Dem Phänomen des Grenzenlosen auf der Spur

Wie unendlich ist die Unendlichkeit?

unendlich
Ob im Universum, in der Physik oder der Mathematik: Das Phänomen der Unendlichkeit gibt noch viele Rätsel auf. © dvsmm/ iStock.com

Ob unser Universum, die Dichte eines Schwarzen Lochs oder die Menge der Zahlen in der Mathematik: Sie alle sind unendlich groß. Doch was bedeutet das? Wie grenzenlos ist die Unendlichkeit im Größten und im Kleinsten? Lässt sie sich messen? Und gibt es verschiedene Unendlichkeiten?

Schon in der Antike versuchten Gelehrte, das Phänomen der Unendlichkeit zu verstehen und zu beschreiben. Doch bis heute sind viele Geheimnisse des nicht Eingrenzbaren nicht geklärt – ob in der Astronomie und Kosmologie, in der Physik oder der Mathematik.

Wo begegnet uns Unendlichkeit?

Vom Kleinsten bis ins Größte

In unserem Alltag sind wir umgeben von unzähligen endlichen Dingen und Erfahrungen: Objekte haben eine klar definierte Form und Grenze, Zeiteinheiten takten unseren Tag und auch wir selbst haben ein endliches Leben vor uns. Doch im täglichen Leben begegnen uns auch Unendlichkeiten – meist ohne, dass wir es bemerken.

Kreiszahl Pi
Die Dezimalstellen der Kreiszahl Pi setzen sich unendlich lange fort. © Murat Gocmen/ iStock

Vom Kreis zu infinitesimalen Teilen

Ein Beispiel für „alltägliche“ Unendlichkeit ist der Kreis oder die Kugel: Mathematisch gesehen hat jeder Kreis unendlich viele Seiten, er besteht gleichzeitig aus unendlich vielen Punkten. Egal, wie nahe man heranzoomt, es kommen immer neue hinzu. Kein Wunder daher, dass auch die Kreiszahl Pi unendlich viele Stellen hinter dem Komma hat. Deswegen ist auch die sprichwörtliche „Quadratur des Kreises“ unmöglich: Man kann auf einem Kreis kein Quadrat mit genau demselben Flächeninhalt konstruieren.

Auch eine Gerade ist – anders als eine Strecke – unendlich: Sie hört nirgendwo auf und enthält mathematisch gesehen unendlich viele Punkte. Und selbst ein vermeintlich simpler Bruch wie 1/3 repräsentiert die Unendlichkeit: Schreibt man ihn als Dezimalzahl, hören die Stellen nach dem Komma nicht auf. Daraus folgt auch eine weitere, schwer fassbare Unendlichkeit: Teilt man den Zahlenraum zwischen Null und Eins durch Brüche immer weiter auf, kommt man nie an ein Ende. Denn so klein die Brüche und ihre Abstände auch werden, es gibt immer noch einen Bruch dazwischen. Zwischen Null und Eins – und auch jedes beliebige andere Zahlenpaar – passen daher unendlich viele Unterteilungen.

Fraktale Unendlichkeiten

Unendlichkeit begegnet uns auch in fraktalen Strukturen ähnlich den Zacken eines Schneekristalls, der Länge einer Küstenlinie oder einem verzweigten Baum oder Flusssystem. In der Natur sind diese selbstähnlichen Muster zwar begrenzt – spätestens auf der Ebene einzelner Atome ist Schluss. Beschreibt man diese Formen jedoch mathematisch-geometrisch, lassen sich die immer kleiner werdenden Unterteilungen unendlich fortsetzen.

Koch-Kurve
Die Koch-Kurve beschreibt, wie die fraktalen Zacken eines Schneekristalls zustande kommen – und sie lässt sich unendlich weiter knicken und unterteilen. © gemeinfrei

Ein klassisches Beispiel dafür ist die Koch-Kurve – die Linie, die das Auszacken des Schneekristalls beschreibt. Ihre typische Zackenform entsteht, indem man die Linie eines gleichseitigen Dreiecks immer wieder durch Knicke in weitere gleichseitige Dreiecke unterteilt. Mathematisch lässt sich dies unendlich weitfortsetzen, weil die dazugehörende Funktion auf einen Grenzwert zuläuft – ihn aber nie erreicht.

