Die fein verzahnten Komponenten unseres Schmerzsystems sind ein Wunderwerk an Komplexität und Anpassungsfähigkeit – allerdings nicht immer zu unserem Vorteil. Denn genau diese Flexibilität hat spätestens dann fatale Folgen, wenn sich das Gehirn an einen Schmerz „zu gut“ anpasst.
Normalerweise sorgt ein körpereigenes Hemmsystem dafür, dass Schmerzen schnell wieder abklingen: Die Beule am Kopf tut schon kurze Zeit später nicht mehr weh, der verstauchte Knöchel schmerzt nicht mehr beim Auftreten. Doch es gibt Schmerzen, die bleiben – und das häufig selbst dann, wenn ihr eigentlicher Auslöser längst nicht mehr existiert. Doch wie ist das zu erklären?
Das Geigenspiel bringt es an den Tag…
Lange Zeit waren Neurowissenschaftler der Meinung, dass der somatosensorische Kortex – die Gehirnbereiche, in denen die eintreffenden Schmerz- und Sinnesreize verarbeitet werden – bei Erwachsenen nicht mehr plastisch und damit nicht mehr veränderlich ist. Untersuchungen der letzten Jahre haben jedoch gezeigt, dass sich diese Gebiete nach Verletzungen oder durch Lernprozesse durchaus noch verändern können – und zwar sowohl in ihrer Größe als auch in der Lage der einzelnen Sinnesfelder.
So ist bei Berufsmusikern wie beispielsweise Violinisten das Areal, dass die Reize ihrer linken Hand verarbeitet, deutlich größer als bei Personen, die niemals gelernt haben, Geige zu spielen. Das jahrelange und früh begonnene Training hat mit der Zeit die Gehirnstrukturen offensichtlich dauerhaft modifiziert. Doch inzwischen hat sich herausgestellt, dass nicht nur Training, sondern auch Schmerz solche Spuren hinterlassen kann.
Die „Spur der Schmerzen“ im Gehirn…
Schmerzforscher der Universität Heidelberg haben im Jahr 2002 die Aktivität und Ausdehnung der somatosensorischen Felder an Patienten mit und ohne chronische Rückenschmerzen mithilfe der Positronenemissions-Tomographie (PET) untersucht. Das Ergebnis: Bei den Schmerzgeplagten war das den Rücken repräsentierende Gehirnareal ausgeweitet und in Richtung Bein verschoben – und dies umso deutlicher, je chronischer der Schmerz war. Ganz offensichtlich kann Schmerz, wenn er lange genug anhält und stark genug ist, sogar unser Gehirn umorganisieren und sich damit fest in unsere „Hardware“ einbrennen.
Dieser Mechanismus funktioniert kurioserweise auch dann, wenn der Körperteil, der ursprünglich den Schmerz verursacht hat, längst nicht mehr existiert – nach Amputationen. Er ist die Ursache für den lange Zeit rätselhaften Phantomschmerz, bei dem die Betroffenen Schmerzen an der Stelle zu fühlen glauben, an der ihr amputiertes Bein oder der Arm saßen. Neurologen gehen heute davon aus, dass frühere Schmerzreize aus diesem Körperteil, ausgelöst durch eine vorangehende Erkrankung oder Verletzung oder sogar durch die Amputation selbst, im Gehirn ebenfalls eine Verschiebung und Sensibilisierung der zuständigen Kortexareale bewirkt haben. Nach der Amputation strahlen Reize aus benachbarten Gebieten in diese Areale ein und suggerieren Schmerzen im „Phantombein“.
…und anderswo
Doch das Schmerzgedächtnis unseres Körpers sitzt nicht nur im Gehirn. Auch im Rückenmark und dem gesamten peripheren Nervensystem finden tiefgreifenden Veränderungen statt. Studien haben gezeigt, dass ein anhaltendes Bombardement mit Schmerzsignalen auch das Muster der genetischen Aktivität in den Zellen des Rückenmarks beeinflusst, ein Prozess, der bei akuten Schmerzen nicht auftritt. Die Mobilisierung und Expression dieser Gene veranlasst die Produktion von Neurotransmittern wie L-Glutamat und Substanz P, aber auch von Ionenkanälen, die die Erregbarkeit der Nervenzelle nachhaltig steigern. Das Resultat: Die Neurone feuern selbst bei nicht schmerzhaften Reizen ständig und fluten das Gehirn mit wahren Salven von Schmerzsignalen.
Stand: 20.02.2004