Was macht uns zu Mann oder Frau?

Der kleine Unterschied

Was entscheidet über unsere Geschlechtsidentität? Sind es die Gene und Hormone oder doch eher die soziale Prägung? © fieldwork/iStock.com

„Wird es ein Mädchen oder ein Junge?“ Die Antwort darauf hat weitreichende Konsequenzen. Denn unsere Geschlechtsidentität bestimmt in großem Maße, wie wir uns selbst und wie uns andere sehen. Aber was entscheidet darüber, ob wir uns als Mann oder Frau fühlen – und ob wir dem gängigen Rollenklischee entsprechen? Sind es nur die Gene und Hormone? Oder doch die soziale Prägung?

Auch wenn die Rollen nicht mehr so streng verteilt sind wie vor Jahrhunderten: Auch heute definieren wir unsere Persönlichkeit maßgeblich über das Geschlecht und übernehmen als Mann oder Frau unterschiedliche Rollen in Partnerschaft, Familie und Beruf. Doch wie entwickelt sich die Geschlechtsidentität? Welche sozialen und biologischen Faktoren beeinflussen diesen Prozess? Unterscheiden sich Männer und Frauen in ihrem Denken, Fühlen und Handeln? Lassen sich Unterschiede auch auf neuropsychologischer Ebene nachweisen? Viele Fragen – mit oft verblüffenden Antworten.

Sabina Pauen & Miriam Schneider, Universität Heidelberg/ Ruperto Carola
Stand: 25.08.2017

Wie ein Embryo zu Mann oder Frau wird

Weichenstellung im Mutterleib

Schon in der Schule lernen wir, dass das Geschlechtschromosom darüber entscheidet, ob ein Mädchen oder ein Junge das Licht der Welt erblickt. Doch so selbstverständlich wir von dieser Annahme ausgehen, so unzureichend ist sie bei genauerem Hinsehen: Jeder gesunde Embryo weist zunächst die Anlagen für beide Geschlechter auf.

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Weiblich trotz Y-Chromosom

Erst unter dem Einfluss von Hormonen, die während der Schwangerschaft im Kreislauf des Kindes zirkulieren, entscheidet es sich, welche Geschlechtsorgane weiterentwickelt werden. Das männliche Geschlechtshormon Testosteron bewirkt, dass der Penis wächst und sich Hoden und Samenleiter formen.

Fehlen auf den Zellen jedoch die Rezeptoren, die molekularen „Aufnahmestationen“ für Testosteron, dann passiert auch bei einem Kind mit typisch männlicher Geschlechtschromosomen-Kombination (XY) etwas ganz anderes: Es formen sich Gebärmutter, Eileiter und Vagina, die Entwicklung der männlichen Geschlechtsorgane wird gestoppt. Wenn die Hebamme das Kind nach

der Geburt den Eltern übergibt, wird sie sagen: „Es ist ein Mädchen!“ Und ohne Chromosomentest kommt auch später niemand auf die Idee, dass es sich faktisch um einen Jungen handelt.

Auch die Hormone der Mutter beeinflussen den Embryo im Mutterleib. © Janula/ iStock.com

Hormone der Mutter wirken mit

Neben Reifungsprozessen im Gehirn des Kindes beeinflusst auch der Hormonhaushalt der Mutter das Geschehen. Wenn Frauen während der Schwangerschaft in kritischen Phasen männliche Hormone einnehmen, führt das zu Anomalien bei der Geschlechtsbildung von weiblichen Föten. Sie weisen eine stark vergrößerte Klitoris und ein insgesamt männlicheres Äußeres auf.

Vorgeburtliche hormonelle Einflüsse werden zudem verdächtigt, sich auf die späteren sexuellen Neigungen auszuwirken. Einer Pilotstudie zufolge werden Kinder, deren Mütter in der Schwangerschaft Progesteron eingenommen haben, später überdurchschnittlich oft bisexuell.

Festzuhalten gilt: Hormone im Blut des Kindes – ob sie vom kindlichen Körper selbst produziert werden oder über die Nabelschnur in den Kreislauf des Fötus gelangen – prägen die pränatale Entwicklung der Geschlechtsorgane und scheinen sich darüber hinaus auf die spätere sexuelle Orientierung des Menschen auszuwirken.

