Phänomene

Das „Geek“-Syndrom

Rätselhafte Autismus-Epidemie im Silicon Valley

Silicon Valley: Heimat von Technik-Freaks - und vielen Autisten. Hier haben die großen Computer- und Internetfirmen ihren Sitz. © CC-by-sa 2.5

„Ich glaube, alle Tech-Leute sind leicht autistisch.“ Diese Aussage stammt keineswegs von einem Technikhasser, sondern von Douglas Coupland, der in seinem Buch „Microserfs“ die Welt und das Leben der bei Microsoft arbeitenden „Geeks“ aus der Sicht eines Insiders plastisch beschreibt. Stundenlanges ununterbrochenes Runterhacken von Codezeilen, obsessive Detailverliebtheit und ein oft besseres Verhältnis zu Maschinen als mit Menschen – das klassische Bild eines Hardcore-Programmierers scheint tatsächlich einiges mit typischen Asperger-Symptomen gemeinsam zu haben.

Explosion von Autismus-Fällen im „Valley“

Systematisch getestet hat diese Programmierer von Intel, Google oder Apple im Silicon Valley oder IBM in Rochester bisher allerdings niemand. Es gibt aber eine Entwicklung, die Psychologen mit Sorge erfüllt, die aber gleichzeitig ein ganz neues Licht auf die „Geeks“ der Hightech-Industrie wirft: Die Anzahl der mit Autismus diagnostizierten Kinder explodierte im letzten Jahrzehnt in Kalifornien geradezu – und dies vor allem im Santa Clara County, dem Bezirk, in dem Silicon Valley liegt.

Zahl der Autismusfälle in den USA (Angabe pro 1.000 Kinder) © gemeinfrei, Daten: CDC/NIH

Zwar steigen die Autismus-Raten überall in der Welt, doch im Valley hat sich die Anzahl der Fälle nahezu verdreifacht. Inzwischen hat sogar die Hightech-Industrie reagiert: Software-Riese Microsoft ist das erste große US-Unternehmen, dass seinen Mitarbeitern finanzielle Unterstützung für die Sonderförderung ihrer autistischen Kinder bietet. „Jeder der behauptet, diese Epidemie ist nur auf die bessere Diagnostik zurückzuführen, steckt seinen Kopf in den Sand“, erklärt Rick Rollens, Mitbegründer des MIND-Instituts der Universität von Kalifornien in Davis.

Denken in Bildern

Auf der Suche nach Erklärungen für diese Explosion landen die Experten immer wieder bei dem hervorstechendsten Merkmal dieser Region: einer der weltweit größten Ansammlungen hochintelligenter, kreativer Technikfreaks. Tatsächlich haben einige der hellsten Köpfe des Silicon Valley zumindest eine ganz eigene Art zu denken: Bill Dreyer, der Erfinder des ersten Proteinsequenzierers, und Carver Mead, Pionier der Mikroelektronik und „Vater“ der integrierten Schaltkreise, beispielsweise denken nicht in Sprache sondern ausschließlich in Bildern.

„Ich denke in dreidimensionalem Technicolour“, beschreibt Dreyer in einem Artikel der Zeitschrift „Wired“. Beide haben Dyslexie und damit ein dem Autismus vermutlich genetisch verwandtes Syndrom. Ihre besondere Denkweise – auch hier basierend vor allem auf der rechten Hirnhälfte – könnte jedoch die Basis ihres Erfolges sein. „Die Kehrseite der Dyslexie sind erweiterte Fähigkeiten in Mathe und Architektur“, erklärt Dan Geschwind, Leiter des Neurogenetik-Labors der Universität von Kalifornien in Los Angeles.

