Das „Great Barrier Reef“ des Nordens

Kaltwasserkorallen

Kaltwasserkoralle Oculina varicosa © NOAA Oceanexplorer

Riffe, Korallen und Fische im Überfluss – wer denkt da nicht an Urlaub, warmes Wasser oder das tropische Great Barrier Reef? Doch auch im kühlen Atlantik gibt es ein riesiges Riffsystem, das sich von Spanien bis zum Nordmeer erstreckt. Kaltwasserkorallen heißen die Überlebenskünstler, deren Erforschung jedoch erst noch am Anfang steht.

Mittlerweile bestätigen jedoch immer neue Funde, dass Kaltwasserkorallen nicht nur im Atlantik sondern weltweit verbreitet sind. Denn seitdem die Forscher mit neuester Technik gezielt auf die Suche gehen, tauchen sie scheinbar überall auf: Egal ob Norwegen, Kanada, Neuseeland, Japan oder Südafrika – die Liste der Länder, vor deren Küste Kaltwasserriffe existieren, ist inzwischen auf mehrere Dutzend angestiegen. Was daher zunächst als Skurrilität galt, scheint vielmehr ein fester Bestandteil des Ökosystems Meer zu sein.

Doch wie schaffen es die Tiere, im dunklen und kalten Wasser zu überleben? Denn im Gegensatz zu ihren tropischen Verwandten siedeln die Korallen abseits der Wasseroberfläche in mehreren hundert bis tausenden Metern Tiefe. Welche Nahrungsstrategien besitzen die Korallen und welche Bedeutung haben sie für das Ökosystem Meer? Können die Riffe wirklich Aufschluss über das Klima der Vergangenheit geben und warum sind sie schon jetzt Opfer des derzeitigen Klimawandels?

Trotz der vielen noch offenen Fragen, steht bereits jetzt fest, dass die Kaltwasserkorallen zu den alteingesessenen Bewohnern der Meere gehören. So hat die Analyse von Bohrkernen ergeben, dass einige der entdeckten Riffe über zweihunderttausend Jahre alt sind – Fossilienfunde reichen sogar über 30 Millionen Jahren zurück. Doch kaum entdeckt, könnten die ungewöhnlichen Blumentiere und ihre imposanten Bauwerke schon bald der Vergangenheit angehören. Denn Schleppnetzfischerei und die zunehmende Versauerung der Weltmeere setzen ihnen immer weiter zu.

Andreas Heitkamp
Stand: 07.07.2006

Eine Tauchfahrt in die Tiefe

Leben im Dunkel

Aussetzen des Tauchbootes JAGO im Stjersund vor Norwegens Küste © K.Hissmann (IFM-Geomar)

Gurgelnd schlägt das Wasser über dem Forschungstauchboot JAGO zusammen, das rasch und lautlos in die Tiefe gleitet. Schummriges Dämmerlicht dringt durch die Glaskuppel in das enge Innere, das alsbald von der ewigen Dunkelheit des Nordatlantiks abgelöst wird. Nur das schmale Scheinwerferlicht gibt den Blick immer wieder frei auf majestätische Quallen, huschende Fische und trübe Planktonschwärme. Immer weiter geht es hinab, bis endlich in mehreren hundert Metern Tiefe der Grund des Meeres schemenhaft auftaucht. Eine erste Aufregung macht sich bei Professor André Freiwald von der Universität Erlangen-Nürnberg bemerkbar. Denn schon bald wird er wieder mit eigenen Augen sehen, was ihm bis vor einigen Jahren niemand glauben mochte: Korallenriffe am Boden des Nordmeers.

Rätselhafte Überlebenskünstler

Nur wenige Grad Celsius zeigt das Außenthermometer des Tauchboots an. Eben diese Kälte und das fehlende Sonnenlicht ließen die Fachwelt immer wieder an der Existenz der Korallen zweifeln. Dabei hatte es schon länger Hinweise auf die mögliche Existenz der Riffe gegeben. Fischer fanden immer mal wieder seltsame Bruchstücke von „Ästen“ in ihren Netzen und auch an den Stränden Norwegen spülte das Meer ab und zu Überreste der Korallen an. Doch wie sollten diese unter den unwirtlichen Bedingungen überleben können?

