Wie gut aber beschreiben die entwickelten Simulationsprogramme die Rate an Untergrundereignissen, ihre Charakteristik und das Ansprechverhalten des ATLAS-Detektors tatsächlich? Wie genau stimmen Vorstellung und Realität miteinander überein? Das Vertrauen der Physiker ist begrenzt, da sie mit dem LHC Neuland bei bisher nie erreichten Energien betreten. Deshalb werden schon jetzt detaillierte Strategien entwickelt, wie und mit welcher Genauigkeit man später, jenseits aller Simulationen, aus den Daten selbst den Untergrund extrahieren kann. Mit dieser Aufgabe beschäftigen sich die 200 Higgs-Jäger bei ATLAS zurzeit. Bis zum Sommer 2007 sollen die Studien abgeschlossen sein und in einem neuen Report veröffentlich werden.
Internationale Arbeitsgruppe
Einmal im Monat trifft sich die Higgs-Arbeitsgruppe unter Leitung von Markus Schumacher und seines französischen Kollegen Louis Fayard für ein bis zwei Tage am CERN. Hier präsentieren die versprengt in aller Welt arbeitenden Teammitglieder ihre Arbeitsergebnisse. Hier wird festgelegt, welcher Kurs zukünftig eingeschlagen werden soll. Dabei geht es zuweilen munter her: ab und an weichen die Methoden und damit die Ergebnisse des einen Physikers zunächst von denen des anderen ab. Entsprechend gehen dann auch die Meinungen über das weitere Vorgehen und die richtigen Strategien auseinander.
Als Koordinator ist es dann Aufgabe von Schumacher, die Wogen zu glätten und in Übereinstimmung mit allen Kollegen Leitlinien zu entwickeln, die das vielköpfige internationale Team zusammenhalten. „Es ist nicht immer einfach alle zufrieden zu stellen“, grübelt Schumacher mit ernster Mine. Im nächsten Moment heitert sich sein Gesicht wieder auf. Lächelnd betont Schumacher, dass er das Erlebnis keinesfalls missen wollte, sich mit so vielen unterschiedlichen Mentalitäten und Kulturen gemeinsam auf die Suche zu begeben. „Letztendlich sind alle Kollegen hoch motiviert. Das gemeinsame Ziel, die Entdeckung des Higgs-Teilchens, schweißt zusammen und hilft Differenzen meist sehr schnell aus dem Weg zu räumen“, beschreibt Schumacher seine bisherigen Erfahrungen.
Forscherschiff im Heuhaufen
200 Gefährten haben sich aufgemacht, den Heuhaufen von ATLAS-Daten nach dem Higgs-Teilchen zu durchforsten. Viele und unerwartete Herausforderungen werden sie auf ihrer einzigartigen Entdeckungsreise noch zu meistern haben. Zehnmal mehr Köpfe sind aber letztendlich notwendig, um das Unternehmen ‚Higgs-Boson’ zum Erfolg zu führen. 2.000 Wissenschaftler aus aller Herren Länder arbeiten seit vielen Jahren daran, das Schiff zu bauen, mit dem die Abenteuerreise unternommen werden soll.
Schumacher wird nicht müde zu betonen, dass die Arbeit derjenigen, die den ATLAS-Detektor konstruiert und installiert haben, derjenigen, die den Detektor warten und kalibrieren und derjenigen, welche die benötigte Software schreiben, mindestens ebenso wichtig ist, wie die Arbeit des Higgs-Teams. Deshalb werden im Falle einer Entdeckung auch alle 2000 Mitarbeiter in alphabetischer Reihenfolge die Publikation unterzeichnen, die den lang erarbeiteten Erfolg verkündet. Mit dem Nobelpreis wird es dann schwer: dieser kann bisher nur maximal an drei Personen vergeben werden.
Entdeckung brächte neue Fragen
Dem Beginn der Datennahme fiebern die Higgs-Jäger mit gespannter Erwartung entgegen. „Allerdings wird es einige Zeit brauchen, bis die Qualität der Daten verstanden ist und erste Anzeichen eines Higgs-Teilchens sich zeigen könnten“, dämpft Schumacher Hoffnungen auf einen schnellen Durchbruch. Nach drei Jahren erfolgreicher und bewährter Datennahme sollte es dann soweit sein: „Dann wissen wir, ob es das Higgs-Teilchen des Standardmodells in der Natur tatsächlich gibt oder nicht. Die Entdeckung wäre wunderbar aber auch nur der erste Schritt“, so Schumacher. „Danach fängt der Spaß erst richtig an. Es gilt das neu entdeckte Teilchen und seine Eigenschaften zu vermessen, um wirklich abschließend klären zu können, ob es sich um das von uns erwartete Higgs-Teilchen handelt.“
Stand: 13.04.2007