Computerpionier Carver Mead denkt "dyslexisch" - nur in Bildern © gemeinfrei

Ein Hauch von Autismus…

Schon Hans Asperger schrieb Mitte des letzten Jahrhunderts: „Es scheint, dass ein Hauch von Autismus essenziell ist für den Erfolg in Wissenschaft oder Kunst.“ Und genau darin sieht auch Geschwind eine Ursache des Anstieg der Autismusfälle im Valley: „Für die Eltern, die nur ein paar dieser Gene tragen, ist das eine gute Sache. In den Kindern, die zu viele davon haben, ist das schlecht.“ Die Wahrscheinlichkeit, dass ein „Geek“ einen Gleichgesinnten als Partner findet, ist zumindest im Silicon Valley so hoch wie kaum sonst irgendwo.

Für den Forscher ein Grund, die herkömmliche Sicht auf Autismus und alle Arten des „Andersbegabtseins“ zukünftig in einem anderen Licht zu betrachten. „Autismus wirft fundamentale Fragen darüber auf, wie wir Talent und Behinderungen sehen“, erklärt er. Ähnlich sieht es auch Bryna Siegel, Entwicklungspsychologin der Universität von Kalifornien in San Francisco. Sie glaubt, dass eine „Kur“ für Autismus nicht gefunden werden wird: „Was wir bekommen werden ist wohl eher so: Mrs. Smith, hier sind die Ergebnisse ihrer Fruchtwasseruntersuchung. Es gibt eine 1:10 Chance, dass ihr Kind autistisch wird oder der nächste Bill Gates.“

  1. zurück
  2. |
  3. 1
  4. |
  5. 2
  6. |
  7. 3
  8. |
  9. 4
  10. |
  11. 5
  12. |
  13. 6
  14. |
  15. 7
  16. |
  17. 8
  18. |
  19. 9
  20. |
  21. 10
  22. |
  23. 11
  24. |
  25. weiter

Nadja Podbregar
Stand: 12.12.2008

Keine Meldungen mehr verpassen – mit unserem wöchentlichen Newsletter.
Teilen:

In den Schlagzeilen

Inhalt des Dossiers

Das Rätsel der Savants
Auf Spurensuche bei „Rain Mans“ Geschwistern

Savant-Portraits
Bekannte Menschen mit Inselbegabungen kurz vorgestellt

Fenster in die Innenwelt
Ein Autist wird Ausnahmekünstler

Vom „Negro Tom“ zum „Savant Syndrom“
Die Entdeckung eines Phänomens

Gefangen im Selbst
Autismus und Asperger-Syndrom

Der echte „Rain Man“
Kim Peek - nicht alle Savants sind Autisten

Rechtes und linkes Hirn
Wo im Gehirn sitzen die Inselbegabungen?

Das Rätsel der „erworbenen“ Inselbegabungen
Daniel Tammet: Mathegenie durch Epilepsie

Steckt ein „Rain Man“ in uns allen?
Auf der Suche nach den Auslösern des Savant-Syndroms

Gibt es das „Savant-Gen“?
Die genetische Basis von Autismus und Inselbegabungen

Das „Geek“-Syndrom
Rätselhafte Autismus-Epidemie im Silicon Valley

Diaschauen zum Thema

News zum Thema

Wie das Gehirn auf Gesichter reagiert
Forscher untersuchen Einfluss des Bindungsstils

Wie Mäuse kontaktscheu werden
Neues Mausmodell für die Autismusforschung entwickelt

Autistische Mäuse schlauer als Artgenossen
Tiermodell gibt Einblicke in Gehirnaktivität bei genetisch verursachtem Autismus

Neue Gen-Auslöser für Autismus entdeckt
Region auf Chromosom 11 und Gen für Nervenprotein entscheidend

Wenn Nervenzellen kontaktscheu sind
Forscher entschlüsseln Gendefekt, der Autismus verursacht

X-Chromosom bei Autisten mutiert
Genveränderung erklärt kognitive Defizite und größere Häufigkeit bei Jungen

Tagebuch hilft Autismusforschern
Erste Symptome erst nach sechs Monaten

Dossiers zum Thema