Einem rätselhaften Wahrnehmungs-Phänomen auf der Spur

Blindsehen

Blindsehen - trotz Blindheit reagieren einige Erblindete unbewusst auf visuelle Reize. © freeimages

Sie sind eindeutig blind, aber „sehen“ trotzdem: Blindseher sehen zwar keine Bilder, scheinen aber auf bestimmte optische Reize zu reagieren: Sie umgehen instinktiv Hindernisse oder greifen unerklärlich zielsicher nach Objekten. Dieses seit rund hundert Jahren bekannte Phänomen gibt bis heute Rätsel auf.

Eigentlich scheint die Sache klar: Wenn wir sehen, erzeugen Auge und Gehirn Abbilder unserer Umwelt in unserem Kopf. Funktioniert das Auge nicht mehr oder ist das Sehzentrum im Gehirn zerstört, klappt das nicht mehr und wir sind blind. Doch ein ebenso seltenes wie rätselhaftes Phänomen widerspricht dieser einfachen Vorstellung: Denn es gibt Menschen, die unbewusst auf visuelle Reizen reagieren, obwohl sie ansonsten nachgewiesener Maßen blind sind. Was aber hat es mit diesen Blindsehern auf sich und wie erklären sich Hirnforscher dieses Phänomen?

Nadja Podbregar
Stand: 29.08.2014

Wenn ein Blinder trotzdem "sieht"

Der alte Mann und der Korridor

Die primäre Sehrinde (rot) ist bei kortikal Erblindeten wie dem Patienten TN zerstört. Untergeordnette Bereiche der Sehrinde (orange) funktionieren zwar, könenn aber allein kein Bild produzieren. © gemeinfrei

„TN“ ist eindeutig blind: Der ältere Mann hat 2003 zwei schwere Schlaganfälle erlitten, die seine Sehrinde in beiden Gehirnhälften zerstörten – und damit den Ort, an dem unser bewusstes Sehen stattfindet. Denn erst hier, im visuellen Cortex werden die von der Netzhaut der Augen eintreffenden Signale verarbeitet und in Bilder umgesetzt. Ohne die Sehrinde ist ein Mensch daher blind, statt der Welt um sich herum sieht er nur schwarz.

Auch bei TN ist dies so, wie Sehtests belegen. Selbst wenn Ärzte ihm große Objekte direkt vor die Augen halten, kann er nicht sagen, ob dort etwas ist, geschweige denn was. Ein ganz normaler Blinder also – auch seiner eigenen Ansicht nach. Denn auch für TN ist klar, dass er nichts sieht. Kein Wunder, ist doch Blindheit gemeinhin keine sonderlich subtile oder schwer festzustellende Behinderung.

Navigation mit Hindernissen

Aber irgendetwas an TNs Verhalten machte stutzig: Obwohl er sich nur mit Blindenstock vorwärts tastete, schien er manchmal erstaunlich „sehend“ zu reagieren: Er griff ungewöhnlich zielsicher nach manchen Objekten und umging Hindernisse. Nur Zufall? Beatrice de Gelder von der Universität Tilburg in den Niederlanden und ihre Kollegen wollten es genauer wissen und stellten TN 2008 auf die Probe:

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Sie stellten in einem Korridor lauter Hindernisse auf, Pappkartons, ein Stativ, einen Mülleimer, und baten TN, diesen ohne seinen Stock entlangzugehen – ohne ihm zu verraten, dass es Hindernisse gab. Normalerweise würde ein Blinder dabei ständig mit den Objekten in seinem Weg kollidieren, denn er sieht sie ja nicht. Doch nicht so TN: Er bewegte sich scheinbar mühelos um die Hindernisse herum, presste sich sogar seitlich an die Wand, um eine besonders enge Stelle zu passieren. Er verhielt sich genau wie ein Sehender.

Blind und trotzdem sehend?

Aber wie war das möglich? War TN vielleicht doch nicht blind? Oder hatte er die Hindernisse auf andere Weise erfühlt? Die Forscher befragten ihren Probanden eingehend nach seinen Eindrücken. Doch TN verstand die ganze Aufregung nicht: Er war der festen Überzeugung, er wäre einfach ganz normal gelaufen, von irgendwelchen Hindernissen wusste er nichts. Auch eine Orientierung nach dem Gehör schlossen die Forscher aus, auch wenn einige Blinde durchaus mit Hilfe von an Wänden oder Objekten reflektierten Geräuschen navigieren können.

