Ist das Phänomen des Blindsehens wirklich real? Oder sind mangelhafte Versuchsanordnungen und subtile psychologische Hilfen schuld an der so erstaunlichen Wahrnehmung der Blinden? Zumindest einige Beobachtungen könnten sich theoretisch auch anders erklären lassen – wenn auch nicht alle.
So wurde der durch Schlaganfälle erblindete Patient „TN“ bei seinem Gang durch den Korridor durch einen der Forscher begleitet. Dieser ging sehr dicht hinter ihm, um ihn notfalls auffangen zu können, sollte TN über ein Hindernis stolpern und stürzen. „Es wäre möglich, dass diese Person TN unwissentlich Hinweise gab, ähnlich wie das legendäre rechnende Pferd Hans“, erklärt Alan Cowey von der University of Oxford.
Der "Kluge Hans" bei einer Vorstellung seiner "Rechenkünste" © historisch
Nur ein „Kluger-Hans“-Effekt?
Der „Kluge Hans“ sorgte Anfang des 20. Jahrhunderts für Aufsehen, weil er einfache Rechenaufgaben, die ihm sein Besitzer stellte, scheinbar mühelos löste und das Ergebnis mit dem Huf auf den Boden klopfte. Nach eingehender Beobachtung stellte sich heraus: Mathematik beherrschte das Pferd zwar nicht, es konnte dafür aber sehr gut die feinen Nuancen der menschlichen Körpersprache lesen. Weil sich diese bei den Fragestellern immer leicht veränderte, sobald er bei der richtigen Anzahl der Klopfer angelangt war, wusste Hans, wann er aufhören musste.
Dieser „Kluger-Hans-Effekt“ erklärt jedoch nicht, warum ähnliche Hindernisparcours von Affen auch in völliger Abwesenheit der Experimentatoren mit Bravour gemeistert werden, wenn diesen die primäre Sehrinde fehlt. Ebenfalls schwer erklärbar ist auch, warum sich die Aktivität in dem für Gefühle zuständigen Hirnareal bei TN änderte, wenn ihm Bilder mit gefühlsbetonten Portraits vor die blinden Augen gehalten wurden.
Alles nur Psychologie?
Ebenfalls um unbewusste Beeinflussung geht es bei einem weiteren Einwand: Aus vielen psychologischen Untersuchungen ist bekannt, dass Probanden sich stark durch die realen oder vermuteten Erwartungen der Experimentatoren beeinflussen lassen. Sollen sie beispielsweise eine Reihe von Fragen mit „Ja“ oder „Nein“ zu beantworten, versuchen sie unbewusst, die Antwort zu geben, die sie für die richtige halten. Blindseher werden bei Wahrnehmungstests oft gebeten zu raten, ob ein visueller Reiz da ist oder nicht. Auch hier kann die Erwartungshaltung der Forscher dazu führen, dass sie häufiger angeben, ein Objekt erahnt zu haben als in Wirklichkeit der Fall.
Das unwillkürliche Erweitern der Pupille bei Erregung ist ein objektives Zeichen für einen wahrgenommenen Reiz. © gemeinfrei
Diese Verzerrung der Ergebnisse lässt sich aber durch eine entsprechende Experimentplanung vermeiden. Wird stattdessen beispielsweise eine nicht steuerbare Reaktion wie der Pupillenreflex oder das Verziehen der Gesichtsmuskeln gemessen oder soll der Proband in Richtung eines Objekts greifen, dann kommt dieser psychologische Effekt nicht oder zumindest weniger zum Tragen, wie Cowey erklärt. Da zahlreiche Experimente genau diese Methoden genutzt haben, muss das Blindsehen mehr sein als nur ein Versuchsartefakt.
Sehrinde-Inseln als Ursache?
Andere Erklärungsversuche setzen an eher neuroanatomischen Effekten an: Möglicherweise, so eine Theorie, gibt es in der zerstörten Sehrinde der Patienten noch kleine Inseln heiler Hirnzellen. Diese können dann zwar kein ganzes Bild mehr erzeugen, wohl aber noch Seheindrücke verarbeiten. Genauere Untersuchungen mit Hilfe der funktionellen Magnetresonanztomografie (MRT) sprechen jedoch gegen diese Theorie, wie Cowey erklärt: „Es gibt keinerlei Hinweis darauf, dass in der dem Sehausfall entsprechenden Region irgendetwas überlebt hat“, so der Hirnforscher.
Unter den Blindsehern gibt es allerdings nur extrem wenige Fälle, bei denen die Sehrinde in beiden Gehirnhälften zerstört wurde. Die meisten Untersuchungen finden daher mit Patienten statt, die einen einseitigen Sehfeldausfall haben, die sogenannte Hemianopsie. Dabei ist jeweils eine Seite des Gesichtsfelds auf beiden Augen blind. Fehlt beispielswiese die rechte Sehrinde, dann laufen alle Signale der linken Netzhauthälfte beider Augen ins Leere.
Blick auf die Netzhaut, der helle Bereich markiert die Einmündung des Sehnervs © Ske/ CC-by-sa 3.0
Informationen aus dem Streulicht?
An diesem Punkt knüpft ein weiterer Einwand an: Möglicherweise streut einfach nur Licht von der „blinden“ Seite der Netzhaut auf die andere, sehende Seite über. Oder Streulicht durch Reflexion an externen Objekten liefert die Informationen. Ein Versuch in den 1980er Jahren zeigte tatsächlich, dass einige Probanden einen hellen Lichtpunkt auf ihrer blinden Seite nur deshalb wahrnahmen, weil Licht von der Nase reflektiert und auf die sehende Seite der Netzhaut gestrahlt wurde. „Gegen dieses potenzielle Artefakt gibt es aber ein einfaches Gegenmittel: Einfach die sehende Seite mit einer Augenklappe abdecken“, sagt Cowey.
Auch Streuungen des Lichts innerhalb des Auges können dem Blindsehen ähnliche Effekte hervorbringen, wie Experimente Ende der 1990er belegten. Erkennen lässt sich dies daran, dass Licht verschiedener Wellenlängen im Auge leicht unterschiedlich streut. Der Streulicht-Effekt funktioniert dadurch bei grünem Licht schlechter. „Viele Studien zur spektralen Sensibilität bei Affen und menschlichen Blindsehern ergaben aber keinerlei Einbußen im grünen Bereich“, so Cowey. Das spreche gegen das Streulicht als Erklärung für das Blindsehen.
Was aber ist es dann? Was geschieht beim Blindsehen im Gehirn?
Nadja Podbregar
Stand: 29.08.2014