Die Unendlichkeit der Singularitäten

Blickt man ins Weltall, finden sich weitere Unendlichkeiten – sowohl im Großen wie im Kleinsten. Die erste findet sich schon im Urknall, als sämtliche Energie, Strahlung und Materie in einem Punkt unendlicher Dichte konzentriert waren. Dessen Merkmale lassen sich mit gängiger Physik nicht beschreiben, weshalb man von einer Singularität spricht. Sogar die Zeit des Uranfangs läuft auf einen Grenzwert zu, der wahrscheinlich nie Null wird – und daher unendlich klein ist. „Es gibt keinen allerersten Moment in der Zeit, ähnlich wie es keine kleinste positive Zahl gibt“, erklärt der Physiker John Mather vom Goddard Space Flight Center der NASA.

SChwarzes Loch
In einem Schwarzen Loch wird die Krümmung der Raumzeit unendlich stark – sie ist nicht mehr mit klassischer Physik beschreibbar. © Rost9D/ iStock

Unendlich dicht ist der Theorie nach auch das Zentrum eines Schwarzen Lochs. Dessen Eigenschaften sind nicht mehr mit den Gleichungen der Allgemeinen Relativitätstheorie beschreibbar und daher ebenfalls eine Singularität. Die enorme Schwerkraft des Schwarzen Lochs krümmt die Raumzeit so stark, dass sich diese Krümmung einem Grenzwert annähert, ihn aber nie erreicht – sie ist möglicherweise unendlich groß. „Sehr nahe an dieser Singularität werden wahrscheinlich Quanteneffekte wichtig, aber wir haben bisher keine Quantentheorie der Gravitation, die dies beschreiben könnte“, erklärt der Astrophysiker Robert Wald von der University of Chicago.

Grenzenloses Universum?

Ebenso ungeklärt ist die Ausdehnung des Universums, denn auch dieses könnte gängiger Annahme nach unendlich sein – auch wenn sich dies nicht direkt belegen lässt. Denn das für uns beobachtbare Universum reicht „nur“ rund 46 Milliarden Lichtjahre weit hinaus, weil nur die Strahlung von Objekten dieser Entfernung seit dem Urknall vor rund 13,8 Milliarden Jahren genügend Zeit hatte, um bei uns anzukommen. Durch die Expansion der Raumzeit liegt dieser Beobachtungshorizont weiter von uns entfernt als die intuitiv annehmbaren 13,8 Milliarden Lichtjahre.

Was jedoch hinter diesem Beobachtungshorizont liegt, ist offen – und möglicherweise unendlich. „Es gibt keinen Hinweis auf einen Rand des Universums, keinen Ort, an dem Materie oder Raum aufhören“, erklärt John Mather. „Das Universum scheint heute unendlich zu sein – wahrscheinlich war es das sogar schon immer.“ Allerdings ist dies bisher nur eine Vermutung, denn messen lässt sich dies nicht.

Rechnen mit Unendlichkeiten

Wie viel ist unendlich plus 1?

Eine Szene im Kindergarten: Zwei Kinder wetteifern um die Stärke ihrer Fantasiefiguren und das eine sagt: „Meine Kraft ist unendlich groß“ Das andere entgegnet: „Meine ist aber unendlich plus eins!“. Welche Spielfigur hat nun die größere Kraft?

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Wie viel ist unendlich plus 1? © HG: titoOnz/ iStock

„Nicht vollständig“

Die Antwort auf diese Frage ist weit weniger einfach als man denkt – und brachte schon die Gelehrten der Antike ins Grübeln. Der griechische Philosoph und Naturforscher Aristoteles beispielsweise definierte Unendlichkeit als eine Menge, zu der man immer noch etwas hinzufügen kann. „Das Ende von etwas ist eine Grenze und nichts ist vollständig, das keine Grenze hat“, schrieb er 347 vor Christus in seinem Werk „Physik“. Er bezeichnete dies als potenzielle Unendlichkeit.

Praktisch und auf unsere wetteifernden Kinder bezogen würde dies bedeuten: Gerade weil man zu Unendlichkeit immer noch eine Zahl dazu addieren kann, ist der Zahlenraum unendlich. Doch was bedeutet dies für unsere Eingangsfrage? Kann man ∞ + 1 überhaupt rechnen? Die Antwort darauf lautet: ja, man kann eine 1 oder beliebige andere Zahl zu unendlich addieren – und das sogar unendlich oft. Doch das Ergebnis ist immer das Gleiche: unendlich. Denn die Menge der Zahlen bleibt unendlich – egal wie viele Zahlen ich hinzufüge.