Sabina Pauen & Miriam Schneider, Universität Heidelberg/ Ruperto Carola
Stand: 25.08.2017

Unterschiede gibt es schon bei Neugeborenen

Aktive Jungs, soziale Mädchen?

Neugeborene Kinder sind kein unbeschriebenes Blatt – und auch nicht geschlechtsneutral. Entwicklungspsychologen haben bei weiblichen und männlichen Neugeborenen interessante, zumeist aber nur geringfügige Unterschiede in Wahrnehmung, Motorik und Denken beobachtet.

Junge oder Mädchen? Anzusehen ist dies diesem Säugling nicht. Aber es gibt durchaus subtile Verhaltensunterschiede. © iStock.com

Schmerzen, Hören und Sehen

In Bezug auf die Schmerzwahrnehmung scheinen Mädchen beispielsweise etwas empfindlicher zu sein als Jungen. Dies passt gut zu Studien, nach denen Frauen auch im Erwachsenenalter anders und sensibler auf Schmerzen reagieren. Sie leiden häufiger unter chronischen oder wiederkehrenden schmerzhaften Erkrankungen.

Auch hinsichtlich der Fernsinne wurden frühe Geschlechtsunterschiede beschrieben: So reagieren die Gehirne von Mädchen stärker auf akustische Signale im Innenohr und auf veränderte visuelle Muster. Mädchen entwickeln ihre Sehschärfe und ihr räumliches Sehen im ersten halben Lebensjahr etwas früher als Jungen. Dafür scheinen bei Jungen die Kontrastempfindlichkeit und die Anpassung der Pupillen an Helligkeitsunterschiede besser zu funktionieren. In jedem Fall sind entsprechende Unterschiede allerdings nur temporär nachweisbar.

Mamas Stimme, Papas Ball

Anders verhält es sich beim Temperament: Hier finden sich zeitlich stabile Geschlechtsunterschiede. Bereits im ersten Lebensjahr weisen Mädchen im Mittel ein geringeres Aktivitätsniveau auf als Jungen, sie reagieren sensibler auf Veränderungen in der Umwelt und zeigen eher ein ängstliches Verhalten. Dominante Verhaltensreaktionen können kleine Mädchen dagegen besser unterdrücken.

"Schmusiger" als Jungen - Mädchen haben oft schon als kleines Kind mehr Interesse an sozialen Reizen. © wavebreakmedia/ iStock.com

Das Interesse kleiner Mädchen an sozialen Reizen wie dem mütterlichen Gesicht, ihrer Stimme oder Berührung scheint stärker ausgeprägt: Sie halten länger Blickkontakt mit ihrem Gegenüber, reagieren deutlicher auf menschliche Reize akustischer oder visueller Art und werden von ihren Bezugspersonen gemeinhin als „schmusiger“ beschrieben. Das Interesse der Jungen hingegen richtet sich verstärkt auf alles, was sich bewegt: Mobiles, Bälle, Autos werden in der Regel besonders aufmerksam verfolgt.

Naturgegeben? Oder doch schon angelernt?

Solche Befunde scheinen die Annahme zu bestätigen, dass Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen primär in den Genen liegen. Doch Vorsicht vor voreiligen Schlüssen! Eine generelle Vorliebe von Mädchen für Lebewesen und von Jungen für Artefakte, beispielsweise für Fahrzeuge, lässt sich bis Ende des ersten Lebensjahres nicht nachweisen – so zumindest das Ergebnis der von uns durchgeführten Kategorisierungsexperimente.

Nicht bestätigt werden konnten auch frühere Befunde, die nahelegen, dass kleine Mädchen sich eher vom Weinen anderer Menschen anstecken lassen, dass sie Gefühle im Gesicht der Mutter besser erkennen und dass sie sensibler darauf reagieren, wenn sich die Mutter abwendet und Freude eher mit ihr teilen.

Selbst wenn kleine Mädchen den Jungen in Gefühlsdingen voraus sein sollten, muss man sich fragen: Sind die beobachteten Unterschiede naturgegeben – oder das Resultat von Erziehung?

