Im Jahr des ersten großen Aufstandes der Tibeter, nachdem der Dalai Lama nach Indien emigriert war, bildete sich in Dharamsala die Exilregierung Tibets. Sie beansprucht für sich, die rechtmäßige Regierung Tibets und der Tibeter zu sein.
Derzeit leben etwa 130.000 Tibeter weltweit im Exil. Für deren Belange fühlt sich die Exilregierung zuständig und hat zu diesem Zweck demokratische Strukturen geschaffen. Bereits 1960 wurde ein Exilparlament gebildet. Im Jahr 2002 fand weltweit die Wahl eines tibetischen Premierministers statt. Gewählt wurde der für einen gewaltfreien Weg stehende Lobsang Tenzin, der nun als politischer Stellvertreter des Dalai Lama gilt.
Unterschiedliche Ansprüche
Der Dalai Lama selbst hat sich mehrfach für einen Verbleib Tibets bei China ausgesprochen, wünscht aber einen tatsächlich autonomen Status. Der wird von Tibetern immer wieder in Frage gestellt, weil die chinesische Regierung die im Tibet lebende Bevölkerung zahlreichen, zum Teil drakonischen Umerziehungsmaßnahmen aussetzt und vor allem die religiöse Meinungsfreiheit stark einschränkt.
Die Exilregierung beansprucht, anders als der Dalai Lama, nicht nur ein vollständig unabhängiges Tibet, sondern auch ein weitaus größeres Gebiet als das, was derzeit durch die Autonome Region Tibet abgedeckt wird. Das „historische Tibet“ umfasst nach Meinung der Exilregierung das autonome Gebiet als auch die chinesische Provinz Qinghai und Teile der Provinzen Gansu, Sichuan und Yunnan.
Der Tibet-Experte Andreas Gruschke, Mitarbeiter am Institut für Orientalistik der Universität Halle/Saale, sieht sowohl die Gebietsansprüche der tibetischen Exilregierung, die Freiheitsforderungen als auch den Dalai Lama ausgesprochen kritisch und äußerte sich dazu in einem Aufsatz im „Eurasischen Magazin“. So weise eine Karte in der Autobiographie des Dalai Lama von 1998 ein Tibet aus, „die allenfalls bis vor 1.200 oder 1.300 Jahren unter tibetischen souveränen Herrschern gestanden hatten“. Danach würde das heutige Gebiet Chinas um zwei Drittel reduziert.
Blick auf beide Seiten
Gruschke, der mehr als 50 Forschungsreisen nach China und Tibet absolviert und dort hunderte von Interviews mit Tibetern wie auch mit den in Tibet lebenden Han-Chinesen und anderen Minderheiten geführt hat, sieht beide Seiten in der Pflicht, sowohl China als auch Tibet.
Die Umerziehungsmaßnahmen der chinesischen Regierung schreibt er einer fehlenden Sensibilität für die religiösen Beweggründe tibetischer Mönche zu. „Leider ist von den Behörden in China nie verstanden worden, dass sie damit von den Mönchen die Quadratur des Kreises verlangen.“ Von chinesischer Seite werde der Dalai Lama vor allem politisch interpretiert, für die Tibeter jedoch zähle der religiöse Aspekt. Außerdem mache es sich die chinesische Regierung zu einfach, alle Probleme in Tibet politisch zu erklären, anstatt gemeinsam mit den Tibetern nach Lösungen für ethnische oder wirtschaftliche Probleme zu suchen.
Unkritische Weltöffentlichkeit
Der Tibet-Experte weist aber auch deutlich auf die Probleme hin, die eine Souveränität Tibets mit sich bringen würde – vor allem für die in Tibet lebende Bevölkerung selbst. Der Weltöffentlichkeit wirft er, insbesondere nach der Tibetkrise vor den Olympischen Spielen in China, Kurzsichtigkeit und mangelnde Auseinandersetzung mit der tibetischen und chinesischen Geschichte vor. Er kritisiert insbesondere die so genannte „Tibet-Lobby“, die den Gedanken der Unabhängigkeit Tibets schürt, ohne auf die Folgen zu achten
Als Tibet-Lobby betrachte er Gruppen, die als eine Form politischer Interessenvertretung über die Medien versuchten, die öffentliche Meinung und die Politik dahingehend zu beeinflussen, dass die Auffassung der ‚tibetischen Sache’, wie die Exilregierung sie vertritt, weltweit als die allein gültige und rechtmäßige anerkannt wird. „Ich meine, dass dabei die Interessen Chinas und sogar viele Interessen von Tibetern in Tibet selbst unberücksichtigt bleiben“, so der Forscher.
Über’s Ziel hinaus
Gruschkes Meinung nach schwächen die – in seinen Augen durch die Exilregierung forcierten – Proteste in diesem Jahr die Position des Dalai Lama gegenüber der chinesischen Regierung, weil sie seine Aussagen unglaubwürdig machten. Gruschke: „Die Folgen für die Tibeter in Tibet werden im Westen am wenigsten hinterfragt. Sie haben sich inzwischen an gewisse Freiheiten im alltäglichen Leben und an ökonomische Verbesserungen gewöhnt. Jetzt herrscht eine angespannte Situation wie lange nicht. Sie wurde zwar durch ‚einheimische’ Tibeter erzeugt, aber ganz offensichtlich koordiniert und gesteuert aus dem Exil.“
Offene Fragen bleiben
Gruschke beansprucht nicht, Recht zu haben. Auch ihm stellen sich eine Menge Fragen, die nach der Tibetkrise in diesem Jahr offen bleiben: Worauf wollten die friedfertigen tibetischen Demonstranten aufmerksam machen? „Warum waren friedliche Proteste und Demonstrationen in den meisten Orten Chinas bislang kein Problem, meist nicht einmal für Tibeter in den Provinzen Qinghai, Gansu, Sichuan und Yunnan, und weshalb waren sie insbesondere in Lhasa und Zentraltibet undenkbar? Liegt dies allein an Peking, oder nicht vielleicht auch an der ultraorthodoxen Lhasa-Regierung, deren tibetische Kader die am längsten in Amt und Würden befindlichen Kader der gesamten Volksrepublik sind? Muss Beijing nicht endlich sein übergroßes, von diesen Kadern zweifellos geschürtes Misstrauen überwinden und vermehrt selbst mit der Bevölkerung dort ins Gespräch kommen, um Frieden zu finden?“
Stand: 30.08.2008