Bruchstück der Kaltwasserkoralle Madrepora occulata © NOAA Oceanexplorer

Freiwald und sein Team gingen den Gerüchten Mitte der 1990er Jahre erstmals systematisch auf den Grund – und wurden fündig. Heute zählt der Paläontologe zu den weltweit führenden Experten für Kaltwasserkorallen und fördert immer wieder neue Erkenntnisse über die seltsame Welt in der Tiefe zutage. „Die eigentliche Erforschung der biologischen Langzeitdynamik und Funktionalität der Artengruppen steht aber erst am Beginn“, schränkt Freiwald die Erfolge der letzten Jahre rasch ein. Daher ist Freiwald auch bei dieser Tauchfahrt im Rahmen von HERMES dabei, einem EU-Projekt zur Erforschung der europäischen Kontinentalränder.

„Bonsai-Wald“ am Meeresgrund

Zahlreiche Fische umschwärmen die Glaskuppel, als sich JAGO vorsichtig dem „Unterwassergarten“ nähert. Zart und zerbrechlich schillern die hellweißen bis zartrosa Ästchen, welche die Steinkorallen fächerförmig in alle Richtungen ausstrecken. Krebse, Muscheln, Anemonen und Kleinstlebewesen tummeln sich auf dem haushohen Riff, das sich in Jahrtausenden aus den kalkhaltigen Überresten der Korallen gebildet hat. Langsam und in Millimeterarbeit entnimmt der Pilot mithilfe eines Greifarms einige Proben aus dem Untergrund. Durch deren Analyse im Labor, so hofft Freiwald, lässt sich mehr über die Lebensbedingungen in der Tiefe in Erfahrung bringen.

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Rund zwei Stunden verbleibt der Forscher am Riff vor Norwegens Küste, macht Fotos und Videoaufnahmen und nimmt Wasserproben. Doch letztendlich bleibt ihm nur noch ein letzter Blick auf die Korallenfelder durch die schmale Sichtkuppel des Tauchboots – denn auch wenn die Technik theoretisch ein Überleben von bis zu vier Tagen unter Wasser ermöglicht, sind die Forscher schließlich doch nur Gast am Meeresgrund. Schweren Herzens gibt Freiwald daher den Befehl zum Auftauchen und langsam verlieren sich die Riffe wieder in der Dunkelheit. Auch wenn der Paläontologe gespannt an die Auswertung der gesammelten Proben und die Sichtung des Videomaterials denkt, so freut er sich doch auch auf die nächste Tauchfahrt.

Denn trotz der konzentrierten Arbeit in der engen Kapsel bleibt dem Forscher immer wieder Zeit zum Staunen. So weiß Freiwald von einem besonderen Tauchgang in der Nähe der Lofoten zu berichten. Dort war er abseits der Riffe auf dichte Ansammlungen von Brachiopoden auf dem flachen Meeresboden gestoßen. „Brachiopoden, auch als „Armfüßer“ bezeichnet, waren besonders im Erdaltertum sehr weit verbreitet“, erklärt Freiwald. „Als Paläontologe fühlte ich mich bei den Tauchfahrten in eine Zeit vor 300 Millionen Jahren zurückversetzt. Ein sehr beeindruckendes Erlebnis.“ Dieses wird wohl nicht das letzte gewesen sein, denn bis alle Geheimnisse um die Korallengärten gelüftet sind, wird Freiwald wohl noch häufig in die kalte Welt der Steinkorallen hinab tauchen müssen.


Stand: 06.07.2006

Korallenriffe im Nirgendwo

Überraschung am Meeresgrund

Weltweite Fundstellen von Kaltwasserriffen © UNEP-WCMC

Gerade einmal zwölf Jahre ist es her, dass Paläontologen der Universität Erlangen-Nürnberg eine sensationelle Entdeckung machten: An den Kontinentalrändern des kalten Nordatlantiks sowie der Barents-See fanden sie Riffstrukturen, die bislang nur aus den warmen und lichtdurchfluteten Flachwassermeeren der subtropisch-tropischen Klimazone bekannt waren. Von Norwegen bis nach Spanien erstreckt sich im lockeren Verbund ein Korallengürtel, der mit einer Länge von 4.500 Kilometern das bekannte australische Great Barrier Reef um weit mehr als das Doppelte übertrifft.