Zu Gast in Hilberts Hotel

So paradox dies scheint, der deutsche Mathematiker David Hilbert illustrierte das Prinzip des Rechnens mit unendlich in seinem Gedankenexperiment von „Hilberts Hotel“: Dieses Hotel hat unendlich viele Zimmer, beginnend mit der Zimmernummer 1. Was ist nun, wenn alle Zimmer belegt sind, aber doch noch ein neuer Gast ankommt? Muss er abgewiesen werden?

Zu Gast in Hilberts Hotel.© TED Ed Bleib Neugierig

Keineswegs. Stattdessen schafft man Platz, indem alle bereits eingecheckten Hotelgäste ihr Zimmer wechseln: Jeder zieht in das Zimmer mit der nächsthöchsten Zimmernummer. Das hat zur Folge, dass nun das Zimmer mit der Nummer 1 frei wird – und der neue Gast kann einziehen.

Auch ganze Busladungen neuer Gäste und sogar unendlich viele Neuankömmlinge lassen sich auf ähnliche Weise im eigentlich voll belegten „Hotel Hilbert“ unterbringen. Jeder schon eingezogene Gast multipliziert dafür seine Zimmernummer mit 2 und wechselt dann in das Zimmer mit der Nummer, die dabei herauskommt. Der Trick dabei: Durch diese Multiplikation entstehen nur gerade Zimmernummern, als Folge werden alle Zimmer mit ungeraden Nummern frei – und damit Räume für unendlich viele neue Gäste.

Archimedes, Galilei und der verflixte Vergleich

Hilberts Hotel demonstriert aber noch etwas: Wenn es unendlich viele ganze Zahlen gibt, dann gibt es auch unendlich viele gerade und unendlich viele ungerade Zahlen. Gäbe es Zimmer mit negativen Nummern würden sich auch diese ins Unendliche fortsetzen. Aber sind all diese unendlichen Zahlenmengen wirklich gleich groß?

Über diese Frage dachte auch der griechische Mathematiker Archimedes schon nach. In einem 1906 entdeckten, dann wieder verschollenen und 2002 schließlich wiederentdeckten Manuskript-Fragment verglich Archimedes bereits zwei unendliche Zahlenmengen – und kam zu dem Schluss, dass sie gleichgroß sein müssten. „Man hat vorher immer gedacht, dass die griechischen Mathematiker dies noch nicht versuchten, sondern erst die modernen Mathematiker „, sagt Reviel Netz von der Stanford University.

Galileo Galilei
Auch Galileo Galilei versuchte, unendliche Zahlenmengen miteinander zu vergleichen. © historisch

Später versuchte sich auch der Astronom Galileo Galilei am Vergleich unendlicher Zahlenmengen. Er beschrieb 1638 in seinem Werk „Discorsi“, dass es möglicherweise gleich viele Quadratzahlen wie natürliche Zahlen gibt – obwohl dies der Intuition völlig widerspricht. Denn wenn man eine Zahl quadriert, ist das Ergebnis ja auch eine natürliche Zahl – und damit eigentlich nur eine Teilmenge aller natürlichen Zahlen. Aber wie können dann beide Mengen eine gleichgroße unendliche Menge repräsentieren?

Dieses verwirrende Ergebnis wird heute auch als Galileis Paradoxon bezeichnet. Der Astronom und Physiker selbst sah darin eine möglicherweise zum Scheitern verurteilte Folge des Versuchs, mit unseren endlichen Gehirnen das Unendliche zu verstehen…

Wie vergleicht man unendliche Zahlenmengen?

Die Kunst der Zuordnung

Gibt es nur eine Unendlichkeit? Oder kann es mehrere, verschieden große Unendlichkeiten geben? Und wie vergleicht man zwei unendliche Mengen? Diese Frage treibt Mathematiker seit Jahrhunderten um. Für endliche Mengen ist es einfach, ihre Mächtigkeit zu bestimmen: Man zählt die einzelnen Elemente und erhält am Ende eine Summe. Diese kann man dann für verschiedene Mengen vergleichen. Doch bei einer unendlichen Menge gibt es kein letztes Element, also auch keine abgeschlossene Summe. Wie geht man dann vor?

Bijektion mit Quadratzahlen
Jede natürliche Zahl lässt sich einer zugehörigen Quadratzahl zuordnen. Es entstehen Paare ohne Lücken oder Mehrfachzuordnungen – eine Bjektion. © scinexx; HG: titoOnz/ iStock

Pärchenbildung im Zahlenraum

Eine Antwort auf diese Frage fand erst der deutsche Mathematiker und Begründer der Mengenlehre Georg Cantor. Im Jahr 1873 beschrieb er eine Methode, mit dem sich die Mächtigkeit zweier unendlicher Zahlenmengen vergleichen lässt. Ausgangspunkt von Cantors Überlegungen ist die bijektive Zuordnung. Hinter diesem Begriff verbirgt sich ein im Grunde ganz einfaches Prinzip: Statt die beiden Zahlenmengen abzuzählen, ordnet man sie einander zu.