Sabina Pauen & Miriam Schneider, Universität Heidelberg/ Ruperto Carola
Stand: 25.08.2017

Der subtile Einfluss der Sozialisation

Prägung schon in der Wiege

Spätestens mit der Geburt beginnt ein Prozess, den wir Sozialisation nennen. Sobald elterliche Erwartungen ins Spiel kommen, wird das Verhalten des Kindes vor dem Hintergrund der Frage interpretiert, ob es sich um einen Jungen oder um ein Mädchen handelt.

Rosa oder Blau: Die Rollenvorstellungen des Umfelds beeinflussen Kinder schon von Geburt an. © Egal/iStock.com

Rosa und blau

In unseren Träumen, Hoffnungen und Ängsten spielt das Geschlecht des Kindes schon Monate vor der Geburt eine zentrale Rolle. Denn jede(r) von uns verbindet mit „Frau sein“ oder „Mann sein“ kulturell, geschichtlich und persönlich geprägte Vorstellungen. Über die Namensgebung, die Farbe und Art der Kleidung sowie weitere Äußerlichkeiten markieren wir das Geschlecht unseres Kindes später auch für die Öffentlichkeit, so dass selbst ein Fremder sehen kann, ob es sich um ein Mädchen oder einen Jungen handelt.

Und diese Markierung hat Implikationen. Legt man beispielsweise zwei Gruppen von Versuchsteilnehmern jeweils ein Bild des gleichen Kindes vor – einmal in einem mädchenhaft rosa Strampler und einmal in einem jungenhaft blauen Strampler – wird dasselbe Kind in Mädchenkleidern als kleiner, sanfter und mit feineren Gesichtszügen beschrieben als in Jungenkleidern. Darüber hinaus wurde beobachtet, dass demselben Kind – wenn es zuvor als „Junge“ vorgestellt worden war – mehr männliche Spielzeuge und Aktivitäten angeboten werden.

Unbewusste Wertung

Wie diese Beispiele deutlich machen, ist unser Verhalten gegenüber Mädchen und Jungen längst nicht so geschlechtsneutral, wie wir immer denken. Erst kürzlich hat eine Studie gezeigt, dass Väter beispielsweise mit Töchtern schon im Kleinkindalter unbewusst anders umgehen als mit Söhnen.

Das soll aber nicht heißen, dass nur die Gesellschaft über die psychologische Geschlechtsidentität eines Menschen entscheidet. Nicht selten haben Menschen das Gefühl, „im falschen Körper zu stecken“ – ein Phänomen, das sich kaum erklären lässt, wenn Geschlechtlichkeit ausschließlich ein Produkt von Erziehung und Sozialisation wäre.

Sabina Pauen & Miriam Schneider, Universität Heidelberg/ Ruperto Carola
Stand: 25.08.2017

Wie sich die Geschlechterrollen festigen

Kindergarten als Scheideweg

Kleinkindern ist es noch weitgehend gleichgültig, ob sie mit einem Mädchen oder einem Jungen spielen. Das ändert sich im Kindergartenalter: Jetzt wird es immer wichtiger, sich selbst eindeutig einem der beiden Geschlechter zuzuordnen.

Ab dem Kindergartenalter haben Mädchen und Jungen bereits geschlechtsspezifische Vorlieben – Kleidungs- und Spielzeughersteller fördern dies noch. © Ingram Publishing/ iStock.com

Haare, Kleidung, Spielzeug

Äußere Merkmale werden nun auch für die Kinder selbst immer wichtiger: Wer lange Haare hat und Kleider oder Röcke trägt, ist ein Mädchen; wer kurze Haare hat und immer nur Hosen trägt, ist ein Junge. Während die Jungen zumeist eher motorisch aktiv und umtriebig sind, spielen die Mädchen lieber stationär. Mädchen und Jungen wünschen sich unterschiedliche Spielzeuge, und die Wirtschaft kommt diesem Wunsch gerne entgegen, indem sie mit ihren Produkten gezielt die eine oder andere Geschlechtsgruppe anspricht.

Geschlechtstypische Vorlieben sind damit sowohl Teil unserer Identitätsbildung als auch Folge gesellschaftlicher Einflüsse. Wie unsere Studien zum Temperament im Säuglingsalter nahelegen, hat ein geschlechtsrollenspezifisches Verhalten biologische Wurzeln – aber es wird durch Beobachtungslernen und Imitation zusätzlich verstärkt.

