Wie Chemiker Treibhausgas-Käfige und andere molekulare Konstrukte erzeugen
Baukasten der Moleküle
Chemiker sind Molekülarchiteken: Über schwache und starke Bindungen können sie aus einfachen Bausteinen hochkomplexe geometrische Konstrukte aufbauen – von Ringen und Würfeln bis hin zu verschachtelten molekularen Formen. Doch wie baut man solche chemischen Gebilde? Und wozu sind sie gut?
An der Universität Heidelberg forschen Chemiker und Chemikerinnen an der Konstruktion maßgefertigter Molekülkäfige und ineinander verschachtelter molekularer Würfel. Die von ihnen entwickelten Verfahren ermöglichen es, neuartige künstliche Materialien herzustellen. Diese wiederum können auf vielfältige Weise nützlich sein – beispielsweise, um Treibhausgase einzufangen.
Von starken und schwachen Molekül-Wechselwirkungen
Eine Frage der Bindung
In der Chemie geht es um die Wechselwirkungen zwischen Teilchen, seien es neutrale Moleküle oder Ionen, also positiv oder negativ geladene Teilchen. Und es geht um die Reaktionen der Teilchen miteinander. Dabei kommt es zu chemischen Bindungen und es entstehen neue Stoffe mit unterschiedlichen Eigenschaften.
Leichte Trennung und Sollbruchstellen
Die Wechselwirkungen zwischen den Molekülen können stark oder schwach sein, ebenso verhält es sich mit den chemischen Bindungen. Stark ist eine chemische Bindung, wenn sie von anderen Reagenzien nicht so leicht gebrochen werden kann wie eine schwache Bindung, wobei sich Bindungen gegenüber dem einen Reagenz robust und stabil verhalten können, gegenüber einem anderen wiederum nicht. Beides hat Vor- und Nachteile.
Will man etwa ein Material herstellen, das abbaubar ist, dann fügt man in dieses gezielt zahlreiche Sollbruchstellen in Form schwacher Bindungen ein. Ein Beispiel ist die sogenannte Polyhydroxyessigsäure auch Polyglycolsäure (PGA) genannt: Sie wird in der Medizin als chirurgisches Nahtmaterial verwendet und enthält zahlreiche Sollbruchstellen in Form von Esterbindungen. Unter physiologischen Bedingungen reagieren die Esterbindungen mit Wasser, und diese Reaktion sorgt dafür, dass die Wundfäden mit der Zeit in kleine, für den Körper harmlose Moleküle zerlegt werden – die Naht verschwindet scheinbar von selbst.
Teflon und die starken Bindungen des Fluors
Ein Beispiel für den Vorteil starker Bindungen ist die allseits bekannte Teflonpfanne, die fettfreies Braten erlaubt, weil das Bratgut nicht an der Pfanne anhaften kann. Das wird möglich, weil die Innenseite der Pfanne mit Polytetrafluorethylen beschichtet ist – das sind lange Moleküle, sogenannte Polymere, die als Basis eine Kohlenstoffkette haben. Jedes Kohlenstoffatom trägt zwei Fluoratome, an den äußeren Kohlenstoffatomen der Kettenenden sind es sogar drei.
Fluor ist das elektronegativste Element, das wir Chemiker kennen: Fluoratome ziehen Bindungselektronen näher an sich heran als alle anderen Atome in Verbindungen. Das macht die Polymere an ihren Fluorsubstituenten partiell negativ, so dass sich eine teilweise geladene schützende Hülle bildet.
Dieser Effekt ist für die schlechte Oberflächenhaftung des Bratguts in der Pfanne ebenso verantwortlich wie für die hohe chemische Stabilität: Kohlenstoff-Fluor-Bindungen zählen zu den stärksten Einfachbindungen.
