Aralsk ist noch immer eine Hafenstadt – obwohl das Meer seit mehr als zwanzig Jahren knapp 80 Kilometer weit entfernt ist. Jeder in der Stadt kennt die Richtung zum Hafen. „Gleich dort hinten,“ gibt ein Halbwüchsiger bereitwillig Auskunft. Dass Fremde mit Fotokameras nach dem Hafen fragen, ist in Aralsk Normalität. Direkt gegenüber dem Basar liegt der Hafen, jenseits der Hauptstraße, die sich quer durch die Stadt mit den 30.000 Einwohnern zieht. Vor vierzig Jahren noch lebten hier fast doppelt so viele Menschen.
Hafenstadt ohne Wasser
Aralsk, das am Nordufer des Aralsees auf kasachischer Seite liegt, war durch seine Fischindustrie Jahrzehnte lang ein wichtiger Wirtschaftsstandort im Süden Kasachstans. Aralsk lebte vom Fisch und vom Aralsee. „Teniz“ – Meer – heißt der See deshalb bei den Leuten an beiden Ufern, bei den Kasachen im Norden und den Usbeken im Süden. Über 60.000 Quadratkilometer groß war der Aralsee bis zu den 1960er Jahren, das viertgrößte Binnengewässer der Erde. Doch seitdem ist das Meer zu einer Pfütze geschrumpft, auf weniger als 15.000 Quadratkilometer Fläche.
Aus Aralsk sind die Leute seitdem zu Tausenden weggezogen, weil erst das Meer aus der Stadt verschwand und dann der Fisch aus dem Meer. Die Fischer verloren ihre Arbeit, denn der Salzgehalt des Wassers war derart gestiegen, dass die heimischen Süßwasserfische verschwanden. Fast drei mal so viel Salz wie die Ostsee enthielt das Wasser des Aralsees in den letzten Jahren, mehr als 20 Gramm pro Liter.
Der Hafen von Aralsk verwaiste. Einige der Schiffe blieben einfach liegen und wurden nie weggeräumt. Heute gleicht der Hafen einem Schrottplatz, Meeresrauschen hört man nicht einmal in der Ferne. Verrostete Fischkutter liegen auf die Seite gekippt am Ufer und im alten Hafenbecken. Das bisschen Wasser, das gegen die Kaimauer schwappt, ist eine Giftbrühe aus Öl, Benzin und Salz. Die einzigen Geräusche im Hafen sind die Schreie der Möwen, die über den Schiffswracks kreisen. Hin und wieder fährt ein alter Lada auf der Piste am Hafenbecken entlang und wirbelt Staub auf.
Zeitenwende in Aralsk
Doch die Tristesse täuscht. Vor ein paar Monaten ist die Hoffnung wieder in Aralsk eingezogen. Denn der nördliche Teil des Aralsees, einer der drei Teilseen, in die das Binnenmeer mittlerweile zerfallen ist, steigt seit dieser Zeit unaufhörlich an und wächst wieder.
Im Akimat, der Stadtverwaltung von Aralsk, herrscht geschäftiges Treiben. Kulbai Danabejew, der Zweite Bürgermeister von Aralsk, gibt gerne Auskunft zu dem Thema, das die Stadt derzeit am meisten bewegt: Das Meer kehrt zurück! Auch Danabejew ist sich dessen sicher. Bis auf 15 Kilometer sei das Ufer schon wieder an die Stadt herangekommen. „Wir hoffen, dass das Wasser bald auch unseren Hafen erreicht,“ so der stellvertretende Bürgermeister.
Auf dem Basar sind sich die Fischverkäuferinnen nicht ganz so sicher, was es wirklich mit den Gerüchten auf sich hat. „Ja, man sagt, das Meer kommt zurück,“ sagt eine, „aber glauben werden wir das erst, wenn wir es mit eigenen Augen gesehen haben.“ Eine andere schimpft darüber, dass alle nur von Umweltverschmutzung redeten. „Wir leben trotzdem gut hier, wir haben alles,“ sagt sie. Einig sind sich die kasachischen Marktfrauen allein darüber, dass es heute überhaupt wieder Fisch gibt und der zudem mittlerweile wieder billiger als Fleisch sei.
Fischfang wiederbelebt
Die Fische, die auf dem Basar jeden Tag frisch verkauft werden, kommen aus der Fischfabrik in Aralsk. Erst vor zwei Jahren war die Fabrik wiedereröffnet worden mit Hilfe von dänischen Fischerei-Experten. Bereits seit Beginn der 90er Jahre unterstützen die Dänen die Fischer am Aralsee beim Wiederaufbau einer funktionierenden Fischwirtschaft. Als Basis diente damals die salzwasserliebende Flunder, die einen Mindestsalzgehalt von etwa 14 Gramm pro Liter im Wasser braucht, um sich überhaupt vermehren zu können.
„Heute werden sogar wieder Brassen, Karpfen, Hechte oder Zander gefangen,“ berichtet Kulshei Tauekilowa. Die Fischhändlerin fährt mit einem Jeep mehrmals täglich zwischen dem Aralsee und der Stadt hin und her, um den Fang weiterzuverarbeiten. In der Fischfabrik wird die Ware tiefgefroren und von hier auf die Basare der Nachbarorte verteilt oder in die kasachischen Großstädte Astana und Almaty und sogar bis nach Russland verschickt.
Tauekilowa ist 60 Jahre alt und bereits Rentnerin. Früher hat sie in Restaurants gearbeitet und als Verkäuferin. Als sie vor einem Jahr merkte, dass das Meer wieder mehr Fisch hergibt, hat sie sich mit einem ihrer Söhne als Händlerin selbständig gemacht. Dass das Meer die Stadt bald wieder erreicht, hofft auch sie. Doch, ob es kommt oder nicht, „wir müssen so oder so arbeiten,“ sagt sie. Auch jetzt ist sie in Eile. Als die 650 Kilogramm Fisch von diesem Morgen ausgeladen sind, macht sie sich erneut auf in Richtung Aralsee, um die nächste Fuhre zu holen.
Stand: 05.01.2007