Eine kleine Anekdote mag dies verdeutlichen: Eine Fünfjährige traf von sich aus die Unterscheidung zwischen „mamarieren“ – beispielsweise Hosen flicken – und „paparieren“ – beispielsweise den Computer wieder in Gang bringen – und markierte damit den geschlechtsneutralen Ausdruck „reparieren“ so, wie sie es aus der Beobachtung gelernt hatte.

Auch wenn sich die Väter dessen nicht bewusst sind: Sie behandeln ihre kleinen Töchter von Beginn an anders. © iStock.com

Der Einfluss der Eltern

Ein geschlechtsrollenkonformes Verhalten des Kindes wird von Bezugspersonen noch zusätzlich verstärkt. Egal, ob es um den Ausdruck von Gefühlen, um konkrete Handlungen oder um das Interesse an bestimmten Dingen geht – ständig kommentieren Erwachsene das Verhalten der Kinder zudem in bewertender Weise. Viele Eltern werden auch heute noch wenig davon begeistert sein, wenn ihr Sohn unbedingt Ballettunterricht nehmen will.

Durch die Wahl von Hobbys und bestimmten Aktivitäten wird indirekt der Freundeskreis bestimmt, und so tragen sukzessiv mehr und mehr unterschiedliche Faktoren dazu bei, dass sich Rollenbilder verfestigen. Deshalb mag es kaum mehr überraschen, dass sich Mädchen- und Jungengruppen während der Grundschulzeit immer stärker voneinander separieren.

Sabina Pauen & Miriam Schneider, Universität Heidelberg/ Ruperto Carola
Stand: 25.08.2017

Was Frau und Mann neurologisch unterscheidet

Frauengehirn – Männergehirn?

Damit stellt sich die wichtige Frage, wie sich die Biologie, aber auch die Erfahrungsunterschiede von Jungen und Mädchen auf das Reifen des Gehirns auswirken – und wie Unterschiede im Gehirn zwischen Männern und Frauen zum Entstehen von Rollenverhalten beitragen. Dies lässt sich nur verstehen, wenn wir uns zunächst mit den neurobiologischen Unterschieden zwischen Männern und Frauen befassen.

Gibt es das männliche oder weibliche Gehirn? Klar scheint: Die Übergänge sind fließend, dennoch gibt es Unterschiede. © Phonlama/ iStock.com

Grundsätzlich weisen die Gehirne von erwachsenen Frauen und Männern mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede auf. Die „Bausubstanz“ und das „Grundgerüst“ sind gleich – dennoch gibt es interessante Unterschiede in der Ausführung. So ist das männliche Gehirn etwa zehn Prozent größer als das weibliche. Die absolute Größe ist neurobiologisch betrachtet jedoch nicht relevant, ansonsten wären Elefanten und Pottwale dem Menschen kognitiv haushoch überlegen.

Die Vernetzung ist anders

Die kognitive Leistungsfähigkeit eines Gehirns hängt stattdessen von der Vernetzung einzelner Regionen ab und von der Zahl an Nervenzellen in bestimmten Hirnarealen. Mit bildgebenden Verfahren, die darstellen können, wie Nervenfasern im Gehirn verlaufen, konnte gezeigt werden, dass es bei Frauen mehr Verbindungen zwischen den beiden Hälften des Großhirns gibt. Bei Männern hingegen sind mehr neuronale Verknüpfungen innerhalb einer Hirnhälfte zu finden. Letzteres begünstigt unter anderem die Bewegungskoordination.

Die verstärkte Kommunikation zwischen den beiden Hirnhälften fördert bei Frauen die Verknüpfung analytischer und intuitiver Informationen. Auf der Verhaltensebene spiegelt sich dies wider in Aufgaben zur Aufmerksamkeitsleistung, zum Gedächtnis für Gesichter und Wortlisten sowie zu sozialkognitiven Fertigkeiten. Es gibt also durchaus Bezüge zwischen Unterschieden in der Entwicklung bestimmter Kompetenzen und Unterschieden in der Gehirnanatomie.

