Das Spiel mit den Mutationen ließe sich noch weiter treiben. Schließlich kann man, folgt man dem Baum von oben nach unten, für jedes Mutationsmuster eine Gesamtwahrscheinlichkeit ermitteln. Dank der Datenbank wiederum ist zu jedem Muster ein Resistenzfaktor bekannt. So lässt sich herausfinden, wie wahrscheinlich ein Virus nach einer bestimmten Zahl an Mutationen resistent ist. Mehr noch: Die Informatiker sind gar in der Lage, die Wahrscheinlichkeiten in Zeiten umzurechnen. Damit konnten sie erstmals zuverlässig für jedes Medikament bestimmen, wie schnell eine erwartete Resistenz eintreten wird.
„Man nennt das die Genetische Barriere – sie ist ein Maß dafür, wie schwer es für ein Virus ist, eine Resistenz zu entwickeln“, sagt Sing. Mit den Mutagenetic Trees lässt sie sich die Barriere nun genauer bestimmen.
Tobias Sing weiß, dass es nicht genügt, Resistenzen für einzelne Medikamente zu bestimmen. Die Forscher wollen begreifen, wie Medikamente zusammenwirken, wie im Konzert der Wirkstoffe neue Mutationen entstehen. Die Voraussage von Resistenzen für einzelne Wirkstoffe ist essenziell. Aber es liegt auf der Hand, dass mehrere Medikamente gemeinsam anders auf die Viren wirken als die klassischen Mono-Präparate.
Algorithmus blickt in die Zukunft
Die Max-Planck-Arbeitsgruppe rührte deshalb die Genetischen Barrieren für die 17 Medikamente zusammen – wiederum in einer Support-Vektor- Maschine. Eingegeben wurde, welche Medikamente die Patienten eingenommen und nicht eingenommen hatten, sowie die 17 Genetischen Barrieren für jedes Medikament. Zudem erfassten die Forscher, ob die Therapie nach einer bestimmten Zeit erfolgreich war oder nicht. „Gibt man jetzt in die Maschine die Virensequenz eines Patienten ein, probiert unser Algorithmus verschiedene Therapiekombinationen aus“, erläutert Sing. „Dank der Genetischen Barrieren verfügt er über Wissen zur Evolution des Virus und kann damit gewissermaßen in die Zukunft blicken.“
Der Computer schlägt anschließend jene Kombination vor, die mit größter Wahrscheinlichkeit zum Erfolg führt. Auch diese auf Genetischen Barrieren basierenden Vorhersagen haben die Forscher inzwischen in den Geno2Pheno-Webservice eingebaut – als Combination-Therapy-Optimization-Funktion.
„Es ist verblüffend, wie gut die Ergebnisse aus Geno2Pheno mit unseren Einschätzungen übereinstimmen“, sagt der Kölner Mediziner Tillman Schumacher. Er ist deshalb davon überzeugt, dass die Programme aus Saarbrücken die Realität treffend abbilden. „Derartige Rückmeldungen sind eine Bestätigung, dass wir hier gute Arbeit leisten“, sagt Tobias Sing. „Schließlich haben wir es ja stets nur mit Modellen zu tun.“ Und mit einem Augenzwinkern fügt er hinzu: „Und jedes Modell hat seine Schwächen.“
Rechenkraft löst Resistenz-Rätsel
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Derzeit arbeiten Sing und seine Kollegen daran, mit den mathematischen Modellen auf ein bislang wenig bearbeitetes Feld der HIV-Forschung vorzustoßen: Sie wollen herausfinden, wie die Entwicklung von Mutationen mit dem so genannten Genetischen Background der Viren, aber auch des Menschen verknüpft ist. So gibt es zum einen Anzeichen dafür, dass eine ganze Reihe bislang wenig beachteter Mutationen im Virenerbgut die Entwicklung von Resistenzen mit beeinflussen. Die Wissenschaftler konnten mit ihren Berechnungen zeigen, dass manche bislang unbeachtete Mutationen auffallend häufig mit altbekannten Mutationen neu einhergehen.
Zum Zweiten liegt auf der Hand, dass jeder Mensch anders auf die Viren reagiert. Wie die individuellen Unterschiede im menschlichen Erbgut und somit im Stoffwechsel die Entstehung von Resistenzen beeinflussen, ist nach wie vor unklar. Die Forscher aus Saarbrücken wollen dieses Rätsel lösen – mit Rechenkraft.
Stand: 07.04.2006