Für de Gelder und ihre Kollegen kam nur eine Erklärung in Frage: TN war ein Blindseher – ein Mensch, der zwar über keinerlei bewusstes Sehen mehr verfügt, aber der dennoch unbewusst auf bestimmte Sehreize reagieren kann. Was aber hat es mit diesem Phänomen auf sich?

Nadja Podbregar
Stand: 29.08.2014

Kein Bild, aber Formen und Gefühle

Was „sehen“ Blindseher?

Das Phänomen des „Blindsehens“ ist nicht neu: Schon 1917 berichteten einige Mediziner von Soldaten, die durch Kopfverletzungen im Ersten Weltkrieg Teile ihrer Sehrinde verloren hatten. Dennoch reagierten diese blinden oder teilweise blinden Soldaten beispielsweise auf Lichtblitze, indem sich ihre Pupillen zusammenzogen. Bei einigen folgten die Augen einem hellen Lichtpunkt, obwohl die Patienten angaben, absolut nichts zu sehen. Das Ganze wurde damals in der Fachwelt als Kuriosum abgetan und nicht weiter beachtet – auch weil es einfach zu wenige Patienten gab, die dieses Verhalten zeigten.

Auch bei Makaken, hier ein junger Rhesusaffe, lässt sich Blindsehen nachweisen. © Farazkhan007/CC-by-sa 3.0

Blitze, Formen und Größen

Erst seit den 1970er Jahren wird dieses Phänomen systematischer erforscht – größtenteils an Makaken, teilweise aber auch durch Untersuchungen mit menschlichen Patienten. Und diese brachten teilweise Erstaunliches zutage. So können Affen auch ohne primäre Sehrinde lernen, Helligkeiten, einfache Formen und die Richtung von Balken zu unterscheiden. Auch Bewegungen scheinen sie wahrnehmen zu können.

In einem weiteren Experiment zeigten Forscher einem jungen Mädchen mit einseitig zerstörter primärer Sehrinde verschieden große Objekte auf ihrer blinden Seite. Sie baten sie dann, mit ihrer Hand langsam nach diesem Objekt zu greifen. Für das Mädchen war das Objekt unsichtbar, auf ihrer blinden Seite hatte sie keine Chance, es zu sehen. Daher griff sie scheinbar aufs Geradewohl drauflos – und passte dabei seltsamerweise die Greifrichtung und die Öffnung ihrer Hand optimal an das Objekt an. Ihr selbst aber war diese Reaktion nicht bewusst, direkt gefragt, sagte sie immer, sie habe nichts gesehen oder sonstwie wahrgenommen.

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Gefühle – blind erahnt

Noch faszinierender ist ein Versuch, den Beatrice de Gelder mit zwei „Blindsehern“ in den 1990er Jahren durchführte. Dabei zeigte sie den Probanden Videofilme von Gesichtern mit unterschiedlichen Gefühlsausdrücken – mal traurig, mal lachend oder überrascht. „Normalerweise gelten Gesichter als visuell sehr komplex – und daher weitaus schwerer zu verarbeiten als einfache Formen“, erklärt de Gelder. Andererseits aber ist gerade das Erkennen von Emotionen eine sehr grundlegende, tief in unserem Wesen verankerte Fähigkeit. Und tatsächlich: Als die Probanden raten sollten, welche Emotion gerade im Video gezeigt wurde, lagen sie überraschend oft richtig – zu oft, als dass es bloßer Zufall sei konnte.

In einem weiteren Versuch ging de Gelder dieser „blinden“ Wahrnehmung von Gefühlen näher auf den Grund. Dafür nutzte sie das Phänomen der emotionalen Ansteckung: Wir neigen dazu, unseren eigenen Gesichtsausdruck unbewusst an den unseres Gegenübers anzupassen. Ist dieser traurig, ziehen auch wir unwillkürlich ein wenig die Mundwinkel herunter. Nicht immer ist diese Reaktion deutlich genug, um sichtbar zu werden, sie lässt sich aber an den feinen elektrischen Signalen der Gesichtsmuskeln messen.