Nehmen wir Galileis Vergleich von natürlichen Zahlen mit Quadratzahlen: Für die bijektive Zuordnung schreibt man einfach beide Zahlenstränge untereinander und verbindet jedes Element der ersten Zahlenreihe mit einem der zweiten – es entstehen Paare aus einer Zahl und ihrer Quadratzahl. Im Idealfall lässt sich jedem Element der ersten Zahlenmenge genau ein Element der zweiten Zahlenmenge zuordnen – und dies lässt sich unendlich weit fortsetzen.

Reise nach Jerusalem

Eine solche paarige Zuordnung bezeichnen Mathematiker als bijektive Funktion oder Bijektion. Die erste Voraussetzung dafür ist, dass es bei dieser Paarung keine mehrfach zugeordneten Zahlen gibt – sie ist mathematisch gesprochen surjektiv. Die zweite Voraussetzung ist, dass es auch keine Lücken in Form nicht zugeordneter Zahlen gibt – die Zuordnung muss injektiv sein. Trifft beides zu, ist die Zuordnung symmetrisch und beiden Zahlenmengen müssen daher die gleiche Mächtigkeit haben, egal wie lange sich die Zahlenstrahlen fortsetzen lassen.

Die Mathematikerin Mary Coupland von der University of Technology in Sydney vergleicht dies mit einer Art „Reise nach Jerusalem“ im Stadionformat: „Wenn alle Zuschauer sitzen und es keine freien Plätze mehr gibt, dann wissen wir, dass die Menge der Zuschauer und der Sitze gleichgroß ist – selbst wenn ihre Gesamtmenge zu groß zum Zählen ist.“ Bleiben dagegen Besucher stehen oder Sitze leer, geht der Vergleich nicht auf.

erstes Diagnoalargument
In Cantors erstem Diagonalargument ordnet man jedem nicht auf eine ganze Zahl kürzbaren Bruch eine natürliche Zahl zu. Daraus ergibt sich nach weiteren Kürzungsschritten eine bijektive Zuordnung. © scinexx; HG: titoOnz/ iStock

Gleiche Unendlichkeiten

Georg Cantor nutzte dieses Grundprinzip, um erstmals zu beweisen, dass die Menge der natürlichen Zahlen – also aller positiven ganzen Zahlen – genauso groß ist wie die der rationalen Zahlen – aller Bruchzahlen, die ganzzahlige Zähler und Nenner aufweisen. Ihre Unendlichkeiten sind demnach gleichmächtig. Auf den ersten Blick ist dies ein Paradox, denn beide Zahlenmengen sind zwar unendlich, gleichzeitig passen aber allein zwischen Null und Eins unendlich viele Bruchzahlen. Wie können dann diese beiden Unendlichkeiten gleichmächtig sein?

Cantor bewies diesen paradox erscheinenden Fakt mithilfe seines sogenannten ersten Diagonalarguments. In diesem ordnet man zunächst die Brüche in einem zweidimensionalen Schema an, in dem der Zähler jeweils nach unten hin zunimmt, der Nenner nach rechts. Dann geht man diagonal im Zickzack durch dieses Zahlenfeld und ordnet jedem nicht weiter kürzbaren Bruch eine positive ganze Zahl zu. Dabei entsteht eine bijektive Zuordnung – daher müssen beiden Zahlenmengen gleich groß sein, so Cantors Schlussfolgerung.

Aleph 0 – ein Maß für die Unendlichkeit

Das bedeutet: Auch wenn es unsere Vorstellungskraft arg strapaziert, ist die unendliche Menge der positiven ganzen Zahlen genauso groß wie die aller positiven Bruchzahlen. Ihre Unendlichkeiten sind demnach gleichmächtig. Mathematisch gesprochen gelten alle Zahlenmengen, deren Mächtigkeit der der natürlichen Zahlen entspricht, als abzählbar unendlich – das gilt für Galileis Quadratzahlen ebenso wie für gerade und ungerade Zahlen oder die Brüche der rationalen Zahlen.

