Schon um 640 vor unserer Zeit kannte der assyrische Herrscher Assurbanipal die Formel zur Glasherstellung. „Nimm 60 Teile Sand, 180 Teile Asche von Meerespflanzen und 5 Teile Kalk, und du erhältst Glas“ ließ er in Keilschrift auf eine Tontafel meißeln. Obwohl mittlerweile rund die Hälfte aller 118 auf der Erde vorkommenden Elemente für die Produktion von mehr als 500 verschiedenen Glassorten verwendet wird, gilt diese Empfehlung noch immer als Rezept für gewöhnliches Fensterglas.
Allen Mixturen zur Herstellung von farbigem, undurchsichtigem, gepresstem, gegossenem, Spiegel- oder Panzerglas ist jedoch eines gemeinsam: der Glaszustand. Diese Eigenschaft beruht auf der besonderen Molekularstruktur des Glases – und sie gibt Physikern, Chemikern und Werkstoffkundlern noch immer Rätsel auf. Neben Supraleitern und Magnetismus gehört der Glaszustand zu den Themen der modernen Festkörperphysik, die grundsätzlich mehr Fragen aufwerfen als sie Antworten geben. Gernot Kasper vom Institut für Physik an der Universität Heidelberg bezeichnet die Glasforschung sogar als „moderne Alchemie“. Versuch und Irrtum bestimmten die Arbeitsweise der Forscher, weil sich Glas einfach anders verhält als Kristalle, Flüssigkeiten oder Gase, so der Physiker.
Glas fließt
Glas ist nur scheinbar fest. Vielmehr befindet es sich in einem unmerklichen Zustand des Fließens. Im Gegensatz zu den meisten anderen Feststoffen besteht es nämlich nicht aus Kristallen, sondern ist innerlich formlos, amorph. Gleichzeitig ist die Struktur aber „aufgeräumter“ als in einer Flüssigkeit, wo jedes Molekül theoretisch zum anderen kann. Glasmoleküle sind in einem ungeordneten Stadium zwischen dem flüssigen und dem festen Aggregatzustand steckengeblieben. Sie sind jedoch noch immer in Bewegung, um den geordneten kristallinen Zustand zu erreichen, aber so langsam, dass es 44 Billionen mal so lange dauern würde wie die Erde existiert, bis Fensterglas sich vollständig verfestigt und ein Kristallgitter ausgebildet hätte.
Die meisten Stoffe haben einen festen Schmelzpunkt. Wird dieser unterschritten, kristallisieren Flüssigkeiten relativ schnell, egal ob Wasser oder flüssiges Metall. Die Abstände der Moleküle verringern sich und es entsteht eine regelmäßige, stofftypische Kristallstruktur. Beim Glas ist das anders. Glas hat keinen Schmelzpunkt, sondern wird in einem Temperaturbereich von mehr als 1.000 Grad Celsius allmählich zähflüssig. Die aus Silizium und Sauerstoff bestehenden Grundbausteine im Glas sind aber auch im flüssigen Zustand so fest miteinander verbunden, dass diese Bindungen für ein regelmäßiges Kristallgitter erst aufgebrochen werden müssen. Das wiederum geht beim Glas so langsam, dass sich, bevor das Glas erkaltet und verfestigt, keine Kristalle bilden können.
Unentschiedene Moleküle?
Warum genau Glas sich so verhält, ist bisher ungeklärt. Bekannt sind seit langem nur die Stoffgemische aus Metalloxiden und -sulfaten, die den Glaszustand auslösen und deren ausgeklügelte, geheime Cocktails immer wieder neue Glassorten ermöglichen. Neu ist die Erkenntnis, dass Glas keine einheitliche Dichte hat, sondern „Molekül-Inseln“ bildet und deshalb eng und locker gepackte Bereiche enthält. Laut Gernot Kasper könnte dies den rätselhaften Glaszustand erklärten: Eigentlich streben die Molekül-Inseln eine gleichmäßige Vernetzung an. Weil sich einzelne Moleküle aber nicht entscheiden können, zu welcher der Inseln sie sich mehr hingezogen fühlen, bleiben sie im Fluss – und verhindern so ein regelmäßiges Kristallgitter.
Stand: 08.10.2004