Die Machtkämpfe in Alexandria eskalieren weiter. „Kyrill begann nun mit Hilfe seiner 500-Mann starken Privatmiliz, seine Autorität nicht nur in der spirituellen Sphäre, sondern auch in der weltlichen auszuüben“, erklärt Michael Deakon, Mathematiker und Historiker an der amerikanischen Monash Universität. Mit Hilfe von Intrigen, Gewalt und Diplomatie dehnt Kyrill seine Macht immer weiter aus und schafft sich Gegner und unliebsame Gruppen vom Hals.
Machtkampf zwischen Orestus und Kyrill
Zunehmend kommt er dabei in Konflikt mit Orestus, dem ehemaligen Schüler der Hypatia, der inzwischen zum römischen Präfekten der Stadt und damit deren weltlichem Herrscher ernannt worden ist. Orestus ist zwar zum Christentum konvertiert, vertritt aber einen eher gemäßigten und pragmatischen Ansatz. Er wehrt sich gegen die Machtspiele Kyrills und beschwert sich sogar beim Kaiser Theodosius. Doch seine Beschwerde wird abgewiesen.
Jetzt geraten zunehmend auch die Gelehrten des Museions unter Druck. Inzwischen sind sowohl Hypatias Vater tot als auch Synesios von Kyrene, der sie bis zuletzt in Briefen unterstützte und wohl auch schützte. Patriarch Kyrill lässt in der Stadt Verleumdungen über sie verbreiten, in denen sie als Hexe und Satanistin bezeichnet wird: „Sie widmete sich hingebungsvoll der Magie, Astrolabien und Instrumenten der Musik, viele Menschen betörte sie mit ihren satanischen Listen“, gibt der koptische Bischof Johannes von Nikiu noch im 7. Jahrhundert diese Anwürfe mit Überzeugung wieder.
Sex ist kein Angriffspunkt
Zumindest eine in solchen Fällen sehr beliebte Diffamierung funktioniert bei Hyptia allerdings nicht: die der unkeuschen, wollüstigen Verführerin oder gar Hure. Bis ins Mittelalter hinein gehörten solche Diskreditierungen unliebsamen und starken Frauen gegenüber geradezu zum Standard, wurden gerne auch bei Prozessen gegen vermeintliche „Hexen“ eingesetzt. Hypatia allerdings ist bis weit über die Grenzen Alexandrias hinaus als keusch bekannt. Der Legende nach soll sich zwar mindestens einer ihrer Schüler heftig in sie verliebt haben, was angesichts ihrer von Zeitzeugen immer wieder gerühmten Schönheit und Ausstrahlung wohl kaum verwunderlich ist. Doch Hypatia weist alle Verehrer ab.
Der Mathematikhistoriker Michael Deakin zitiert eine Erzählung, nach der die Gelehrte einen ihrer hartnäckigsten Bewunderer auf recht drastische Weise im Vorlesungssaal blamiert haben soll. Sie hielt ihm ein mit ihrem Menstruationsblut beflecktes Tuch hin und belehrte ihn nachdrücklich, dass sie kein Idealbild und keine vollkommene Schönheit sei, sondern unrein und eine Frau wie alle anderen auch. Historiker gehen heute davon aus, dass Hypatia durchaus ihr Leben lang Jungfrau geblieben sein könnte.
Angesichts ihres in dieser Hinsicht untadeligen Rufs verzichten auch Kyrill und seine Anhänger darauf, ihre Verleumdungen bis in diesen Themenbereich auszudehnen. Sie beschränken sich darauf, Hypatia als „Verführerin des Geistes“ darzustellen und geben ihr auch die Schuld am anhaltenden Konflikt zwischen Kirche und Staat in der Stadt.
Das Recht zu denken…
Zwischen die Fronten gerät Hypatia dabei vor allem durch ihre Freundschaft zu Orestos, dem römischen Präfekten und Gegner Kyrills. „Denn da sie häufig mit Orestes Gespräche führte, wurde unter der christlichen Bevölkerung verbreitet, dass sie es sei, die Orestes daran hindere, sich wieder mit dem Bischof (Kyrill von Alexandria) zu versöhnen“, berichtet der Zeitzeuge und Kirchenhistoriker Sokrates Scholastikus.
Zudem ist Hypatia sowohl bei ihren Schülern als auch bei großen Teilen des Volkes sehr beliebt – deutlich beliebter als der Patriarch Kyrill. Ein Dorn im Auge ist ihm auch, dass Hypatia und ihre Gelehrten nach wie vor keinen Unterschied zwischen christlichen und „heidnischen“ Schülern machen. Allen Versuchen sie zum Christentum zu bekehren, sei es aus Überzeugung oder politischem Kalkül, erteilt Hypatia eine Absage. Ihre Einstellung soll sie so formuliert haben: „Bewahre dein Recht zu denken, denn auch falsch denken ist besser als gar nicht zu denken.“
Nadja Podbregar
Stand: 11.03.2010