Lichtscheue Gesellen

„Die Vorkommen der Kaltwasserkorallen, die wir im letzen Jahr vor Nordnorwegen erkundeten, waren viel größer als wir bisher angenommen haben“, erklärt Christian Dullo, Professor für Paläo-Ozeanographie am IFM-GEOMAR, dem Leibniz-Institut für Meereswissenschaften an der Universität Kiel. „Mit Hilfe des Tauchboots JAGO konnten wir die Ausmaße und die vorkommenden Arten erstmals viel besser bestimmen“, so Dullo. Das Unterwasserfahrzeug bietet Platz für zwei Wissenschaftler und hat sich im Einsatz schon des Öfteren bewährt, beispielsweise bei der sensationellen Entdeckung des Quastenflossers vor einigen Jahren.

Ulf Riebesell vom IFM-Gemoar begutachtet die Kaltwasserkoralle Lophelia pertusa. © K.Hissmann (IFM-Geomar)

Solche Tauchgeräte sind für die Erforschung der Kaltwasserkorallen unerlässlich, da sie bevorzugt in einigen hundert Metern Tiefe leben. Vor der Küste Neuenglands im Nordatlantik konnten die Überlebenskünstler sogar noch in einer Meerestiefe von 3.300 Metern nachgewiesen werden. Damit unterscheiden sich die beiden dominierenden Arten, Lophelia pertusa und Madrepora oculata, erheblich von ihren tropischen Verwandten. Denn diese sind auf das Sonnenlicht als Energielieferant angewiesen und siedeln daher stets in den wärmedurchströmten Flachwasserbereichen mit einer maximalen Wassertiefe von 100 Metern.

„Tiefwasser-Riffe haben neben 'Schwarzen Rauchern' und Schlammvulkanen eine neue Runde der geo-biologischen Meeresforschung eingeleitet“, ordnet André Freiwald die wissenschaftliche Bedeutung der Kaltwasserkorallen ein. So hat ihre Entdeckung gezeigt, dass die Meere noch erheblich mehr Überraschungen zu bieten haben, als bislang vermutet. Eigentlich kein Wunder, denn die Kontinentalränder als Heimat der Kaltwasserkorallen sind größtenteils noch weiße Flecken auf den Forscherlandkarten. Insgesamt gelten sogar nur zehn Prozent des Meeresbodens als kartiert – weitaus weniger, als von der Oberfläche des Mondes bekannt ist.


Stand: 07.07.2006

Ernährungsstrategien unter Wasser

Überleben im Alleingang

Kaltwasserriff mit mehreren Korallenarten im Stjernsund vor Norwegens Küste © Ch. Dullo (IFM-Geomar)

Die Kaltwasserkorallen wachsen im Vergleich zu ihren tropischen Verwandten geradezu im Zeitlupentempo: Maximal 2,5 Zentimeter im Jahr legen die Tiere pro Jahr an Größe zu, im Durchschnitt sogar wesentlich weniger. Warmwasserkorallen kommen hingegen jährlich auf ein Höhenwachstum von rund 15 Zentimetern. Auch in der Artenvielfalt stehen die Kaltwasserkorallen zurück, denn lediglich 10 bislang nachgewiesene Korallenarten sind in den kalten Gewässern am Bau der Riffgerüste beteiligt – in den Tropen sind es hingegen über 800.

Stockwerk für Stockwerk

Doch wie entstehen trotzdem so imposante Riffstrukturen, die wie vor der Küste Irlands bis zu 200 Meter hoch werden können? In der grundlegenden Bauweise unterscheiden sich die Riffe der Kaltwasserkorallen kaum von ihren tropischen Verwandten. So sondern die Nesseltiere während ihres Wachstums das aus dem Meerwasser und dem Plankton aufgenommene Kalziumkarbonat als Kalk ab. Daraus bilden sie im Laufe der Zeit becherförmige Gehäuse als Wohnhöhlen, die in ihrer Gesamtheit dann das Skelett eines Riffes bilden. Sterben die Tiere ab, so dienen diese Korallenstöcke wiederum als Basis für neue Polypengenerationen. So entsteht mit der Zeit ein Riff, das langsam aber sicher in die Höhe wächst.

