Die Seidenstraße führte nicht als einzige Route von Ost nach West, sondern bestand aus einem ganzen Geflecht von Abzweigen, „Schnellstraßen“ und lokalen Zubringern, ähnlich einem antiken Autobahn-System. Viele Karten zeichnen den Weg von China durch Zentralasien südlich des Kaspischen Meeres nach.
Doch russische Archäologen haben herausgefunden, dass es bereits im 6. Jahrhundert eine Handelsverbindung über Land zwischen den Flüssen Amudarja und Syrdarja und der Wolga gegeben haben muss, dass also ein Strang der Seidenstraße auch nördlich um das Kaspische Meer herumführte.
Heutige Halbwüste als wichtige Handelsroute?
Andrej Astafjew, Archäologe am Kulturhistorischen Museum des Naturschutzgebietes Mangyschlak in Aktau im Westen Kasachstans, geht sogar noch weiter. Er hält das Gebiet zwischen Kaspischem Meer und Aralsee, eben jene Mangyschlak genannte Halbwüste, für unterschätzt. „Für die Anbindung der ostslawischen Gebiete an die Seidenstraße ist diese Region ganz entscheidend,“ so Astafjew, „obwohl bis ins 16. Jahrhundert hinein kaum Handelswege in diesem Gebiet erwähnt wurden.“
Überhaupt ist über die Besiedelung Mangyschlaks sehr wenig bekannt. Laut Astafjew ließen sich schon vor etwa 9.000 Jahren Menschen in dieser Region nieder – sesshafte Jäger, Sammler und Fischer. „Vor etwa 3.000 Jahren, am Ende der Bronzezeit, wandelte sich das Klima am Kaspischen Meer dramatisch,“ so der Archäologe. „Es wurde so trocken wie heute, und die Menschen mussten ihre Gewohnheiten umstellen, sie wurden zu Nomaden. Von da an bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts hat sich das Leben der Menschen hier kaum geändert,“ erklärt Astafjew.
Ruinenstadt im Gebiet der „Tausend Winterweiden“
Der Stamm der Oghusen, eines der ältesten Turkvölker in Zentralasien und Vorfahren der Turkmenen, gab der Region auch ihren Namen: Mangyschlak bedeutet auf turkmenisch „Tausend Winterweiden“. Der Name kommt nicht von ungefähr, denn auf Mangyschlak lagen die Winterquartiere der Nomaden. „Im Sommer zogen sie nach Norden in Richtung der heutigen kasachischen Städte Atyrau und Aktobe. Doch ihre Aule mit festen Häusern, Brunnen und Friedhöfen hatten sie hier auf Mangyschlak.“
Diese Nomaden bauten keine Städte. Eben deshalb ist Andrej Astafjew sicher, den Anhaltspunkt gefunden zu haben, dass es auf Mangyschlak ein bedeutendes Handelszentrum der Seidenstraße gab. Denn er und seine Kollegen haben in den letzten Jahren die Ruinen einer mittelalterlichen Stadtanlage genauer unter die Lupe genommen. Kyzylkara heißt die seit langem bekannte Fundstätte, die im Nordosten von Mangyschlak liegt.
Buntes Völkergemisch in Handelsmetropole
Dass Kyzylkara ein wichtiges Zentrum gewesen sein muss, beweist allein die Größe von 50 Hektar. Astafjew und seine Kollegen stießen auch auf teilweise zwei Meter mächtige Ablagerungen aus Überbleibseln regen Händlerlebens. „Die Stadt wurde vermutlich von Handwerkern und Kaufleuten gegründet,“ so Astafjew. „Es gab eine Eisen- und Kupferverarbeitung, man stellte Leder her, handelte mit Fellen von Zobel, Marder, Biber oder Steppenfuchs, kaufte und verkaufte Teppiche, Stoffe, Jagdfalken, Hammel, Kühe, Panzerhemden und Sklaven.“ Und es ging tolerant zu in der Stadt. „Hier lebten Moslems, Christen, Juden, Buddhisten und Heiden,“ ist sich Astafjew sicher. Das sei an der Bauform und der Ausrichtung der einzelnen Häuser abzulesen. Zudem wurde rege mit den Nomaden gehandelt.
Gegründet wurde Kyzylkara etwa in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts, darauf weisen Tonscherben hin. Zu dieser Zeit gehörte Mangyschlak zum Staat Chorezm, dessen nordöstlichster Vorposten die Stadt Itil an der Wolga war. Von der Hauptstadt Chorezms, Urgench, heute in Usbekistan, bis nach Kyzylkara war eine Karawane etwa 25 Tage unterwegs.
Sinkender Wasserspiegel blockiert Wasserweg
Eines jedoch wunderte die Archäologen um Andrej Astafjew – die Lage von Kyzylkara kurz vor der Küste des Kaspischen Meeres. Merkwürdigerweise führte auch die Hauptstraße von Kyzylkara schnurstracks nach Nordwesten, direkt auf die Küste zu. „Man könnte das so erklären, dass die Lage von Kyzylkara so günstig war, weil es hier genug Trinkwasser und Holz als Brennstoff gab“, so Astafjew. Am Wasser seien die Waren dann auf Schiffe umgeladen und weiter zur Wolga transportiert worden.
Doch die archäologischen und klimatischen Forschungen widersprechen diesem Szenario: Seit langem ist bekannt, dass der Wasserspiegel des Kaspischen Meeres periodischen Schwankungen unterliegt. Für die letzten 2,3 Millionen Jahre konnten diese rekonstruiert werden. Heute liegt der Wasserspiegel etwa 27 Meter unter Normalnull des Kronstädter Pegels bei St. Petersburg. Zwischen dem 5. und 14. Jahrhundert jedoch befand er sich in Regression, sank also in dieser Zeit extrem ab, bis maximal 34 Meter unter Null.
Landbrücke über trockenen Seeboden
„Das ist genau die Zeit, als der nördliche Zweig der Seidenstraße in Betrieb ging,,“ zeigt sich Astafjew begeistert über die Entdeckung, „und zwar nicht per Schiff sondern über eine durch den sinkenden Meeresspiegel frei gewordene Landbrücke hinweg.“ Und richtig: Verlängert man die Linie von Kyzylkara weiter nordwestlich, stößt man irgendwann direkt auf die Stadt Itil an der Wolga. Die Seidenstraße führte also auf einer Landbrücke direkt durch das heutige Kaspische Meer hindurch.
Die Karawanen legten pro Tag etwa 25 bis 30 Kilometer zurück, wo sie in einfachen Karawansereien unterkamen. „Wenn wir den Boden des Kaspischen Meeres im nördlichen Bereich untersuchen könnten,“ ist Astafjew überzeugt, „würden wir ganz sicher in regelmäßigen Abständen auf weitere Überbleibsel der alten Karawanenroute stoßen.“
Stand: 04.04.2008