Selbst unter Normalbedingungen zeigen Individuen derselben Art und desselben Geschlechts Unterschiede in ihrer Physiologie und ihrem Verhalten. Was beim Menschen gemeinhin als Persönlichkeitsunterschiede anerkannt wird, wurde bei Tieren lange Zeit übersehen. Unterschiede wurden eher ungenauen Messungen zugeschrieben oder einer schlechten Anpassung an bestehende Umweltbedingungen.
Erfassung individueller Unterschiede
Durch Beringung eines Vogels wird dieser für den Beobachter zum wiedererkennbaren Individuum, dessen Lebensgeschichte und Schicksal sich verfolgen und im evolutionsbiologischen Kontext untersuchen lässt. Auch Persönlichkeiten können die Forscher objektiv untersuchen, sei es durch überwiegend beschreibende Verhaltensbeobachtungen, durch entwicklungsbiologische Untersuchungen zur Anpassungsfähigkeit des Verhaltens oder durch Feldstudien zu Überlebensrate und Fortpflanzungserfolg von Vertretern verschiedener Verhaltensstrategien. Verhaltenstypen können beispielsweise auf Umweltveränderungen unterschiedlich reagieren oder können unterschiedlich empfindlich gegenüber Stress sein.
Gezielte Beobachtungen markierter Individuen möglichst über deren ganzes Leben hinweg und umfangreiche Datenbanken, wie sie aus den Beringungs- und Wiederfunddaten markierter Vögel aufgebaut werden, können Fragen nach den Konsequenzen verschiedener persönlicher Verhaltensstrategien beantworten. Sie ermöglichen auch Einblicke in außergewöhnliche Lebensgeschichten.
Tierische Rekorde
Beispielsweise wurde ein weiblicher Weißstorch bis ins Jahr 2004 regelmäßig als Brutvogel in Mittelfranken beobachtet, der 1977 unweit seines späteren Brutortes geboren und beringt wurde. Dieser Vogel erreichte damit ein Mindestalter von 27 Jahren. Rein rechnerisch hat er in dieser Zeit eine Flugleistung von weit über 100.000 Kilometern bewältigt. Den weltweiten Altersrekord bei einem freilebenden Vogel hält ein Schwarzschnabel-Sturmtaucher, ein albatrosähnlicher Hochseebewohner, der im Mai 1957 als fünf- oder sechsjähriger Vogel nördlich von Wales markiert und nach 52 Jahren lebend nochmals gefangen und nach Untersuchung wieder freigelassen wurde.
Unter den Streckenrekordhaltern rangiert eine Flussseeschwalbe ganz vorne, die am 27. Juni 2003 als Küken in Zentralschweden beringt und im Dezember desselben Jahres in über 17.000 km Entfernung in Neuseeland tot aufgefunden wurde. Zu den an der Vogelwarte Radolfzell belegten Rekordhaltern zählt ein nordbadischer Weißstorch, dessen erste Wanderung im Alter von etwa drei Monaten ihn nach Südafrika bis ins 9340 km entfernte Strandfontein führte.
Aus dem Jahrbuch der Max-Planck-Gesellschaft; Wolfgang Fiedler/ Max-Planck-Institut für Ornithologie; Vogelwarte Radolfzell
Stand: 09.01.2009