Wie Chemie gegen fluorierte Gase helfen kann
Käfige für langlebige Treibhausgase
Organische Moleküle mit starken, stabilen Fluorbindungen – sogenannte per- und polyfluorierte Chemikalien, kurz PFCs – lassen sich vielseitig anpassen und sind entsprechend nützlich für viele Anwendungen. Längerkettige Varianten bewirken den Antihafteffekt von Teflonpfannen, kleinere Fluor-Kohlenwasserstoffe sorgen in vielen Alltagsgegenständen, etwa in Imprägniersprays oder in Outdoorkleidung, für wasser- und fettabweisende Eigenschaften. In der Halbleiterindustrie finden sie Anwendung als elektrisch isolierende Gase bei der Herstellung von Elektrochips.
Zehntausende Jahre in der Atmosphäre
Der Nachteil jedoch: Ihre chemische Stabilität macht diese Fluorverbindungen zu sehr langlebigen Molekülen, die in der Umwelt und Atmosphäre akkumulieren und dort mehrere tausend Jahre verbleiben können. Genau wie Kohlenstoffdioxid (CO₂) zählen kurzkettige PFCs zu den Treibhausgasen, in deren Reigen ihr Anteil an der globalen Erwärmung etwa drei Prozent beträgt.
Während CO₂ von Pflanzen aufgenommen und verstoffwechselt wird, ist dies bei PFCs nicht der Fall – das ist ein weiterer Grund für die Langlebigkeit dieser Chemikalien. Tetrafluormethan (CF₄), der kleinste Vertreter der PFCs, hat eine atmosphärische Lebenszeit von rund 50.000 Jahren; sein globales Erwärmungspotenzial ist 6.630 Mal so hoch wie das von CO₂. Mit anderen Worten: Ein Molekül CF₄ ist in puncto Erderwärmung 6.630 Mal schädlicher als ein Molekül CO₂. Andere PFC-Verbindungen kommen sogar auf Werte von mehr als 10.000.
Gleich und gleich gesellt sich gern
In meiner Arbeitsgruppe am Organisch-Chemischen Institut der Universität Heidelberg haben wir uns deshalb folgende Frage gestellt: Könnte man PFCs selektiv binden und am Ort ihres Entstehens abfangen, so dass sie nicht mehr in die Erdatmosphäre gelangen und als Treibhausgas wirken können? Wie gehen wir dabei vor? Aus dem Chemieunterricht in der Schule ist vielleicht noch der Merksatz „Gleiches löst sich in Gleichem“ bekannt. Er besagt, dass unpolare Stoffe, beispielsweise Wachse, sich in unpolaren Lösungsmitteln wie Ölen lösen.
Dafür verantwortlich sind schwache anziehende Wechselwirkungen. Ebenso lösen sich polare Stoffe, etwa Zucker, in polaren Lösungsmitteln, beispielsweise in Wasser. Fluorierte Polymere und PFCs sind beides Moleküle, die sich aufgrund der stark negativ polarisierten Hüllen voneinander abstoßen. Dennoch gibt es spezifische, wenn auch schwache Wechselwirkungen zwischen fluorierten Molekülen.
Molekulare Fallen für fluorierte Treibhausgase
Möchte man nun kleine PFC-Moleküle mit definierten Volumina und Oberflächen über Fluor-Fluor-Wechselwirkungen binden, bieten sich passgenaue Hohlraummoleküle, sogenannte Käfigmoleküle, an, die im Inneren mit Fluoratomen ausgekleidet sind. Wir haben poröse Kristalle dieser Hohlraummoleküle hergestellt und konnten zeigen, dass sie PFCs unter bestimmten Temperatur- und Druckbedingungen hochselektiv binden.
Das PFC mit der technischen Bezeichnung PFC-218 (Perfluorpropan) beispielsweise wird bei 40 Grad Celsius etwa 3.000 Mal besser gebunden als Distickstoff, der Hauptbestandteil der Luft. Das Molekül PFC-318 (cyclo-Perfluorbutan) sogar 41.000 Mal. Das zeigt: Maßgeschneiderte Hohlraummoleküle können Treibhausgase über multiple schwache Wechselwirkungen effizient festhalten. Diese wissenschaftliche Erkenntnis wartet nun auf ihre Übertragung in eine technische Anwendung.
