Von Hand zu Hand geht der Eimer mit dem schlammigen Wasser, das am Grund des mittlerweile vier Meter tiefen Ausgrabungsschachtes unaufhörlich aus einer massiven Steinkonstruktion geschöpft wird. Es sind russische und deutsche Studierende, die auf einer Wiese in der Nähe eines frühmittelalterlichen Hügelgräberfeldes im ehemaligen Ostpreußen nach Siedlungsspuren der Wikingerzeit forschen.
Über und über mit Schlamm beschmiert, legen sie einen frühmittelalterlichen Brunnen frei, der offenbar immer noch bestens funktioniert – nach gut einem Jahrtausend. Aus dem Brunnenschacht kommen neben Holzkohleresten unzählige Tierknochen, Keramikfragmente, Glas- und Bernsteinperlen oder Geräte und Kämme aus Knochen und Eisen zum Vorschein.
Wertvolle Relikte unter Sediment und Schutt
Nur etwa ein Kilometer entfernt arbeitet ein zweites Team am Ufer eines ehemaligen Binnensees. Umschwirrt von Moskitos legen die Grabungshelfer hier schrittweise Siedlungsschichten frei, die von fast einem Meter Sediment und Schutt aus deutscher und sowjetischer Zeit überdeckt werden. Seit mehr als 1.200 Jahren schlummern diese Kulturschichten im Boden.
Zusammen mit dem Brunnen gehören sie zu einem ausgedehnten Siedlungskomplex der Prussen, einem westbaltischen Volksstamm, der um die Jahrtausendwende im späteren Ostpreußen siedelte und dem Land seinen Namen gab. Heute gehört die Region zum Kaliningrader Gebiet Russlands; die einst berühmte Philosophenstadt Königsberg trägt heute den Namen „Kaliningrad“.
Der Ausgrabungsort liegt etwa drei Kilometer südlich der Ostseeküste in einer Moränenlandschaft am Fuß der Kurischen Nehrung, die, an der Nordostecke des Samlandes beginnend, als 100 Kilometer lange Sanddüne in Richtung Klaipeda – dem früheren Memel – verläuft und die Ostsee vom Kurischen Haff trennt. Ein Seitenarm des Haffs reichte früher weiter ins Landesinnere und bildete in der Nähe des ehemaligen deutschen Dorfes Wiskiauten (heute Mohovoe) einen flachen, mittlerweile verlandeten Binnensee.
Der größte Wikingerfriedhof Deutschlands?
Von seinen Ufern erblickt man auf dem höchsten Punkt der Gegend ein kleines Wäldchen, in dessen dichtem Unterholz Hunderte von Grabhügeln verborgen liegen. Ihre ursprüngliche Zahl wird heute auf über 500 geschätzt. Als in der Mitte des 19. Jahrhunderts dort eine Straße gebaut wurde, entdeckte ein in der Nähe stationierter Leutnant mit seinen Soldaten verrostete Schwerter und Lanzen, bronzene Gewandverschlüsse sowie Münzen und Schmuckstücke aus Silber. Sie stammten aus bereits zerstörten Grabhügeln.
Kurz darauf begannen Königsberger Archäologen mit den ersten wissenschaftlichen Ausgrabungen am – wie es damals hieß – größten Wikingerfriedhof Deutschlands. Denn schnell war klar, dass die zahlreichen prunkvoll verzierten Gegenstände skandinavischen Kaufleuten und Kriegern gehörten, die im Siedlungsgebiet der Prussen zwischen 850 und 1050 nach Christus ihre letzte Ruhestätte fanden.
Die Nekropole wurde deshalb schnell als indirekter Beweis für eine Kolonie von Wikingern interpretiert, die in der bernsteinreichsten Region der Welt, dem Samland, mit den Prussen Handel trieben. Die vermutete Handelsniederlassung bei Wiskiauten aber konnte trotz intensiver Suche nie gefunden werden.
Stand: 04.07.2008