Im Galopp durch Sibirien

Über China zur Kara-See

Anfang der 1870er Jahre plant der Bremer Verein für die Nordpolarfahrt eine Expedition nach Westsibirien. Um ausreichend Geld zusammenzubekommen, wird die Erschließung einer ständigen Handelsroute zwischen Skandinavien und Westsibirien als Beweggrund ins Gespräch gebracht. Sie soll die wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland beleben. Offiziell gilt die Reise daher nur untergeordnet geographischen, zoologischen und botanischen Erkenntnissen.

Die Reisegruppe

Die drei Sibirien-Reisenden © A.Förster/C.Titel

Trotzdem soll Otto Finsch, Ornithologe, Ethnologe und Direktor des Naturhistorischen Museums in Bremen, die Expedition leiten. Finsch ist ein langjähriger Freund Alfred Brehms, und er bietet ihm an, ebenfalls an der Reise teilzunehmen. Brehm, der zu dieser Zeit keine anderen Verpflichtungen hat, stimmt gerne zu. Gemeinsam mit dem Botaniker und Kartographen Graf Karl Waldburg-Zeil-Trauchburg bricht man im März 1876 von Berlin in Richtung St. Petersburg auf. Vor den Reisenden liegen 13.000 Kilometer – größtenteils durch bisher kaum bereiste Gegenden des russischen Zarenreiches.

Ziel der Expedition ist die Ob-Mündung am Karischen Meerbusen. Doch anstatt sich in Westsibirien dem Ob folgend gen Norden zu wenden, entschließt sich die Reisegruppe eigenmächtig zu einem Abstecher an die russisch-chinesische Grenze, ein Umweg von knapp 5.000 Kilometern Länge.

Zu wenig Zeit

aus "Die Natur", 1876 © A.Förster/C.Titel

Mit dem Wohlwollen Kaiser Wilhelms I. und Zar Alexanders II. sowie mehreren Empfehlungen russischer und deutscher Minister ausgestattet, erhalten die Reisenden in Russland jegliche Unterstützung. So wird die Expedition weniger zu einem gefährlichen Abenteuer, denn zu einer Hetzjagd durch die unendlichen Weiten Sibiriens. Denn alle Beteiligten haben die Größe des Landes unterschätzt und nirgendwo so viel Zeit zur Verfügung, wie gewünscht. Hinzu kommen unwegsame Straßen und Wetterumschwünge, die die Reise so beschwerlich machen, dass Brehm nach Hause schreibt: „Die Wege sind furchtbar und die Reise ist kein Vergnügen. Mir ist zumute, als ob ich einen ganzen geschlagenen Tag auf dem Kamel geritten habe.“

Der ergiebigste Streckenabschnitt für die Forscher ist der Weg von Tjumen über Jekaterinburg nach Semipalatinsk. Hier, inmitten der riesigen Steppe, sieht der Zoologe Brehm erstmals Tarpane, Saiga-Antilopen und Argali-Schafe, er studiert die Vogelwelt am Flusslauf des Irtisch, sammelt Käfer, Schlangen, Eidechsen und jagt Wölfe.

Pferd oder Esel? – Der Kulan

Der Reisepass Alfred Brehms © A.Förster/C.Titel

Besonders angetan haben es ihm die Kulane. Diese Wildpferdart Zentralasiens interessiert ihn, weil die Wissenschaft bis dahin nichts über den Ursprung der Pferde weiß, und Brehm vermutet im Kulan den Urvater des Hauspferds. Die Suche danach spielt für den Zoologen eine wichtige Rolle, denn sie dient auch dazu, Darwins noch nicht anerkannte und durch die Kirchen angefeindete Evolutionstheorie zu bestätigen. „Wenn Darwins Lehrsätze sich als richtig sich erweisen sollten, dürfen wir in dem Kulan vielleicht den Stammvater unseres, durch jahrtausende lange Zucht und Veredelung allmählich umgestalteten Pferdes sehen“, so Brehm. Er irrt, denn Kulane sind zwar ebenso Einhufer, gehören aber zu den Asiatischen Wildeseln. Heute ist das Przewalski-Pferd als Urform der Hauspferde anerkannt, doch in dem von Brehm bereisten Gebiet kommt es damals nicht vor. Zudem wird es erst 1881 von dem polnischen Biologen Przewalski entdeckt und beschrieben.

Sein Bericht über das Leben der Kulane bleibt jedoch eine zoologische Kostbarkeit. Allerdings wird auch seine darin geäußerte Prognose, dass „die Ausrottung des schönen Tieres hier noch nicht zu befürchten steht“ zur Fehleinschätzung. Heute gibt es nur noch einige Tausend Kulane und sie sind vom Aussterben bedroht. Die Tarpane hingegen hält Brehm – zu recht – für verwilderte Hauspferde der Nomaden.

Späte Wertschätzung

Obwohl die Sibirien-Expedition schließlich auf dem Ob in Richtung Norden fortgesetzt wird, erreichen die Forscher die Mündung des Flusses nicht. Aus Zeitgründen tritt man Anfang August die Rückreise an – mit 150 erlegten Säugetieren, 550 Vögeln, 150 Reptilien, 1.000 Insekten und zahlreichen Handstücken von Felsen im Gepäck – ordentlich in 13 große Holzkisten verpackt.

Doch die Wissenschaftler zuhause sind wenig begeistert. Ihrer Meinung nach ist die Ausbeute für die zurückgelegten Kilometer verhältnismäßig gering. Ebenso groß ist die Enttäuschung, keine neuen Tierarten entdeckt zu haben. Doch die Tagebuchaufzeichnungen Finchs und Brehms erweisen sich im Nachhinein als ergiebige Zeugnisse über das Leben in Sibirien vor der eigentlichen Erschließung des Landes, sowohl in zoologischer wie auch in ethnologischer Hinsicht.

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Stand: 01.04.2005

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In den Schlagzeilen

Inhalt des Dossiers

Alfred Edmund Brehm
Der Vater des Tierlebens

Prägung am Blauen Nil
Fünf Jahre Afrika

Lebensziel: Schriftsteller
Die Berufung des Alfred Brehm

Das Leben der Vögel
Fingerübung für das „Tierleben“

Der streitsame Herr Zoodirektor
Brehms Gastspiele in Hamburg und Berlin

Brehms Tierleben
Geschichte eines zoologischen „Longsellers“

Im Galopp durch Sibirien
Über China zur Kara-See

Bauanleitung für kirgisische Jurten
Brehm als Ethnologe

Schicksalsschläge am Lebensende
Brehm, der Familienmensch

Der biedere Tiervater
Brehm aus heutiger Sicht

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