Geologie/physische Geographie

„Ein breiter Ring kann heißen ‚warm’, ‚kalt’ oder ‚kalt und Regen’“

Interview mit Ilse Boeren, Teil I

Ilse Boeren ist Diplom-Biologin und arbeitet am Institut für Botanik der Universität Hohenheim. Schon für ihre Diplomarbeit hat sich die Belgierin auf die Untersuchung von Baumringen spezialisiert. Zurzeit schreibt sie im Rahmen der Forschungen zum Paläowald Reichwalde ihre Dissertation. g-o.de hat die Dendrochronologin zum derzeitigen Forschungsstand des Projekts befragt.

g-o.de: Frau Boeren, wie sieht die Arbeit einer Dendrochronologin heute aus? Sitzen Sie da mit Bleistift und Lineal und vermessen die Breite der Baumringe?

Boeren: Ja, so ungefähr ist das immer noch. Allerdings hilft der Computer heute bei der Messung der Ringe. Die Baumscheiben oder Holzbohrkerne werden auf einem beweglichen Tisch unter eine Stereolupe gelegt, so dass man der ganzen Länge nach alle Ringe abzählen und vermessen kann. Jede Grenze zwischen zwei Jahrringen wird durch einen Mausklick markiert, und der Computer misst den Abstand zur vorherigen Markierung. Während die Jahrringbreiten früher von Hand auf Millimeterpapier aufgetragen wurden, druckt uns heute der Computer die Daten sofort als Zickzackkurve aus.

g-o.de: Gibt es im Vergleich zur Zeit von Andrew Ellicott Douglass, dem Begründer der Dendrochronologie, Weiterentwicklungen der Methode?

Stammquerschnitt einer Roteiche © H.D. Grissino-Mayer

Boeren: Das Prinzip des Crossdating ist noch immer das gleiche. Was sich aber sicher weiterentwickelt hat, sind die

Schlussfolgerungen, die man heute aus dendrochronologischen Untersuchungen zu ziehen vermag. Denn mittlerweile gibt es mehr Standardchronologien und auch mehr Erfahrungen aus allen Anwendungsbereichen, wie der Botanik, der Archäologie, der Geomorphologie oder der Klimatologie. So wird heute bereits an Programmen gearbeitet, mit deren Hilfe Baumringe quasi „automatisch“ entschlüsselt werden sollen. Das Ziel besteht darin, Computerprogramme zu entwickeln, die aus der Struktur der Ringsequenzen automatisch die Ringbreiten ermitteln. Da aber stets unheimlich viele Faktoren für ein bestimmtes Aussehen der Baumringe, ihre Farbe, Struktur und die Deutlichkeit der Jahrringgrenze, sorgen, ist das natürlich sehr schwierig.

So viel ich weiß, sind noch keine Programme entwickelt, die alles auf ein Mal können. Die Jahrringe messen, das geht schon automatisch, obwohl nicht immer zuverlässig. Es gibt Programme, die helfen beim Vergleich verschiedener Jahrringsequenzen sowie bei der Statistik und Interpretation der ökologischen Untersuchungen. Es gibt auch bereits Modellierungsversuche, wobei man mit Jahrringen das Klima der Vergangenheit rekonstruieren möchte.

g-o.de: Kann man die Baumringe dann als Hieroglyphen verstehen, die es nach einem bestimmten Code zu entschlüsseln gilt?

Boeren: Nein, eigentlich nicht. Sie sind keine Art von Sprache, weil sie nicht eindeutig sind. Ein breiter Ring kann bedeuten „warm“, aber auch „kalt“ oder „kalt und viel Regen“. Wenn man die Ringe als Sprache versteht, dann eher als vielschichtige Fremdsprache, die erst noch übersetzt und interpretiert werden muss, wobei Nuancen und Kontext eine sehr große Rolle spielen.

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Stand: 05.11.2004

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In den Schlagzeilen

Inhalt des Dossiers

Dendrochronologie
Der Baum-Code

Eine Sackgasse wird zur Pole-Position
Die Entdeckung der Baumringe als Klimaarchiv

Die Anasazi und ein Missing Link
Dendrochronologie - Die Geburt, Teil I

HH-39 – Der „Stein von Rosetta“ Nordamerikas
Dendrochronologie - Die Geburt, Teil II

Crossdating, ein unendliches Puzzle
Das Grundprinzip der Dendrochronologie

Ringzauber
Wie Bäume wachsen

Von Hochwässern, Lawinen und Buschfeuern
Baumringe als Datenspeicher

Der älteste Kalender der Welt
Der Hohenheimer Jahrringkalender

Der Methusalem unter den Bäumen
Die kalifornische Borstenkiefer

… Kontrolle ist besser
Baumringe als Eichmaß für die C14-Datierung

Wiederauferstehung eines Ur-Waldes
Der späteiszeitliche Paläowald Reichwalde

„Ein breiter Ring kann heißen ‚warm’, ‚kalt’ oder ‚kalt und Regen’“
Interview mit Ilse Boeren, Teil I

„Den Wäldern in Sibirien ähnlich“
Interview mit Ilse Boeren, Teil II

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