Der Ruderfußkrebs Neocalanus ist vor allem in artischen und subartischen Gewässern heimisch. © NOAA Oceanexplorer

„Die Riffe sitzen häufig an topographisch erhabenen Positionen, an denen sich die Strömungen und somit auch der Nahrungsanteil konzentrieren“, erklärt Freiwald die bevorzugte Verbreitung der Kaltwasserkorallen. Zum Nahrungsfang strecken sie die mit Nesselkapseln ausgestatteten Fangarme aus und fischen so ihr Hauptnahrungsmittel – das Plankton – aus dem Wasser. „Nicht-symbiontische Korallen, wie Lophelia, ernähren sich von Zooplankton wie beispielsweise Ruderfußkrebsen“, fügt Freiwald hinzu.

Ohne Symbiose geht es auch

Erst diese Vorliebe für „Frischfleisch“ ermöglicht es den Korallen, in der Tiefe und fernab vom Sonnenlicht zu überleben. Ihre Ernährungsstrategie unterscheidet sich damit grundlegend von den tropischen Arten. Denn diese sind im Laufe der Evolution aufgrund des relativ nährstoffarmen warmen Wassers eine nützliche Symbiose mit einzelligen Algen eingegangen. Diese sitzen in der Außenhaut des Polypen und erzeugen mithilfe von Licht die nötigen Nährstoffe wie Zucker und Aminosäuren – sie betreiben Photosynthese. Übrigens sind diese Algen auch für die bunten Farben in den tropischen Korallengärten verantwortlich, da sie je nach Art unterschiedliche Farbpigmente bilden.

Kaltwasserkoralle Lophelia © Ken Sulak, USGS

Da die Kaltwasserkorallen hingegen ohne diese Algen auskommen und ihr Überleben letztendlich im Alleingang meistern, sind sie in der Regel auch farblos oder weißgrau. Dabei machen sie ihrem Namen alle Ehre und gedeihen nur bei Wassertemperaturen zwischen vier bis maximal 13 Grad Celsius. Bis heute konnten weniger als 10 Arten dieser Spezialisten nachgewiesen werden: zu den wichtigsten Riffbildnern zählen Lophelia, Oculina, Madrepora, Enallopsammia, Goniocorella und Solenosmilia.

Je mehr Strömung, desto besser

Auf einer seiner Tauchfahrten ist Freiwald im Stjernsund vor Norwegens Küste auf ein ganz besonderes Riff gestoßen. Denn dort gliedert eine vor etwa 10.000 Jahren abgelagerte Endmoräne den Meeresarm in zwei Teilbecken von je mehr als 400 Meter Wassertiefe. „Die Endmoräne agiert heute als eine Unterwasserbarriere gegen den starken Gezeitenstrom und ragt bis in 200 Meter Wassertiefe auf“, erklärt der Paläontologe.

„Die Wuchsformen der riffbildenden Korallen weisen auf die extremen Strömungsbedingungen hin – wenig verkalkte und zu Bonsaiwuchs neigende Lophelia Kolonien finden sich auf dem Dach der Schwelle und „normal- wüchsige Korallen ausschließlich daneben.“, weiß Freiwald zu berichten. Entsprechend ihrer Vorliebe für schnell fließendes Wasser, haben sich die Korallen daher auf der strömungszugewandten Seite am stärksten entwickelt.


Stand: 07.07.2006

Bodenschleppnetze bedrohen Korallengärten

Kinderstube für Hochseefische

Ein Lumb zwischen Kaltwasserkorallen im Stjernsund vor Norwegens Küste © K.Hissmann (IFM-Geomar)

Ob Krebse, Muscheln, Schwämme oder Schnecken – die Kaltwasserriffe sind Anlaufstelle für zahlreiche Meerestiere. Wie in einer Oase in der Wüste wimmelt es hier nur so vor Leben. Wissenschaftler konnten bislang mehr als 1.000 verschiedene Arten registrieren, welche die Korallengärten als Nahrungs-, Brut- oder Fortpflanzungsrevier nutzen. Auch wenn das vollständige Arteninventar noch im Dunkeln liegt und sich auch je nach Region unterscheidet, scheinen die Kaltwasserkorallen doch als regelrechtes Verteilzentrum für Meeresorganismen zu dienen.