Fachartikel zum Nachlesen:
Ke Tian, Sven M. Elbert, Xin-Yue Hu, Tobias Kirschbaum, Wen-Shan Zhang, Frank Rominger, Rasmus R. Schröder, Michael Mastalerz: „Highly Selective Adsorption of Perfluorinated Greenhouse Gases by Porous Organic Cages“, Advanced Materials 2022; doi: 10.1002/adma.202202290
Molekulare Gebilde mit ästhetischem Anspruch
Von Ringen und Würfeln
Chemiker sind Molekülarchitekten, die hochkomplexe Verbindungen aufbauen oder genauer gesagt synthetisieren können. Das können Naturstoffe sein, also Verbindungen, die man in Lebewesen findet, aber auch Käfigmoleküle für Treibhausgase oder molekulare Gebilde mit ästhetischem Anspruch.
Geometrische Moleküle
Maßgeschneiderte chemische Bindungen können beispielsweise genutzt werden, um sogenannte Catenane zu generieren. Das sind Substanzen, die aus zwei oder mehr mechanisch ineinander verschlungenen Molekülringen bestehen. Die Natur macht uns das vor bei ringförmigen Nukleinsäuren oder bei den oft polyedrisch geformten Kapsiden, den Proteinverpackungen des Virenerbguts.
Wir Chemiker bedienen uns dagegen aus unseren eigenen Trickkisten, um Moleküle in maßgeschneiderten geometrischen Formen herzustellen – beispielsweise als Ringe, Zahnräder oder sogar ganze Motoren im Nanomaßstab. Im Jahr 2016 erhielten drei Pioniere in der Entwicklung solcher chemischen Nanokonstrukte sogar den Chemie-Nobelpreis.
Unsere Arbeitsgruppe hat die Komplexität der Catenane gesteigert, indem wir für ihre Synthese nicht zweidimensionale Ringe, sondern dreidimensionale Körper verwendet haben. Dazu gehören etwa hochsymmetrische geometrische Körper wie platonische oder archimedische Körper, die aus entweder gleichartigen oder unterschiedlichen regelmäßigen Vielecken bestehen. Realisiert wurden bereits Moleküle in Gestalt von Tetraedern (mit vier Flächen), Hexaedern (mit sechs Flächen), Dodekaedern (mit zwölf Flächen) und viele mehr.
Wie ein molekularer Würfel entsteht
Doch wie baut man einen solchen molekularen Würfel, beispielsweise einen Hexaeder? Man nimmt acht Moleküle, welche die Ecken bilden, und lässt sie mit zwölf linearen Molekülen reagieren, die zu den Kanten des Würfels werden. Doch ist das wirklich schon alles? Nicht ganz: Die Moleküle, welche die Ecken bilden, müssen in einer bestimmten Position zueinander stehen – diese wichtige Information ist in der Molekülstruktur aber üblicherweise nicht vorhanden. Deshalb kommt eher eine formlose polymere Verbindung dabei heraus, wenn man Eckenmoleküle „einfach so“ mit linearen Kantenmolekülen reagieren lässt.
Um solche strukturell undefinierten polymeren Verbindungen zu vermeiden, bedienen wir uns eines Tricks: Wir verwenden für die Würfelbildung keine starken, sondern schwache Bindungen. Und wie wir ja bereits wissen, werden schwache Bindungen leichter gebrochen, und unter bestimmten Bedingungen, die man schaffen kann, stehen Bindungsbildung und Bindungsbruch in einem dynamischen Gleichgewicht.
Das auf diese Weise maßgeschneiderte Molekülkonstrukt bildet und bricht Bindungen dann so lange, bis ein energetisches Minimum erreicht ist. Dieses stellt sich oft dann ein, wenn anstelle undefinierter Polymermischungen viele diskrete Moleküle der gleichen Gestalt entstanden sind. In unserem Fall sind das die molekularen Würfel.
Wie komplexere geometrische Konstrukte entstehen
Verschachtelte Würfel
Wenn es um die Konstruktion maßgeschneiderter Moleküle geht, arbeiten Chemiker nicht nur an einfachen geometrischen Formen wie Ringen oder Würfeln. Für viele Anwendungen sind auch miteinander verbundene oder ineinander verschachtelte Formen nötig.