Um diese „Sorte“ unendlicher Zahlen zu kennzeichnen, gab Cantor solchen Zahlenmengen die Kardinalzahl ℵ0 (Aleph 0). Aber bedeutet dies, dass es in der Mathematik nur eine einzige Unendlichkeit gibt, egal um welche Zahlen es sich handelt?

Reelle Zahlen und die Kontinuumshypothese

Über die Unendlichkeit hinaus

Gibt es in der Mathematik nur eine Unendlichkeit? Auf den ersten Blick scheint dies so, denn der deutsche Mathematiker Georg Cantor hat im Jahr 1873 bewiesen, dass beispielsweise die unendliche Menge aller natürlichen Zahlen, aller ganzen Zahlen und aller rationalen Zahlen – also aller ganzzahliger Brüche – gleichmächtig sind. Ein „mehr als dieses unendlich“ schien es demnach nicht zu geben – oder doch?

Der goldene Schnitt
Der Goldene Schnitt zerlegt eine Strecke so, dass sich die längere Teilstrecke zur kürzeren Teilstrecke verhält wie die Gesamtstrecke zur längeren Teilstrecke. Der Quotient dieser Teilung ist eine irrationale reelle Zahl. © Jahobr/ gemeinfrei

„Ausreißer“ im Zahlenstrang

Tatsächlich gibt es noch eine Zahlenmenge, für die die Antwort nicht ganz so eindeutig ist – die reellen Zahlen (ℝ). Zu diesen gehören beispielsweise die Kreiszahl π, die Eulersche Zahl e, aber auch die Wurzel aus 2 (√2) und weitere Quadratwurzeln sowie das Teilungsverhältnis des Goldenen Schnitts. Kennzeichnend für diese irrationalen Zahlen ist, dass sie sich nicht durch Brüche mit ganzzahligem Zähler und Nenner darstellen lassen. Für die Quadratwurzel aus zwei erkannte dies schon vor fast 2.000 Jahren der griechische Gelehrte Euklid.

Doch wie sieht es mit der Unendlichkeit dieser reellen Zahlen aus? Ist sie ähnlich wie bei den rationalen Zahlen abzählbar, also gleichmächtig wie die Unendlichkeit natürlicher Zahlen? Dieser Frage widmete sich Georg Cantor im Jahr 1874. „Cantor schaffte es zu beweisen, dass es unmöglich ist, eine bijektive Zuordnung zwischen der Menge der reellen Zahlen und der Menge der natürlichen Zahlen zu erzeugen“, erklärt die Mathematikerin Mary Coupland von der University of Technology in Sydney. „Egal, wie oft man es versucht, es bleiben immer reelle, nicht zugeordnete Zahlen übrig.“

Natürliche und reelle Zahlen
Ist die Unendlichkeit der reellen Zahlen genauso groß wie die Unendlichkeit der natürlichen Zahlen? © scinexx; HG: titoOnz/ iStock

Zwei verschiedene Unendlichkeiten

Demonstrieren lässt sich dies mit Cantors zweiten Diagonalargument. Dafür ordnen wir beispielsweise jede reelle Zahl zwischen Null und Eins einer natürlichen Zahl zu – wir versuchen, eine Bijektion herzustellen. Auf den ersten Blick scheint dies auch zu klappen. Doch nun kommt der Trick: Wir verändern nun die Dezimalstellen der übereinander stehenden reellen Zahlen so, dass wir in der ersten Zahl die erste Dezimalstelle um eins hochsetzen, in der zweiten die zweite Dezimalstelle und so weiter.

Lesen wir nun die resultierende Zahl diagonal ab, ergibt sich eine reelle Zahl, die in der paarweisen Auflistung der Bijektion noch nicht vorkam. Denn sie unterscheidet sich immer in mindestens einer Ziffer von allen bisher gelisteten. Diese Diagonalzahl hat folglich keinen Partner in der Menge der natürlichen Zahlen. „Selbst die millionste Zahl auf unserer Liste ist mindestens in der millionsten Stelle hinter dem Komma anders als alle bisher gelisteten“, erklärt Coupland. Dies funktioniere deswegen, weil die in den reellen Zahlen enthaltenen irrationalen Zahlen keine sich wiederholenden Muster in ihren Dezimalstellen aufweisen – egal, wie viele Stellen man sich anschaut.

