Ob Krebse, Muscheln, Schwämme oder Schnecken – die Kaltwasserriffe sind Anlaufstelle für zahlreiche Meerestiere. Wie in einer Oase in der Wüste wimmelt es hier nur so vor Leben. Wissenschaftler konnten bislang mehr als 1.000 verschiedene Arten registrieren, welche die Korallengärten als Nahrungs-, Brut- oder Fortpflanzungsrevier nutzen. Auch wenn das vollständige Arteninventar noch im Dunkeln liegt und sich auch je nach Region unterscheidet, scheinen die Kaltwasserkorallen doch als regelrechtes Verteilzentrum für Meeresorganismen zu dienen.
Fische im Überfluss
„Bei den Tauchgängen mit JAGO fiel zudem stets der Fischreichtum innerhalb der Korallenareale auf“, fügt Freiwald hinzu. Kabeljau, Rotbarsch und Seelachs scheinen sich an den Hängen und Schluchten der Riffe richtig wohl zu fühlen. „Einige Fische wie beispielsweise der Lumb, zeigen ein ausgeprägtes Territorialverhalten und „bewachten“ größere Korallenkolonien“, weiß Freiwald zu berichten. „Wir fanden auch viele Eigelege von Fischen und Kopffüßern in den Riffgebieten. Obgleich es zurzeit noch schwer zu quantifizieren ist, verdichten sich die Hinweise zur Bedeutung der Riffe als Kinderstube für viele Arten.“
Doch möglicherweise gehören diese uralten tierischen „Wohngebiete“ schon bald der Vergangenheit an. Denn Meeresverschmutzung und die Hochseefischerei mit ihren schweren Schleppnetzen haben den Kaltwasserriffen bereits schwer zugesetzt. „Wir dürfen nicht vergessen, dass viele Riffgebiete im Einzugsgebiet der klassischen Hochseefischerei liegen“, erklärt Freiwald die potenzielle Bedrohung der Riffe. So werden etwa seit zwanzig Jahren in der Hochseefischerei zunehmend Bodenschleppnetze eingesetzt. Diese reichen bis in eine Tiefe von 1.500 Metern und pflügen auf ihrer Suche nach Beute den Meeresboden regelrecht um. Wuchtige Rollen und Metallschilde beschweren die fast fußballfeldbreiten Netze und hinterlassen tiefe Spuren am Boden.
Tiefe Narben im Riff
Besonders gut dokumentiert sind diese Schäden an den Darwin Mounds, ungefähr 200 Meilen nordwestlich vor Schottland gelegen. Bereits im Jahr 1998 hatten Sonaraufnahmen und Fotos schwere Schäden an den dortigen Riffen gezeigt. Tiefe Furchen zogen sich wie Narben durch geborstene Korallen und zeigten die Zugbahnen der Schleppnetze an. Rund ein Drittel der riffbildenden Hartkorallen war zu diesem Zeitpunkt bereits zerstört. Durch intensive Bemühungen auf politischer Ebene sind die Darwin Mounds inzwischen jedoch für die Bodenschleppnetzfischerei gesperrt. Damit wurde ein Präzendenzfall geschaffen, denn zum ersten Mal konnte ein Seegebiet innerhalb der europäischen 200 Meilen Zone als Schutzzone ausgewiesen werden.
Doch noch herrscht Unklarheit über die wahre Bedrohung der Korallenriffe. Schätzungen norwegischer Forscher gehen allerdings davon aus, dass womöglich die Hälfte aller nordatlantischen Korallenriffe bereits durch Schleppnetze beschädigt wurde. So hoffen denn auch die Wissenschaftler des Forschungsprojekts HERMES, die Rolle der Kaltwasserriffe als Lebensraum für Fischpopulationen in den nächsten Jahren klären zu können. „Die EU-Kommission unterstützt die Forschungen und erwartet daher von uns Wissenschaftlern detaillierte Angaben über geschädigte Rifflokationen und vor allem Vorschläge zur Vermeidung weiterer Riffzerstörungen“, macht Freiwald die Dringlichkeit der Forschungsarbeiten deutlich. Erst dann ist wohl vermutlich auch mit stärkeren Schutzbemühungen zu rechnen.
Stand: 07.07.2006