Ein fröhliches Gesicht in der blinden Sehfeldhälfte - reagiert der Proband darauf? © de Gelder et al.

Unwillkürliche Muskelreaktion

Diese Technik setzten die Forscher nun auch bei den beiden Blindsehern ein: Sie zeigten ihnen Fotos von Portraits und Ganzkörperbilder von Menschen, die unterschiedliche Gefühle ausdrückten. Dabei maßen sie mittels Elektromyografie die Reaktionen der Gesichtsmuskeln der beiden Probanden. Und auch hier zeigte sich: Obwohl die Blindseher die Fotos nicht bewusst sahen, spiegelte ihr Gesicht die dargestellte Emotion wider. Beim Anblick besonders verängstigter Personen weitete sich zusätzlich ihre Pupille – ein Zeichen starker Gefühle.

Diese Experimente zeigen, dass „Blindseher“ durchaus visuelle Reize wahrnehmen – ohne dass sie sich dessen bewusst sind. Denn die meisten von ihnen sind der festen Ansicht, nichts dergleichen wahrnehmen zu können. Dies geht sogar so weit, dass vielen von ihnen den Ergebnissen der Forscher nicht glauben wollen. Aber kann dieses Phänomen trotzdem real sein?

Nadja Podbregar
Stand: 29.08.2014

Wie real ist das Phänomen des Blindsehens?

Alles nur Artefakte?

Ist das Phänomen des Blindsehens wirklich real? Oder sind mangelhafte Versuchsanordnungen und subtile psychologische Hilfen schuld an der so erstaunlichen Wahrnehmung der Blinden? Zumindest einige Beobachtungen könnten sich theoretisch auch anders erklären lassen – wenn auch nicht alle.

So wurde der durch Schlaganfälle erblindete Patient „TN“ bei seinem Gang durch den Korridor durch einen der Forscher begleitet. Dieser ging sehr dicht hinter ihm, um ihn notfalls auffangen zu können, sollte TN über ein Hindernis stolpern und stürzen. „Es wäre möglich, dass diese Person TN unwissentlich Hinweise gab, ähnlich wie das legendäre rechnende Pferd Hans“, erklärt Alan Cowey von der University of Oxford.

Der "Kluge Hans" bei einer Vorstellung seiner "Rechenkünste" © historisch

Nur ein „Kluger-Hans“-Effekt?

Der „Kluge Hans“ sorgte Anfang des 20. Jahrhunderts für Aufsehen, weil er einfache Rechenaufgaben, die ihm sein Besitzer stellte, scheinbar mühelos löste und das Ergebnis mit dem Huf auf den Boden klopfte. Nach eingehender Beobachtung stellte sich heraus: Mathematik beherrschte das Pferd zwar nicht, es konnte dafür aber sehr gut die feinen Nuancen der menschlichen Körpersprache lesen. Weil sich diese bei den Fragestellern immer leicht veränderte, sobald er bei der richtigen Anzahl der Klopfer angelangt war, wusste Hans, wann er aufhören musste.

Dieser „Kluger-Hans-Effekt“ erklärt jedoch nicht, warum ähnliche Hindernisparcours von Affen auch in völliger Abwesenheit der Experimentatoren mit Bravour gemeistert werden, wenn diesen die primäre Sehrinde fehlt. Ebenfalls schwer erklärbar ist auch, warum sich die Aktivität in dem für Gefühle zuständigen Hirnareal bei TN änderte, wenn ihm Bilder mit gefühlsbetonten Portraits vor die blinden Augen gehalten wurden.

Alles nur Psychologie?

Ebenfalls um unbewusste Beeinflussung geht es bei einem weiteren Einwand: Aus vielen psychologischen Untersuchungen ist bekannt, dass Probanden sich stark durch die realen oder vermuteten Erwartungen der Experimentatoren beeinflussen lassen. Sollen sie beispielsweise eine Reihe von Fragen mit „Ja“ oder „Nein“ zu beantworten, versuchen sie unbewusst, die Antwort zu geben, die sie für die richtige halten. Blindseher werden bei Wahrnehmungstests oft gebeten zu raten, ob ein visueller Reiz da ist oder nicht. Auch hier kann die Erwartungshaltung der Forscher dazu führen, dass sie häufiger angeben, ein Objekt erahnt zu haben als in Wirklichkeit der Fall.