Fische im Überfluss

„Bei den Tauchgängen mit JAGO fiel zudem stets der Fischreichtum innerhalb der Korallenareale auf“, fügt Freiwald hinzu. Kabeljau, Rotbarsch und Seelachs scheinen sich an den Hängen und Schluchten der Riffe richtig wohl zu fühlen. „Einige Fische wie beispielsweise der Lumb, zeigen ein ausgeprägtes Territorialverhalten und „bewachten“ größere Korallenkolonien“, weiß Freiwald zu berichten. „Wir fanden auch viele Eigelege von Fischen und Kopffüßern in den Riffgebieten. Obgleich es zurzeit noch schwer zu quantifizieren ist, verdichten sich die Hinweise zur Bedeutung der Riffe als Kinderstube für viele Arten.“

Frosch der neotropischen Art Agalychnis lemur © Senckenberg

Doch möglicherweise gehören diese uralten tierischen „Wohngebiete“ schon bald der Vergangenheit an. Denn Meeresverschmutzung und die Hochseefischerei mit ihren schweren Schleppnetzen haben den Kaltwasserriffen bereits schwer zugesetzt. „Wir dürfen nicht vergessen, dass viele Riffgebiete im Einzugsgebiet der klassischen Hochseefischerei liegen“, erklärt Freiwald die potenzielle Bedrohung der Riffe. So werden etwa seit zwanzig Jahren in der Hochseefischerei zunehmend Bodenschleppnetze eingesetzt. Diese reichen bis in eine Tiefe von 1.500 Metern und pflügen auf ihrer Suche nach Beute den Meeresboden regelrecht um. Wuchtige Rollen und Metallschilde beschweren die fast fußballfeldbreiten Netze und hinterlassen tiefe Spuren am Boden.

Tiefe Narben im Riff

Vorschläge für Kaltwasserkorallen-Schutzgebiete - einige wie die Darwin Mounds sowie vor der Küste Norwegens und Irlands konnten inzwischen verwirklicht werden. © Stephan Lutter, WWF

Besonders gut dokumentiert sind diese Schäden an den Darwin Mounds, ungefähr 200 Meilen nordwestlich vor Schottland gelegen. Bereits im Jahr 1998 hatten Sonaraufnahmen und Fotos schwere Schäden an den dortigen Riffen gezeigt. Tiefe Furchen zogen sich wie Narben durch geborstene Korallen und zeigten die Zugbahnen der Schleppnetze an. Rund ein Drittel der riffbildenden Hartkorallen war zu diesem Zeitpunkt bereits zerstört. Durch intensive Bemühungen auf politischer Ebene sind die Darwin Mounds inzwischen jedoch für die Bodenschleppnetzfischerei gesperrt. Damit wurde ein Präzendenzfall geschaffen, denn zum ersten Mal konnte ein Seegebiet innerhalb der europäischen 200 Meilen Zone als Schutzzone ausgewiesen werden.

Doch noch herrscht Unklarheit über die wahre Bedrohung der Korallenriffe. Schätzungen norwegischer Forscher gehen allerdings davon aus, dass womöglich die Hälfte aller nordatlantischen Korallenriffe bereits durch Schleppnetze beschädigt wurde. So hoffen denn auch die Wissenschaftler des Forschungsprojekts HERMES, die Rolle der Kaltwasserriffe als Lebensraum für Fischpopulationen in den nächsten Jahren klären zu können. „Die EU-Kommission unterstützt die Forschungen und erwartet daher von uns Wissenschaftlern detaillierte Angaben über geschädigte Rifflokationen und vor allem Vorschläge zur Vermeidung weiterer Riffzerstörungen“, macht Freiwald die Dringlichkeit der Forschungsarbeiten deutlich. Erst dann ist wohl vermutlich auch mit stärkeren Schutzbemühungen zu rechnen.


Stand: 07.07.2006

Übersäuerung der Meere löst Korallenriffe auf

Osteoporose in der Tiefe

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Neben der Schleppnetzfischerei droht den Kaltwasserkorallen noch eine weitere Gefahr: die zunehmende Versauerung der Weltmeere. So kommt eine jüngst veröffentlichte Studie in der Fachzeitschrift „Frontiers in Ecology and the Environment“ zu dem Ergebnis, dass sich der ozeanische pH-Wert seit der industriellen Revolution um 0,1 Einheiten abgesenkt hat – Tendenz weiter sinkend. Schuld hieran ist der zunehmende Eintrag von CO2 aus der Luft in das Meerwasser. Umgerechnet zieht der Ozean gegenwärtig jedes Jahr eine Tonne CO2 für jeden auf der Erde lebenden Menschen aus der Atmosphäre. Doch wieso hat dies so verheerende Auswirkungen auf das Ökosystem Ozean und speziell die Kaltwasserkorallen?

