Eine weitere Eigenheit im Sehsystem von Albinos legt nahe, dass Melanin bereits bei der Embryonalentwicklung von Wirbeltieren eine bisher nahezu unbekannte Rolle spielen muss. Denn die Entwicklung von Sehnerv und Sehzentrum sind bei ihnen auf eine ungewöhnliche Art und Weise verändert.
Wissenschaftler an der Universitäts-Augenklinik in Magdeburg untersuchen dies jetzt im Rahmen einer Studie. „Insbesondere im Rahmen der Grundlagenforschung können am Albinismus wesentliche Fragen der neuronalen Entwicklung und der Selbstorganisation des Sehsystems untersucht werden,“ so Michael Hoffmann vom Visual Processing Laboratory der Uni-Klinik in Magdeburg.
Geteilter Sehnerv
Die Sehnerven werden bereits bei der Entwicklung des Embryos angelegt. Pro Auge enthält jeder Sehnerv rund eine Million Nervenfasern, die vom Augapfel in Richtung Sehzentrum im hinteren Teil des Gehirns verlaufen. Auf der Hälfte des Wegs durch das Gehirn kreuzen sich die Stränge der Sehnerven, wobei nur etwa die Hälfte der Nervenfasern eines Sehnervs auf die andere Seite hinüberwechselt. Der andere Teil bleibt in der Gehirnhälfte des entsprechenden Auges.
Der Sehnerv und damit die Informationen aus dem Auge werden dabei nach einem bestimmten Muster aufgeteilt. Was rechterhand der Blickrichtung liegt, also die rechte Gesichtsfeldhälfte, wird in die linke Gehirnhälfte geleitet, die Abbildung der linken Gesichtsfeldhälfte landet in der rechten Gehirnhälfte. Da beide Augen das Gesichtsfeld aus leicht unterschiedlichen Blickwinkeln wahrnehmen und die Informationen über das Gesichtsfeld – mit jeweils minimalem Unterschied – im Sehzentrum doppelt vorliegen, kann das Gehirn aus dieser Art „Hologramm“ ein räumliches Abbild des Gesichtsfelds entwickeln.
Sehzentrum setzt Prioritäten
Im Sehzentrum sind die durch die Augen aufgenommenen Information so organisiert, dass Orte, die im Gesichtsfeld nahe beieinander liegen auch von benachbarten Nervenzellen verarbeitet werden. Außerdem nehmen Informationen aus dem Blickmittelpunkt auch im Sehzentrum mehr Platz ein, so dass mehr Nervenzellen für wichtige Informationen zur Verfügung stehen als für die „uninteressanten“ Informationen aus dem Rande des Blickfelds.
Beim Albinismus ist diese ursprüngliche Ordnung von Sehnerv und Sehzentrum gestört: Die Fasern des Sehnervs eines Auges verteilen sich nicht gleichmäßig auf beide Gehirnhälften wie im Normalfall, sondern wandern zum großen Teil auf die gegenüberliegende Seite.
Geordnetes Chaos
Die Folge: Zum einen wird ein Teil des Gesichtsfeldes im Sehzentrum nicht mehr doppelt abgebildet, die Informationen über diesen Teil des Gesichtsfeldes liegen im Sehzentrum nur noch einfach vor. Deshalb ist bei vielen Albinismus-Patienten auch das räumliche Sehen eingeschränkt oder sie neigen zum Schielen. Zum anderen landen im Sehzentrum einer Gehirnhälfte nicht nur Informationen aus dem Auge der gegenüber liegenden Seite, sondern auch aus dem Auge derselben Hirnhälfte. Würde das linke Sehzentrum also im Normalfall nur die rechte Gesichtsfeldhälfte abbilden, verarbeitet es bei einem von Albinimus Betroffenen Informationen sowohl aus der rechten als auch aus der linken Gesichtsfeldhälfte.
In zahlreichen Versuchen stellten die Magdeburger Wissenschaftler um Michael Hoffmann fest, dass die Größe des in der falschen Gehirnhälfte abgebildeten Teils des Gesichtsfelds variiert, so wie auch die Sehschärfe bei Betroffenen ganz unterschiedlich stark herabgesetzt ist. „Denkbar wäre also, dass der Grad der Beeinträchtigung der Sehschärfe durch das Ausmaß der falschen Repräsentation bedingt ist,“ so Hoffmann. „Bislang sind wir allerdings auf keinen solchen Zusammenhang gestoßen.“
Ebenso verblüfft waren die Wissenschaftler, als sie feststellten, dass die „kurzgeschlossenen“ Gesichtsfeld-Informationen, die in der falschen Gehirnhälfte landen, keineswegs ausgeblendet werden. Das Sehzentrum bildet auch diese Informationen geordnet ab und verschachtelt sie zudem mit dem korrekten Abbild in der anderen Gehirnhälfte.
Offene Fragen
Die Ursache für diese Störung im visuellen System ist bisher unklar. Was man aus Untersuchungen mit albinistischen Tieren weiß und was durch Versuche beim Menschen bestätigt wurde, ist, dass die Melaninsynthese bereits während der Embryonalentwicklung einen Einfluss darauf hat, wie die Nervenfasern des Sehnervs ihren Weg durchs Gehirn zum Sehzentrum finden.
Wie genau die Entwicklung von Sehnerven und Sehzentrum und eine gestörte Melaninsynthese zusammenhängen, ist noch ungeklärt. Der Albinismus bietet deshalb eine Möglichkeit, diese Fragen zu klären.
Stand: 26.05.2006