Das unwillkürliche Erweitern der Pupille bei Erregung ist ein objektives Zeichen für einen wahrgenommenen Reiz. © gemeinfrei

Diese Verzerrung der Ergebnisse lässt sich aber durch eine entsprechende Experimentplanung vermeiden. Wird stattdessen beispielsweise eine nicht steuerbare Reaktion wie der Pupillenreflex oder das Verziehen der Gesichtsmuskeln gemessen oder soll der Proband in Richtung eines Objekts greifen, dann kommt dieser psychologische Effekt nicht oder zumindest weniger zum Tragen, wie Cowey erklärt. Da zahlreiche Experimente genau diese Methoden genutzt haben, muss das Blindsehen mehr sein als nur ein Versuchsartefakt.

Sehrinde-Inseln als Ursache?

Andere Erklärungsversuche setzen an eher neuroanatomischen Effekten an: Möglicherweise, so eine Theorie, gibt es in der zerstörten Sehrinde der Patienten noch kleine Inseln heiler Hirnzellen. Diese können dann zwar kein ganzes Bild mehr erzeugen, wohl aber noch Seheindrücke verarbeiten. Genauere Untersuchungen mit Hilfe der funktionellen Magnetresonanztomografie (MRT) sprechen jedoch gegen diese Theorie, wie Cowey erklärt: „Es gibt keinerlei Hinweis darauf, dass in der dem Sehausfall entsprechenden Region irgendetwas überlebt hat“, so der Hirnforscher.

Unter den Blindsehern gibt es allerdings nur extrem wenige Fälle, bei denen die Sehrinde in beiden Gehirnhälften zerstört wurde. Die meisten Untersuchungen finden daher mit Patienten statt, die einen einseitigen Sehfeldausfall haben, die sogenannte Hemianopsie. Dabei ist jeweils eine Seite des Gesichtsfelds auf beiden Augen blind. Fehlt beispielswiese die rechte Sehrinde, dann laufen alle Signale der linken Netzhauthälfte beider Augen ins Leere.

Blick auf die Netzhaut, der helle Bereich markiert die Einmündung des Sehnervs © Ske/ CC-by-sa 3.0

Informationen aus dem Streulicht?

An diesem Punkt knüpft ein weiterer Einwand an: Möglicherweise streut einfach nur Licht von der „blinden“ Seite der Netzhaut auf die andere, sehende Seite über. Oder Streulicht durch Reflexion an externen Objekten liefert die Informationen. Ein Versuch in den 1980er Jahren zeigte tatsächlich, dass einige Probanden einen hellen Lichtpunkt auf ihrer blinden Seite nur deshalb wahrnahmen, weil Licht von der Nase reflektiert und auf die sehende Seite der Netzhaut gestrahlt wurde. „Gegen dieses potenzielle Artefakt gibt es aber ein einfaches Gegenmittel: Einfach die sehende Seite mit einer Augenklappe abdecken“, sagt Cowey.

Auch Streuungen des Lichts innerhalb des Auges können dem Blindsehen ähnliche Effekte hervorbringen, wie Experimente Ende der 1990er belegten. Erkennen lässt sich dies daran, dass Licht verschiedener Wellenlängen im Auge leicht unterschiedlich streut. Der Streulicht-Effekt funktioniert dadurch bei grünem Licht schlechter. „Viele Studien zur spektralen Sensibilität bei Affen und menschlichen Blindsehern ergaben aber keinerlei Einbußen im grünen Bereich“, so Cowey. Das spreche gegen das Streulicht als Erklärung für das Blindsehen.

Was aber ist es dann? Was geschieht beim Blindsehen im Gehirn?

Nadja Podbregar
Stand: 29.08.2014

Wie unser Sehen normalerweise funktioniert

Ein komplexes Gefüge

Klar scheint: Das Phänomen des Blindsehens hat etwas damit zu tun, wie die visuellen Reize vom Auge ins Gehirn gelangen – und welche Hirnareale daran beteiligt sind. Genau das aber ist das Problem, denn schon das normale Sehen ist komplizierter, als man lange annahm.