Die Mandelkerne (Amygdala) sind ein Hirnareal, das sich bei Männern und Frauen unterscheidet. © Life Science Databases(LSDB)/ CC-by-sa 2.1

Unterschiede auch in einigen Hirnarealen

Und auch in der Größe und Form bestimmter Hirnareale lassen sich Unterschiede zwischen erwachsenen Männern und Frauen feststellen. Zu diesen Gehirnregionen gehören der Hypothalamus, unser wichtigstes Steuerzentrum für das vegetative Nervensystem, und der Hippocampus, eine für Gedächtnis- und Lernprozesse bedeutsame Hirnstruktur.

Ebenfalls leicht unterschiedlich sind die für das Regulieren von Emotionen mitverantwortliche Amygdala und das Kleinhirn. Dieses ist an unterschiedlichen Prozessen von der motorischen Kontrolle bis hin zur Kognition und Regulation von Emotionen beteiligt. Dabei handelt es sich vor allem um stammesgeschichtlich ältere Teile unserer Schaltzentrale.

Unterschiede in der Verknüpfung scheinen während der Jugendphase noch zuzunehmen, was den neuronalen Reifungsprozessen in dieser Entwicklungsphase entspricht. Interessant ist darüber hinaus, dass die Gehirnreifungsprozesse bei Jungen und Mädchen in unterschiedlichem Tempo und Zeitrahmen verlaufen: Mädchen kommen deutlich früher als Jungen in die Pubertät, zudem dauert diese Phase bei ihnen kürzer an.

Unterschiede gibt es auch in der Vernetzung der Neuronen und Hirnareale. © iStock.com

Früher reif, aktiver und sensibler zugleich

Viele geschlechtsspezifische Unterschiede zeigen sich bei wichtigen Reifungsprozessen im Gehirn. So wurden beispielsweise Höchstwerte für das Volumen der grauen Substanz im Gehirn von Mädchen zu einem früheren Zeitpunkt berichtet als bei Jungen. Das Volumen der grauen Substanz wiederum korreliert mit höheren Intelligenzwerten in Arealen, die mit Gedächtnis, Aufmerksamkeit und Sprache in Zusammenhang gebracht werden.

Studien deuten zudem darauf hin, dass die Gehirne von Frauen ab der Pubertät stärker durchblutet sind und die Hirnaktivität von Frauen sowohl in Ruhe als auch beim Lösen von Aufgaben im Mittel höher ist als bei Männern.

Auch bei neuropsychiatrischen Erkrankungen wurden in den letzten Jahren interessante Geschlechtsunterschiede hinsichtlich der Prävalenz, der Diagnose und des Verlaufs gefunden. Das gilt beispielsweise für Alzheimer und andere Demenzerkrankungen, für Depressionen, Angststörungen, Schizophrenie, Schlaganfall, Multiple Sklerose, Autismus, Suchterkrankungen, ADHS und Essstörungen. Ein Teil dieser Unterschiede mag durch verschiedene Lebensgewohnheiten und ein mögliches Diagnose-Bias erklärbar sein, nicht jedoch das Ausmaß der beobachteten Differenzen.

Sabina Pauen & Miriam Schneider, Universität Heidelberg/ Ruperto Carola
Stand: 25.08.2017

Welche Rolle spielen die Hormone?

Östrogen, Testosteron und Co.

Was aber trägt zu all den Unterschieden im Verhalten und im Gehirn bei? Auf der Suche nach den neurophysiologischen Unterschieden zwischen Frauen und Männern fällt der Blick zuallererst auf die Geschlechtshormone.

Das weibliche Geschlechtshormon Östrogen beeinflusst nicht nur das Sexualverhalten und den Menstruationszyklus, es wirkt sich auch auf Verhalten und sogar Kognition von Frauen aus. © designer491/ iStock.com

Die Geschlechtshormone

Die genetisch festgelegte Produktion dieser Hormone – im Zusammenspiel mit direkten genetischen Effekten auf das Gehirn – ist hauptverantwortlich für die sexuelle Differenzierung während der Embryonalentwicklung und der Pubertät. Soviel scheint klar. Mit dem Eintritt in die Adoleszenz kommt der Menstruationszyklus als weiterer Faktor für eine geschlechtsspezifische Verhaltensregulation hinzu.

