Der Altai ist nicht nur eine Region der Extreme, hier haben sich in der Vergangenheit auch verheerende Naturkatastrophen abgespielt. Zu dieser Erkenntnis sind Glaziologen und Geomorphologen aus den USA und Deutschland gekommen. Entdeckt haben sie die Spuren solcher Ereignisse nicht nur in Klimaarchiven wie Eis- oder Sedimentbohrkernen, es gab auch andere Indizien für ungewöhnliche Vorkommnisse.
Merkwürdige Hügel
Geomorphologen wie der Bonner Geowissenschaftler Jürgen Herget können auch aus bestimmten Oberflächenformen Rückschlüsse auf lange zurückliegende Ereignisse ziehen. Herget hat sich in den vergangenen Jahren merkwürdige Hügel und Terrassen im Altai, im Chuja- und im Kuray-Becken in einem Nebental des Ob angesehen. Die Hügelketten sehen so ähnlich aus wie Dünen. Doch Herget war schnell klar, dass sie nicht durch Wind entstanden sein können, weil weder Geröll noch Sandkörnchen die charakteristischen, durch Windschliff entstandenen Ecken und Kanten aufwiesen.
Herget, ein Spezialist für Hochwasserereignisse, hat dennoch eine Erklärung für die Hügel im Chuja-Tal. Ein gigantischer Gletscherseeausbruch in der letzten Eiszeit, so ist er sich sicher, ist für die Hügel und Terrassen im Altai verantwortlich. Dieser Ausbruch hatte Ausmaße wie kein bisher bekanntes Ereignis dieser Art und fand, wie Herget und seine Kollegen rekonstruierten, am Ende der letzten Eiszeit, vor etwa 14.000 Jahren, statt. Zu dieser Zeit war ein Großteil der nördlichen Halbkugel mit Kilometer dicken Eispanzern bedeckt. Sie zogen sich von den Polkappen bis weit in die mittleren Breiten hinein.
Wenn der Gletscher überläuft
Wenn Gletscher abwechselnd stückweise abtauen oder aufs neue vorstoßen, kann es immer wieder zu verheerenden Gletscherseeausbrüchen kommen. Eisbarrieren, die bis dahin das Gletscherwasser zurückgehalten haben, tauen ab, das Wasser bahnt sich seinen Weg. Auch heute kommt es in den Hochgebirgen der Erde häufig zu solchen Ausbrüchen. Die Flutwellen, die dann die Täler hinabrasen, zerstören nicht nur die unmittelbare Nachbarschaft des Gletschers, sondern bedrohen auch Siedlungen, die in den fruchtbaren Tälern entlang der Gletscherflüsse liegen. Doch die Katastrophen, die sich heute in Anden, Himalaya oder Alpen ereignen, machen nur einem Bruchteil dessen aus, was vor tausenden Jahren im Altai passierte.
Am Ende der letzen Eiszeit, der Würm- oder Weichsel-Eiszeit, war das Gebiet zunächst noch von großen Gletschern bedeckt. Diese riegelten einige Täler so ab, dass sich in diesen Schmelzwasser sammelte und Gletscherseen entstanden. Nachdem sich zwei solcher Gletscherseen vereinigt hatten, der Kuray- und der Chuja-Gletschersee, beinhalteten beide zusammen, so schätzt Jürgen Herget, ein Volumen von etwa 607 Kubikkilometern, etwa zwölf mal so viel wie der Bodensee.
Die Sintflut bis zum Mittelmeer?
Hergets US-amerikanischer Kollege Keenan Lee, der die Ereignisse im Altai auch untersucht hat, geht sogar noch weiter. Nach Lee soll das Volumen des riesigen Gletschersees im Altai rund 3.500 Kubikkilometer betragen haben. Als der Eisdamm, der die Wassermassen zurückhielt, dann plötzlich brach, setzte dies die enorme im See gespeicherte Energie frei: Wasser raste in einer Sturzflut talwärts und veränderte dabei die Landschaft und die Formen des Untergrunds auf dramatische Weise. Ein weiterer nördlich gelegener Gletschersee wurde durch den Gletscherseeausbruch ebenfalls zum Überlaufen gebracht. Laut Lee wirkten sich die Fluten aber nicht nur lokal aus, sondern schwappten daraufhin bis zum Aralsee, weiter zum Kaspischen Meer und waren selbst am Mittelmeer, rund 5.000 Kilometer weiter entfernt, noch durch erhöhte Wasserstände der Flüsse zu spüren.
So weit geht der Bonner Geograph Herget nicht. Dennoch ist für ihn der Ausbruch des Kuray-Chuja-Sees der bisher größte seiner Art.
Pendant in Nordamerika
Bisher galt der Ausbruch des Missoula-Gletschersees im Nordwesten der USA als die größte Überschwemmung, die je durch eine Eisschmelze verursacht wurde. Der Missoula-See hatte eine Größe wie Eriesee und Ontariosee zusammen. Er existierte zu einer Zeit, als die Region des heutigen Seattle unter einem dicken Eispanzer lag, vor 18.000 bis vor 13.000 Jahren. Wenn der Missoula-Gletschersee ausbrach – und das passierte mehrmals, wie Wissenschaftler feststellten – riss die Flut jedes Mal bis zu 100 Kubikkilometer Erdreich und Geröll mit sich.
Von Winzlingen und Riesen
Doch das Wasser hinterließ auch filigranere Spuren, eben solche wie sie auch im Altai zu finden sind. Denn die dünenförmigen Hügel sind laut Herget eindeutig durch eine Wasserströmung entstanden. Es handelt sich um so genannte Rippel, wie sie auch am Strand oder in flachen Bachläufen zu finden sind, dort allerdings nur wenige Zentimeter groß. Im Altai haben die größten Rippel eine Höhe von 23 Metern und sind bis zu 320 Meter lang. Der maximale Abfluss, um solche Rippel zu formen, schätzt Herget, muss bei fast zehn Millionen Kubikmeter Wasser pro Sekunde gelegen haben.
Trotz dieser unvorstellbaren Naturgewalt, sind sich die Wissenschaftler sicher, dass es noch größere Gletscherseeausbrüche gegeben haben könnte. Auf dem Mars hat man Rippeln gefunden, die darauf hindeuten, dass die dortigen Ausbrüche noch rund 50 mal größer gewesen sein müssen als der Missoula- oder der Kuray-Chuja-Ausbruch.
Stand: 12.09.2009