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Von der Netzhaut zur Sehrinde

Beginnen wir beim Auge: Fällt Licht auf die Netzhaut, senden die Sehsinneszellen ein Signal aus, dass über den Sehnerv in Richtung Gehirn geleitet wird. Soweit ist noch alles übersichtlich. Doch jetzt wird es kompliziert: Am sogenannten Chiasma opticum überkreuzen sich die Sehnerven, bei uns Menschen wechseln hier etwa die Hälfte aller Sehnervenfasern die Seite. Dadurch werden Signale aus der rechten Seite unseres Gesichtsfelds in die linke Hirnhälfte geleitet, die aus der linken Seite beider Augen in die rechte.

Nächste Station der nunmehr in beiden Gehirnhälften getrennten Sehbahn ist das Zwischenhirn: Etwa 90 Prozent der Sehsignale werden dort von einer Art Schaltstation in Empfang genommen, den seitlichen Kniehöckern (Corpus geniculatum laterale). Sie bereiten die visuellen Reize auf, verstärken beispielsweise Kontraste und leiten die meisten Signale dann an die primäre Sehrinde weiter. Erst dort entsteht aus dem Aktivitätsmuster der Gehirnzellen das Abbild des Gesehenen. Ein kleiner Teil der Signale wird jedoch vom Kniehöcker auch an untergeordnete Sehzentren geschickt, dort werden einige Informationen zur Farbe, Form oder der räumlichen Anordnung getrennt ausgewertet und erst dann in die primäre Sehrinde zurückgeschickt.

Schema der Sehbahn, des Wegs eines Signals vom Auge bis zur primären Sehrinde. © Ratznium / CC-by-sa 3.0

Abzweig zum Mittelhirn

Das aber ist noch nicht alles: Denn rund zehn Prozent der Sehsignale zweigen schon vor dem Kniehöcker zu einem Areal im Mittelhirn ab, den Colliculus superior. Bei Fischen und Vögeln, denen eine noch Großhirnrinde fehlt, ist dieser Signalweg sogar der Hauptempfänger aller Sehreize. Bei uns spielt er dagegen nur noch eine untergeordnete Rolle, die primäre Sehrinde hat einen Großteil seiner Aufgaben übernommen.

Die im Colliculus superior verarbeiteten Signale dienen bei uns nicht mehr dem bewussten Sehen, sondern steuern beispielsweise den Reflex, der die Pupille bei hellem Licht zusammenzieht und sie bei Dunkelheit erweitert. Unbewusste Ausgleichsbewegungen der Augen gehen ebenfalls darauf zurück und auch die innere Uhr erhält ihre Informationen über die Helligkeit der Umwelt über diese abgezweigten Signale.

Seheindruck als Gesamtkunstwerk

Das alles aber macht klar: Das Bild unserer Umwelt, das wir beim normalem Sehen wahrnehmen, ist keine simple Projektion, sondern ein komplexes, aus dem Zusammenwirken vieler verschiedener Teile des Gehirns zusammengefügtes Gesamtkunstwerk.

Was aber bedeutet dies für das Blindsehen?

Nadja Podbregar
Stand: 29.08.2014

Die Suche nach den Ursachen des Blindsehens im Gehirn

Wer ist der „Täter“?

Theorien dazu, wie die unbewusste Sehwahrnehmung bei Blindsehern funktioniert, gibt es vermutlich fast so viele, wie es Forschergruppen gibt. Einig ist man sich aber immerhin darin, dass bei „Blindsehern“ das komplexe Gefüge des Sehens an einer entscheidenden Stelle unterbrochen ist: der primären Sehrinde. Mit ihr fehlt den Betroffenen genau die Einheit, die die letztendliche Auswertung der Sehreize übernimmt. Damit kann kein Bild des Wahrgenommenen mehr entstehen. Woher aber kommen die Signale, die trotzdem Reaktionen auf Sehreize ermöglichen?