Chemische Auflösung

Hoher CO2-Gehalt (rechte Seite) schädigt die Kalkschalen des Planktons. © G. Langer, Universität Kiel

Der sinkende pH-Wert senkt die natürliche Karbonatsättigung des Meerwassers – es wird sauer. Je saurer das Milieu, desto mehr Kalziumkarbonat – das Baumaterial der Korallenriffe – wird gelöst. Im schlimmsten Fall lösen sich somit die Kaltwasserriffe der Steinkorallen einfach auf. Auch anderen Meereslebewesen wie Muscheln, Seeigeln oder Seesternen wird der höhere Säuregrad wahrscheinlich zu schaffen machen. Ihnen fällt es durch die Versauerung schwer, ihre harten Skelette und Schalen aus Kalziumkarbonat zu formen und zu erhalten. Sie wachsen dadurch langsamer und sind leichter zerbrechlich.

Ähnlich der Osteoporose beim Menschen vollzieht sich dieser Prozess zunächst schleichend und unmerklich. Besonders kritisch ist die Lage jedoch für Organismen, deren Skelett wie bei den Steinkorallen aus dem leicht löslichen Aragonit besteht. Der Studie zufolge werden sich im Jahr 2099 rund 70 Prozent der heute bekannten Riffvorkommen in einem so sauren Milieu befinden, dass ihr Überleben äußerst fraglich ist. Aber nicht nur die Tiefwasserriffe wären von einer weiteren Versauerung betroffen. So könnten einem Bericht der Royal Society zufolge auch die Korallen an tropischen und subtropischen Riffen wie dem Great Barrier Reef bis zum Jahr 2050 stark dezimiert sein.

Versauerung betrifft auch Menschen

"Wir wissen schlicht und ergreifend nicht", sagt Professor Ulf Riebesell vom Leibniz-Institut für Meereswissenschaften IFM-GEOMAR in Kiel, "ob die Lebewesen in den Meeren – die ja ohnehin schon durch den allgemeinen Klimawandel beeinträchtigt sind – auch noch diese Veränderung verkraften können." Seit Millionen von Jahren hat sich die Chemie der Meere nicht so rasant verändert wie heute.

Wo bleibt das CO2 im Meer? © IMSI MasterClips

Riebesell koordiniert den Themenbereich "Treibhauseffekt" im Kieler Forschernetzwerk "Ozean der Zukunft". Seine Arbeitsgruppe am Leibniz-Institut für Meereswissenschaften hat zahlreiche Arbeiten veröffentlicht, die belegen, dass kalkbildende Organismen im Meer durch die zunehmende Versauerung nachhaltig geschädigt werden – seien es Kaltwasserkorallen, Kalkalgen, Seesterne, Schnecken oder Muscheln. Insbesondere die Eier und Larven vieler Meeresbewohner reagieren sehr empfindlich auf die zunehmende Versauerung. Diese hätte aber nicht nur schwerwiegende Folgen für die an und in den Riffen lebenden Tieren. Auch der Mensch ist direkt oder indirekt von den Riffen abhängig – denn entweder benötigt er sie als Nahrungslieferant, als Touristen-Attraktion oder als Schutz der Küsten vor Bedrohungen wie Tsunamis.


Stand: 07.07.2006

Interview über eine Forschungsfahrt

Korallensterben durch Sahara-Staub?

g-o.de:

Herr Freiwald, was genau sind Schlammvulkane?

Gefährdet bei steigendem Meeresspiegel: Atoll © NASA/GSFC

Freiwald:

Schlammvulkane entstehen durch einen konzentrierten Austritt von Gasen und Sedimenten aus dem Untergrund. Die ausgeworfenen Sedimente bauen die Vulkanstruktur auf, so dass diese äußerlich genau so aussehen wie magmatische Vulkane. Ihr Vorkommen konzentriert sich entlang von Subduktionszonen oder Zonen an denen Kontinentalplatten gegeneinander stoßen. Dabei geraten die abtauchenden Sedimentkeile unter Druck und hohe Temperaturen, wodurch das in den Sedimenten abgelagerte organische Material als Methan- Kohlendioxid- oder Schwefelwasserstoffgas ausgetrieben wird. Schlammvulkane sind nicht nur auf das Meer beschränkt, sondern es gibt sie auch an Land, wie beispielsweise in Aserbeidschan und Pakistan.

g-o.de:

Warum siedeln gerade hier die Kaltwasserkorallen?