Die Geschlechtshormone Östrogen, Testosteron und Co. beeinflussen vor allem das Sexualverhalten, jedoch gibt es noch andere Verhaltensleistungen, die unter ihrem Einfluss variieren. So wurden beispielsweise hormonelle Auswirkungen auf kognitive Prozesse wie Gedächtnis oder Lernen, die Empfindlichkeit gegenüber Stress sowie Reaktionen auf Psychopharmaka beschrieben.

Unterschiede auch bei Neurotransmittern

Und auch die Botenstoffe des Gehirns und ihre Rezeptoren mischen mit, wenn es um den Unterschied zwischen Mann und Frau geht. So ist bekannt, dass sich Geschlechtsunterschiede in allen wichtigen Botenstoffsystemen des Gehirns finden und somit die gesamte Neurochemie des Gehirns betreffen.

Sie wirken sich auf die Synthese und das Freisetzen der Neurotransmitter, aber auch auf das Vorkommen und die Empfindlichkeit der Bindungsstellen aus. Dies könnte mitverantwortlich sein für Geschlechtsunterschiede bei neuropsychiatrischen Erkrankungen. Einige dieser Unterschiede in den Botenstoffsystemen von Mann und Frau sind durch den Einfluss der Geschlechtshormone erklärbar. Denn viele Botenstoffsysteme interagieren mit den Geschlechtshormonen – beispielsweise während verschiedener Phasen des Menstruationszyklus.

Nicht vergessen werden darf allerdings auch, dass die Hormonausschüttung in unserem Körper nicht nur von genetischen Programmen, sondern auch von Umweltfaktoren beeinflusst wird. So ist die Ausschüttung von Stresshormonen eng an die Erfahrung von stressigen Situationen gekoppelt, umgekehrt ist die Ausschüttung des Hormons Oxytocin eng mit der Erfahrung sozialer Nähe verknüpft.

Sabina Pauen & Miriam Schneider, Universität Heidelberg/ Ruperto Carola
Stand: 25.08.2017

Was macht uns nun zu Frau und Mann?

Ein komplexes Zusammenspiel

Die Antwort auf die Frage, was uns zu Frau und Mann macht, fällt komplex aus: Unsere genetische Ausstattung setzt zweifellos den Rahmen für die Geschlechterentwicklung, aber sie bestimmt sie keinesfalls alleine. Jeder von uns trägt zu Beginn seines Lebens das Männliche und das Weibliche in sich.

Unsere Geschlechtsidentität entwickelt sich auf Basis eines komplexen Zusammenspiels von Faktoren. © vaeenma/ iStock.com

Geprägt und beeinflusst von Anfang an

Doch schon während der Schwangerschaft bestimmen Umwelteinflüsse den Reifungsprozess in die eine oder andere Richtung mit. Sobald wir das Licht der Welt erblicken, tragen Verhaltensunterschiede zwischen Mädchen und Jungen dazu bei, dass das soziale Umfeld unterschiedlich auf beide Geschlechter reagiert. Aber auch die Erwartungen, Hoffnungen und Ängste der Bezugspersonen sind ausschlaggebend.

Im Wechselspiel zwischen Reifung und Sozialisation formen Kinder ihre Geschlechtsidentität und damit auch ihr Gehirn. Dabei gibt es eine Tendenz, Verhaltensmuster zu verfestigen, die in einer gegebenen Kultur dominieren, weil jedes Neugeborene sich an seine jeweilige soziale Umwelt anzupassen versucht.

Toleranz und Vielfalt

Schwer werden es immer diejenigen haben, deren Biologie nicht zu den Erfordernissen und Ansprüchen der Umwelt passt. Gleichzeitig ist es genau diese Gruppe, die uns helfen kann, flexibel im Denken über Geschlechtsunterschiede zu bleiben. Damit geben wir jedem Menschen die Chance, sich so zu entwickeln, wie es seinen Anlagen am ehesten entspricht.

Unsere Gene können wir nicht ändern – sehr wohl aber das Umfeld, auf das sie treffen und mit dem sie interagieren. Es sollte so gestaltet sein, dass Vielfalt möglich ist.

Sabina Pauen & Miriam Schneider, Universität Heidelberg/ Ruperto Carola
Stand: 25.08.2017