewildings in Europa. Anders als bei den riesigen Nationalparks in Nordamerika oder Afrika mangelt es hierzulande schlichtweg am Platz für abgelegene Wildnis fernab jeder Zivilisation. Wird eine Landschaft im Rahmen des Rewildings verändert, betreffen diese Maßnahmen auch die Menschen, die dort leben. Eine klare Trennung von Mensch und Wildnis ist vielerorts unmöglich.
Doch funktioniert diese Koexistenz mit einer Naturwelt, die derart fern von unserer aktuellen Lebensrealität in Europa ist?
Wildnissuche auf einem dicht besiedelten Kontinent
Ist Europa bereit für Rewilding?
In Europa ist es schwer, Orte zu finden, die noch nicht von uns verändert wurden. Selbst wer einen Spaziergang auf dem Land macht, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit Stromtrassen, geschotterte Wege, Äcker und bewirtschaftete Wälder vorfinden. Kein Wunder, denn Europa ist einer der am dichtesten besiedelten Kontinente.
Zu hektisch für mehr Natur?
Egal wo in Europa man sich befindet: Die nächste Straße oder Bahnlinie ist im Schnitt nie weiter als zehn Kilometer entfernt, wie eine Studie aus dem Jahr 2020 zeigt. „Intensiv bewirtschaftete landwirtschaftliche Flächen nehmen ebenfalls etwa ein Viertel der Europäischen Union ein und sind für viele Arten als Lebensraum oder zur Durchquerung ungeeignet“, schreiben Néstor Fernández vom Deutschen Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung und seine Kollegen darin.
Für die Natur ist das eine große Herausforderung. Die Tiere, die in ihr leben, müssen mit Lärm, Müll und gefährlichen Straßen umzugehen lernen – oder aussterben. Denkt man zurück an die Grundsätze des Rewildings und dass es große Flächen benötigt, scheint sich Europa auf den ersten Blick nicht für Rewilding zu eignen.
Alte Äcker neu gedacht
Doch der Schein trügt. Einer aktuellen Studie zufolge gibt es in Europa sehr wohl genug Platz für Großwild wie Wisente und Elche. Demnach kämen in Deutschland zum Beispiel die Uckermark, die Mecklenburgische Seenplatte, aber auch Mittelgebirge wie der Harz, Spessart oder Pfälzerwald als Lebensraum für die beiden Tierarten in Frage. Noch stehen ihnen vielerorts allerdings Hindernisse wie Grenzzäune und Autobahnen im Weg.
Der bereits vorhandene Platz in Europa könnte sich in Zukunft außerdem vergrößern, denn weltweit werden aktuell Acker- und Weideflächen aufgegeben und liegen in der Folge brach. „Allein in der Europäischen Union werden im Zeitraum 2015 bis 2030 voraussichtlich elf Prozent (mehr als 20 Millionen Hektar) der landwirtschaftlichen Nutzfläche mit hoher Wahrscheinlichkeit aufgegeben, davon mehr als 70 Prozent Ackerland und 20 Prozent Weideland“, berichten Forschende um Lanhui Wang von der Universität Aarhus.
Unter anderem geben Landwirte ihre Äcker und Weiden auf, weil deren Bewirtschaftung nicht mehr genügend Geld abwirft oder weil die Böden nicht mehr so ertragreich sind. Obwohl die Einzelschicksale in diesem Zusammenhang mitunter tragisch sind, geht diese Entwicklung zumindest für das Rewilding in eine gute Richtung. Die frei gewordenen Landschaften könnten langfristig der Natur übergeben werden, die dort dann ungestört vom Menschen ihre eigenen Wege findet.
Gratis Klimaschutz
Brach liegendes Land und andere Flächen auf diese Weise zu nutzen, wäre jedoch keineswegs eine selbstlose Entscheidung, sondern würde auch dem Menschen zugutekommen. Gebiete, die wieder in Richtung ihres Ursprungszustands steuern, sind nämlich widerstandsfähiger gegen den Klimawandel und helfen sogar dabei, seine Auswirkungen zu reduzieren, so Wang und seine Kollegen.
Wiederverwilderte Landschaften binden zum Beispiel Kohlenstoff, produzieren saubere Luft und tragen zum Erhalt der Artenvielfalt bei. Und das alles im Grund kostenlos, denn sobald ein Ökosystem wieder allein klarkommt, braucht es kaum bis gar keine menschliche Zuwendung mehr, was wiederum auch so gut wie keine Kosten verursacht.