Freiwald:

Diese Frage wird von Wissenschaftlern schon länger diskutiert, denn Kaltwasserkorallen benötigen eigentlich sauerstoffreiches Wasser. Die Schlammvulkane hingegen gehören mit ihrem Gas- und Sedimentausstoß zu der sauerstofffreien, beziehungsweise –armen Zone. Normalerweise siedeln hier Bakterienmatten, Bartwürmer und diverse andere Tiere, die sich in Symbiose mit speziellen Mikroorganismen von Schwefelverbindungen oder Methan ernähren

Kaltwasserkorallen Lophelia (weiß) und Gorgonia (rot) © K.Hissmann (IFM-Gemoar)

Trotzdem findet man häufig Kaltwasserkorallen auf den Flanken von Schlammvulkanen. Eine mögliche Lösung dieses scheinbaren Widerspruchs könnte darin liegen, dass die Dynamik und Menge des Gasaustritts in solchen Gebieten variiert. Es gibt also Phasen, in denen der Schlammvulkan „schläft“, ähnlich wie bei magmatischen Vulkanen. In diesen Zeiten nutzen die Korallen einfach das Relief des Schlammvulkans als Siedlungsgrund. Die Korallen siedeln dabei natürlich nicht im Schlamm, sondern auf den Felsbrocken, die durch den Eruptionsschlot des Vulkans ausgeworfen wurden.

g-o.de:

Welche neuen Ergebnisse gab es während der Tauchfahrten?

Freiwald:

Was mich überrascht hat: es gibt so gut wie gar keine lebenden riffbildenden Korallen auf den untersuchten Schlammvulkanen. Um dieses Rätsel zu lösen, haben wir nächtelang die Schlammvulkane mit dem Fotoschlitten des IFM-Geomar kartiert. Auf dem so genannten Renard Rücken fanden sich mächtige Korallenschuttsedimente, die aus einer Abfolge unterschiedlicher Steinkorallenarten zusammengesetzt sind. Die zeitlich jüngsten Korallen sehen aus, als ob sie erst vor wenigen tausend Jahren abgestorben sind – und zwar überall, wo wir geschaut haben. Videodaten anderer Expeditionen belegen diesen Trend, es lassen sich allenfalls einzelne lebende Steinkorallenkolonien nachweisen.

Trotzdem ist sicher, dass noch vor wenigen 1.000 Jahren zahlreiche Kaltwasserkorallenriffe auf den Schlammvulkanen des Golfes von Cadiz existiert haben – mit Ausnahme der aktiven Schlammvulkane. Die nahe liegende Annahme, dass zuviel Methangas die Korallen getötet hat, ist bei näherer Betrachtung der Sedimentkerne unwahrscheinlich. Die steilen Schlammvulkane bieten auch keinen guten Boden für Schleppnetzfischerei, so dass die Riffe wohl auch nicht durch industrielles Trawlen zum Kollabieren gebracht wurden.

g-o.de:

Was ist dann die Ursache für dieses lokale Massensterben?

Mit den Höhenwinden werden die Sahara-Sande nicht nur zu den Kanarischen Inseln sondern bis nach Südamerika verfrachtet. © NASA/GSFC

Freiwald:

Dr. Sascha Flögel vom IFM-Geomar und ich denken an die Ausbreitung der Saharawüste innerhalb der letzten 4.000 Jahre! Ja, sie haben richtig gehört. Denn die Wüste, wie wir sie heute kennen, ist ein geologisch junges Gebilde und hängt in seiner Ausdehnung von den Schwankungen der Erdbahnparameter ab. Noch vor etwa 8.000 Jahren war das Gebiet der heutigen Sahara eine für den Steinzeitmenschen reich gedeckte Savanne, die sich durch starke Regenzeiten, eine dichte Vegetationsdecke und einen Tierreichtum auszeichnete. Dann war damit Schluss und die Wüste breitete sich aus – und damit auch der Sahara Staub.

Starke Winde blasen den Staub in der Atmosphäre über den Atlantik bis nach Zentralamerika, wo er als Dünger den tropischen Regenwald aufblühen lässt. Doch die weitaus meisten Staubmassen gehen bereits unmittelbar westlich der Sahara in den Atlantik vor Mauretanien und Marokko nieder. Die nächsten Wochen werden die potentielle Rolle des Staubeintrages auf das Absterben der Korallen beleuchten.