Eine Frage der Energie
Kann man beispielsweise zwei molekulare Würfel ineinander verschachteln? Für eine solche Verschachtelung gibt es drei Möglichkeiten: über die Kanten, über die Ecken oder über die Flächen. Damit zwei intakte Würfel miteinander verschachtelt werden können, müssen daher Ecken oder Kanten entfernt, die Fragmente ineinandergeschoben und anschließend die Ecken oder Kanten wieder geschlossen werden. Auf molekularer Ebene geht das nur dann, wenn die Bindungen zwischen den Ecken- und Kanteneinheiten relativ schwach sind.
Aber warum sollten sich zwei oder gar mehrere Würfel freiwillig miteinander verschachteln? Wenn etwas in der Chemie freiwillig erfolgt, dann stets um den Preis, dass dabei Energie frei wird. Das ist genau dann der Fall, wenn die energetische Gesamtsituation nach der Reaktion günstiger ist als vor der Reaktion.
Gulliver und die Liliput-Fesseln
Doch um die Frage zu beantworten, muss man außerdem noch wissen, dass es neben den echten und gerichteten Bindungen innerhalb von Molekülen noch weitere, deutlich schwächere intermolekulare Wechselwirkungen gibt, beispielsweise Wasserstoffbrückenbindungen oder die noch schwächeren Dispersionswechselwirkungen. Jede Wasserstoffbrücke oder Dispersionswechselwirkung ist für sich allein genommen sehr schwach – treten sie aber gemeinsam und in Vielzahl auf, ändert sich das.
Man denke an Gullivers Reisen nach Liliput: Jeder einzelne der Fäden, mit denen die zwergenhaften Einwohner Liliputs den Riesen Gulliver fesseln, ist so klein und so schwach, dass er von Gulliver mit geringstem Kraftaufwand gelöst werden könnte – aber die Vielzahl der winzigen Fesseln sorgt dafür, dass er gefangen bleibt. Genauso ist es auch mit den vielen schwachen Wasserstoffbrückenbindungen, die Wasser bei Raumtemperatur flüssig machen. Oder mit dem Gecko, den multiple Dispersionswechselwirkungen kopfunter an der Decke haften lassen.
Auf die Bindung kommt es an
Wenn das mechanische Verschachteln zweier molekularer Würfel freiwillig gelingen soll, muss man demnach dafür Sorge tragen, dass dabei ein zusätzlicher Energiegewinn für das Molekül herausspringt. Genau das haben wir gemacht: Wir haben dafür gesorgt, dass die Eckmoleküle oder die Kantenmoleküle des Würfels Einheiten besitzen, die imstande sind, viele schwache Wechselwirkungen einzugehen.
Noch etwas konkreter: Werden beispielsweise Hydroxygruppen – typische Wasserstoffbrückenbildner – so an den Ecken des Würfels platziert, dass sie in Richtung der Würfelflächen zeigen, bilden sich zwei vierfach ineinander verschachtelte Würfel. Dafür verantwortlich sind die Wasserstoffbrücken. Werden stattdessen unpolare Methoxy- oder auch Ethylgruppen an den linearen Kanten angeboten, bilden sich dreifach verschachtelte Dimere aus zwei Würfeln oder gar Trimere aus drei Würfeln.
Diese molekulare „Bau“-Kontrolle und die Steuerung der Molekülsynthese über schwache Wechselwirkungen sind einzigartig. Sie erlauben es uns nicht nur, den hierarchischen Aufbau von biologischen Molekülen, beispielsweise die Faltung von Peptiden, besser zu verstehen – mit dieser Kenntnis können wir auch neue, noch nie da gewesene künstliche Materialien aufbauen.
Fachartikel zum Nachlesen:
Bahiru Punja Benke, Tobias Kirschbaum, Jürgen Graf, Jürgen H. Gross, Michael Mastalerz: „Dimeric and Trimeric Catenation of Giant Chiral [8+12] Imine Cubes Driven by Weak Supramolecular Interactions“, Nature Chemistry. 2023; doi: 10.1038/s41557-022-01094-w
29. November 2023 - Michael Mastalerz, Universität Heidelberg/ Ruperto Carola