Puffer für Extremwetter
Rewilding macht Landschaften außerdem weniger anfällig für extreme Wettereignisse, was auch uns selbst vor ihnen schützt. Die Renaturierung von Flussauen dient zum Beispiel als Puffer für den Hochwasserschutz. „Daher werden seit Beginn des 21. Jahrhunderts Hochwasserdeiche zurückverlegt, damit das Hochwasser sich wieder in größeren Auenflächen ausbreiten kann und dadurch keine katastrophale Höhe erreicht. Die auf diese Weise wiedergewonnenen Auen sind gleichzeitig wertvolle Trinkwasserspeicher“, erklärt Martin Pusch vom Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei.
Auch Wald- und Grasbrände könnten in der Folge des Rewildings abnehmen. „Es gibt heute Beweise dafür, dass große Pflanzenfresser Brände eindämmen können, indem sie die Menge an Brennstoff reduzieren“, sagt Allison Karp von der Yale University. Denn die Pflanzenfresser weiden den Unterwuchs der Wälder ab und dünnen so das Unterholz aus, das Flammen oft besonders reiche Nahrung bietet. Wisente, Rinder und Pferde wieder anzusiedeln, könnte also das Waldbrandrisiko in Europa senken.
Sind wir mental bereit für die Koexistenz?
Trotz all der Vorteile des Rewildings steht ihm eine große Hürde im Weg und die befindet sich in unseren Köpfen. Wir müssten erst wieder lernen, mit großen wildlebenden Tieren zu koexistieren. Während Wisente und Wölfe für unsere Vorfahren noch alltäglicher Teil ihrer Lebensrealität waren, gehören sie für uns eher in TV-Dokus oder in die amerikanische Prärie. Das Unbehagen gegenüber den tierischen Wiederkehrern zeigt sich hierzulande etwa an der aufgeheizten Debatte über die Rückkehr der Wölfe.
Aber auch ein Vorfall aus dem Jahr 2017 steht symbolisch für die Schwierigkeiten, die Rewilding mit sich bringt. Am 14. September war damals in der Nähe der ostdeutschen Stadt Lebus ein wild lebender Wisent erschossen worden, der von Polen aus die deutsche Grenze überschritten hatte. Besonders tragisch: Er war der allererste Wisent auf deutschem Boden seit rund 250 Jahren.
Doch der Leiter des ansässigen Ordnungsamtes sah in dem Tier eine Bedrohung für die Stadt und hat deshalb örtliche Jäger mit dem Abschuss beauftragt. „Dieses Tier war eindeutig keine Gefahr für den Menschen“, sagt Jonathan Rauhut von Rewilding Oder Delta. „Es ist offensichtlich, dass die deutschen Behörden in Panik gerieten und nicht wussten, was sie angesichts der Ankunft dieses seltsamen Tieres tun sollten. Sie reagierten, als wäre ein Dinosaurier über die Oder geschwommen.“
Rewilding Europe schlussfolgert aus dem Vorfall, dass die Wiederkehr großer Wildtiere noch sorgfältiger geplant und vorbereitet werden muss.
Neue Einnahmequellen für Einheimische
Generell versucht die Stiftung, ihre Rewilding-Projekte so zu planen und durchzuführen, dass sie bei der lokalen Bevölkerung auf Unterstützung stoßen. Die Menschen vor Ort sollen das Mehr an Wildnis nicht als Bedrohung, sondern als Chance wahrnehmen, die sogar ihren Lebensunterhalt finanzieren könnte. Die Einheimischen finden so zum Beispiel Anstellungen im Umweltschutz oder Naturtourismus. Rewilding Europe vergibt sogar Kredite an Menschen in Projektregionen, die Öko-Unternehmen gründen.
Außerdem unterhält die Stiftung eine eigene Reiseagentur, die mit Partnern vor Ort zusammenarbeitet. „Die Menschen wollen Vögel und Tiere aus nächster Nähe sehen – aus Verstecken, mit Hilfe von Führern, zum Fotografieren“, heißt es auf der Webseite. Die Idee: Wenn Menschen allerhand Geld zahlen, um Grizzlys in Alaska oder Gorillas in Afrika zu beobachten, warum sollten sie sich dann nicht auch von Braunbären in Slowenien, Geiern in Spanien oder Wölfen in Schweden angezogen fühlen?
Auch wenn ein wilderes Europa noch vor zahlreichen Hürden und Problemen steht: Es würde sich durchaus lohnen – für die Artenvielfalt, den Kampf gegen den Klimawandel, die Natur und uns Menschen.