Stand: 07.07.2006

Die wichtigsten Arten im Überblick

Korallen-Steckbrief

Alle riffbildenden Kaltwasserkorallen gehören zur Familie der so genannten Steinkorallen. Sie gehören dem Stamm der Nesseltiere an und werden entsprechend ihrem Äußeren auch Blumentiere genannt. Weltweit gibt es von den Steinkorallen schätzungsweise 16 Familien und über 400 Arten. Nur wenige jedoch sind an das Leben in kalten Gewässern angepasst.

Lophelia pertusa – der Globetrotter

Die wohl bekannteste und auch weltweit am meisten verbreitete Kaltwasserkoralle ist Lophelia pertusa. Sie lebt in Kolonien von nur einigen wenigen bis hin zu tausenden Tieren und konnte sogar bis in Wassertiefen von über 3.000 Metern nachgewiesen werden. Ihr bevorzugter Siedlungsraum liegt jedoch zwischen 400 und 1000 Metern Tiefe in strömungsreichen Hanglagen und nährstoffreichem Wasser. Gegenüber Temperaturschwankungen ist sie relativ empfindlich, auch wenn sie prinzipiell mit Wassertemperaturen zwischen vier bis zwölf Grad Celsius zurecht kommt.

Kaltwasserkoralle Lophelia pertusa in einer Detailaufnahme © USGS

Die einzelnen Polypen besitzen jeweils 16 giftige Tentakel, mit denen sie ihre Nahrung aus dem Wasser fischen. Von Lophelia gibt es eine farblos-weiße sowie eine hellrot-orange Variante. Am weitesten verbreitet, beziehungsweise durch Tauchfahrten kartiert, sind ihre Kolonien und Riffe im Nordatlantik. Aber auch im Mittelmeer, entlang der nordamerikanischen Ostküste, vor der Westküste Afrikas und in den Küstengewässern Brasiliens konnte sie bereits nachgewiesen werden. Damit ist sie der unbestrittene Globetrotter unter den Kaltwasserkorallen.

Madrepora oculata – die Zerbrechliche

Kaum weniger umtriebig ist Madrepora oculata, die sogar häufig in Gesellschaft mit Lophelia auftritt. Auch sie umgibt ein kalkhaltiges Skelett, das zusammen mit herabsinkendem Sediment und organischem Material zur Riffbildung beiträgt. Ihr Äußeres erinnert an ein filigranes Geäst, das sich fächerförmig bis zu 50 Zentimeter nach oben reckt. Im Gegensatz zu Lophelia ist sie jedoch weit weniger robust und sehr zerbrechlich. Entsprechend bildet sie weniger imposante Riffstrukturen aus.

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Madrepora siedelt nicht ganz so tief wie Lophelia. Den tiefsten Nachweis konnten Wissenschaftler bislang am Reykanes Meeresrücken vor der Küste Islands in 1.950 Metern Tiefe erbringen. Den flachsten Fund verzeichneten sie hingegen in 55 Metern Wassertiefe vor der Küste Brasiliens. Auch wenn sie weltweit verbreitet ist, hat sie ihre größten Kolonien im Nordostatlantik und im Mittelmeer.

Goniocorella dumosa – die Südliche

Ein imposanter Baumeister ist hingegen Goniocorella dumosa. Bis zu 40 Meter hoch und über 700 Meter breit können ihre Riffe werden, wie beispielsweise am Campbell Plateau vor der Küste Neuseelands. Hier hat sie neben den Küsten vor Südafrika, Japan und Indonesien auch ihre weiteste Verbreitung. Ihre Vorkommen beschränken sich somit auf die südliche Halbkugel. In der Regel siedelt sie zwischen 300 und 400 Metern Wassertiefe, auch wenn sie bereits in fast 1.500 Metern nachgewiesen werden konnte.

Goniocorella formt große, kegelförmige und sehr komplexe Riffstrukturen, indem sie mit ihren feinen Ästchen ineinander greift und so der gesamten Kolonie zusätzlichen Halt verleiht. Aufgrund dieser hohen Stabilität bietet sie auch weniger starken Korallen wie beispielsweise Madrepora einen Lebensraum, in den diese ansonsten nicht vordringen könnte.


Stand: 07.07.2006