Vierhügelplatte im menschlichen Gehirn. (2 = Colliculi superioris): Liegt hier die Ursache des Blindsehens? © John A Beal / Louisiana State University/ CC-by-sa 2.5 gen

Weinrote Quadrate und der Colliculus

Beatrice de Gelder und ihre Kollegen von der Tilburg Universität verorten den „Täter“ im Colliculus superior – und präsentierten dafür 2009 auch experimentelle Belege: In Versuch zeigten sie hemianoptischen Blindsehern entweder graue oder weinrote Quadrate auf der blinden Seite ihres Sehfelds. Die weinrote Farbe wird im Auge nur von einem bestimmten Typ von Sehsinneszellen registriert – und von diesen ist bekannt, dass sie keine Informationen an den Colliculus superior weitergeben.

Sollte der Colliculus tatsächlich die Hauptrolle im Blindsehen spielen, müssten die Patienten folglich auf die grauen Quadrate reagieren, nicht aber auch die weinroten. Und tatsächlich: Erschien ein graues Quadrat im blinden Bereich der Probanden, verengten sich unwillkürlich ihre Pupillen und die per Elektroden gemessene Aktivität im Colliculus superior nahm zu, wie de Gelder berichtet. Die Probanden nahmen diesen Reiz demnach unterschwellig wahr. Anders dagegen bei den weinroten Quadraten: Hier zeigte sich keine Reaktion, weder im Gehirn noch in der Pupille.

„Diese Ergebnisse zeigen, dass der Colliculus superior zu Verhaltensreaktionen auf visuelle Reize beiträgt – und dies völlig außerhalb der bewussten Sehwahrnehmung“, so Gelder. Gestützt wird ihre Ansicht durch Versuche mit Makaken: Wurde bei diesen der Colliculus superior zerstört, verloren sie auch ihre Fähigkeit zum Blindsehen.

...oder sind doch die seitlichen Kniehöcker verantwortlich? Sie senden Signale auch an untergeordnete Zentren der Sehrinde. © Pancrat/ CC-by-sa 3.0

…oder doch die Kniehöcker?

Aber es gibt auch noch einen anderen Kandidaten: die seitlichen Kniehöcker. Hier sehen unter anderem Forscher um Michael Schmid vom Ernst Strüngmann Institute (ESI) for Neuroscience in Frankfurt am Main den Urheber des Blindsehens. In ihren Experimenten konnten Makaken mit fehlender primärer Sehrinde kontrastreiche Reize problemlos orten.

Gleichzeitig zeigten Aufnahmen mittels funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRT), dass tatsächlich Signale in den untergeordneten Sehzentren ankamen. Auch die seitlichen Kniehöcker waren aktiv. Wurden bei den Affen jedoch auch die Kniehöcker deaktiviert, blieb jede Reaktion aus – sie waren komplett blind und hatten ihre Fähigkeit zum Blindsehen verloren. „Diese Ergebnisse zeigen, dass der seitliche Kniehöcker für das Blindsehen von zentraler Bedeutung ist, so Schmid.

Noch viele offene Fragen

Allerdings: Untersuchungen an Affen und menschlichen Patienten zeigen, dass der Kniehöcker ohne sein Ziel, die primäre Sehrinde, nicht lange funktionsfähig bleibt. Wird die Sehrinde zerstört, sterben die Projektionsneuronen in den wichtigsten Schichten dieser Schaltstelle ebenfalls ab. Nach zwölf Wochen waren sie in einer Studie bei Makaken komplett verschwunden. Andererseits gibt es Hinweise darauf, dass einige Neuronen des Kniehöckers überleben – und zwar genau die Zellen, die Signale an Sehzentren außerhalb der primären Sehrinde weiterleiten.

Noch ist nicht endgültig geklärt, was sdas Blindsehen hervorruft © freeimages

Colliculus superior, Kniehöcker – oder vielleicht beide? Noch ist die Frage nicht endgültig geklärt, welche Hirnareale nun tatsächlich für das Blindsehen verantwortlich sind. Auch welche untergeordneten Zenten der Sehrinde dafür eine Rolle spielen und was genau dabei in ihnen vorgeht, ist noch weitgehend unbekannt. Die letzten Geheinisse dieses seltsamen Phänomens warten daher noch immer auf ihre Enträtselung.

Nadja Podbregar
Stand: 29.08.2014