Es herrscht Chaos. Ich bin auf dem Weg nach Tübingen zum Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik, wo ich mit Nikos K. Logothetis verabredet bin. Doch ein plötzlicher Wintereinbruch hat den Bahnverkehr völlig aus dem Takt gebracht. Der Stuttgarter Hauptbahnhof ist zum Bersten voll mit Reisenden, die verzweifelt auf Anschlusszüge warten. Alle reden durcheinander, Koffer klappern, Menschengruppen hetzen von einem Ende des Bahnhofs zum anderen und immer wieder überschallen Lautsprecherdurchsagen mit aktuellen Gleisänderungen den allgemeinen Klangteppich.
Es ist ein akustisches Tohuwabohu – und der Hall im Bahnhofsgebäude tut ein Übriges. Trotzdem schaffe ich es, aus dem allgemeinen Geräuschbrei genau die Informationen herauszupicken, die ich benötige, um doch noch pünktlich nach Tübingen zu kommen. Und gleichzeitig gelingt es mir zudem sogar, mit einer Mitreisenden zu plaudern.
Meisterleistung des Gehirns
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Natürlich ist mir im Trubel auf dem Stuttgarter Bahnhof gar nicht bewusst, welche Meisterleistung ich gerade vollbringe – oder besser gesagt mein Gehirn. Denn das muss schließlich die Vielzahl akustischer Informationen verarbeiten, die ungefiltert an meine Ohren dringen. Es entscheidet letztlich auch, was davon in meinem Bewusstsein ankommt.
Wie es das bewerkstelligt, ist noch längst nicht vollständig geklärt. Weitgehend offen ist auch die Frage, wie unser Gehirn das Gehörte mit dem verknüpft, was wir sehen oder fühlen, und wie es verschiedene Sinnesreize zu einem Gesamtbild unserer Umwelt zusammenfügt.
Noch viele Rätsel um Verarbeitung akustischer Signale
„Als wir angefangen haben, uns für diese Fragestellungen zu interessieren, war ich wirklich erstaunt darüber, wie wenig man über die Verarbeitung akustischer Signale weiß“, erinnert sich Logothetis, Direktor der Abteilung Physiologie kognitiver Prozesse. Denn im Gegensatz zum Hören sei die Leistung des Gehirns in Sachen Optik – der ursprünglich das Interesse des Wissenschaftlers galt – schon recht gut erforscht.
Und er hat auch eine Erklärung dafür parat: „Die meisten Menschen mit Hörproblemen leiden an einer Störung in der Cochlea, also der Hörschnecke, und nicht an einem Defekt im Gehirn.“ Da sei die Erforschung der Vorgänge im Denkorgan eben immer zweitrangig gewesen – aber nicht weniger spannend, wie er findet.
Stand: 10.05.2007