Cantor schloss aus diesem Ergebnis, dass die Menge der natürlichen (ℕ ) und der reellen Zahlen (ℝ) unterschiedlich groß sein müssen. Beide Zahlenmengen sind demnach zwar unendlich, aber ihre Unendlichkeiten sind nicht gleichmächtig, wie Cantor bewies. Die reellen Zahlen sind demnach überabzählbar und Cantor ordnete ihnen die Kardinalzahl ℵ1 (Aleph 1) zu. Damit gibt es in der Mathematik schon mindestens zwei unterschiedlich mächtige Unendlichkeiten.

Das Problem der Kontinuumshypothese

Die bis heute diskutierte Frage aber ist: Gibt es zwischen diesen beiden Unendlichkeiten noch Zwischenstufen? Cantor glaubte dies nicht und formulierte 1878 die Kontinuumshypothese: Wenn eine Menge größer ist als die der natürlichen Zahlen, dann muss sie zumindest gleich groß sein wie die Menge der reellen Zahlen. Jede Teilmenge der reellen Zahlen entspricht demnach entweder der Unendlichkeit der natürlichen Zahlen oder aber der des Kontinuums aller reellen Zahlen.

„Wenn man annimmt, dass die Kontinuumshypothese stimmt, dann ist die Sache ganz einfach: Dann ist zwischen der Unendlichkeit der natürlichen Zahlen und der Unendlichkeit der reellen Zahlen keine weitere Sorte von Unendlichkeit möglich“, erklärt Jakob Kellner von der TU Wien. Das Problem jedoch: Cantors Hypothese zu beweisen, ist alles andere als einfach, wie sich gezeigt hat. David Hilbert nahm die Hypothese deshalb als 1. Problem in seine berühmte Liste der 23 mathematischen Jahrhundertprobleme auf.

Im Jahr 1937 kam der Mathematiker Kurt Gödel zu dem Schluss, dass sich die Kontinuumshypothese nicht eindeutig widerlegen lässt, im Jahr 1963 ermittelte dann der US-Mathematiker Paul Cohen, dass sie sich auch nicht eindeutig beweisen lässt – jedenfalls nicht auf Basis der bestehenden Regeln und Axiome der Mengenlehre.

Cichóns Diagramm

Und nun? Immerhin betrifft Cantors Hypothese ziemlich fundamentale Annahmen der Mengenlehre, darunter auch die Frage, wie viele reelle Zahlen es denn nun gibt. Es wäre daher schon wichtig, die Frage nach den „Zwischen-Unendlichkeiten“ eindeutig zu beantworten. Ob und wie dies möglich ist, bleibt allerdings strittig. Einige Mathematiker arbeiten daran, neue Axiome der Mengenlehre aufzustellen, andere versuchen, das Diagonalargument von Cantor so umzuinterpretieren, dass sich daraus eine Lösung ergibt.

Cichon-Diagramm
Im Cichoń-Diagramm lassen sich zehn definierte Unendlichkeiten von Teilmengen der reellen Zahlen der Größe nach anordnen. © ETH Zürich / Annalen der Mathematik

Um Ordnung in das Dickicht der Mengen und Unendlichkeiten zu bringen, wurde das sogenannte Cichón-Diagramm entwickelt. In ihm sind zehn für Teilmengen der reellen Zahlen geltende Unendlichkeiten und ihre Beziehung zueinander aufgelistet. Unklar blieb aber, alle zehn Unendlichkeiten in diesem Diagramm voneinander verschieden sind und auch, in welcher Hierarchie sie zueinander stehen.

Zehn verschiedene Unendlichkeiten

Im Jahr 2019 gelang dann dem Mathematikertrio Jakob Kellner und Martin Goldstern von der TU Wien und Saharon Shelah von der Hebräischen Universität Jerusalem ein erster Schritt zu einer Antwort. „Wenn man aus den möglichen Unendlichkeits-Definitionen bestimmte Paare herausgreift und beweist, dass eine größer oder gleich der anderen sein muss, entsteht eine Hierarchie der Unendlichkeiten“, erklärt Goldstern. Er und seine Kollegen haben dies für alle zehn Unendlichkeiten des Cichón-Diagramms untersucht.

Das Ergebnis: In Cichóns Diagramm können tatsächlich alle Unendlichkeiten unterschiedliche Mächtigkeit haben – es gibt keine Paare, die den gleichen Unendlichkeitswert haben müssen. Damit haben die Mathematiker einen wichtigen Fortschritt in diesem zentralen Baustein der Logik und Mengenlehre erzielt. Ob die verwendete Methode aber ausreicht, um Cantors Kontinuumshypothese eindeutig zu widerlegen, ist noch offen. Die Frage nach den unendlichen Weiten der Unendlichkeiten bleibt daher weiterhin spannend.