Der Rückzug eines Gletschers ist jedoch nicht nur negativ: Er gibt gleichzeitig neuen Lebensraum frei und macht aus einer für fast alle Lebewesen feindlichen Umgebung ein neues Habitat. Ziehen sich die Gletscher zurück und tauen die Permafrostböden auf, können die Pflanzen Standorte zurückerobern. So ist es heute, wenn sich die Alpengletscher zurückziehen, so war es aber auch am Ende der Eiszeit.
Bevor die Eiszeit die Alpen mit einer dicken Eisschicht überdeckte, waren die Vegetationsverhältnisse noch sehr weit von den heutigen entfernt. Im Tertiär, vor 60 Millionen Jahren, gab es in Mitteleuropa unter subtropischen Klima noch eine artenreiche üppige Flora mit Mammutbäumen, Magnolien, Palmen und Sumpfzypressen. Heute finden sich diese Pflanzen nur noch als Fossilien wieder.
Mit der beginnenden Eiszeit änderten sich die Umweltbedingungen dramatisch. Mitteleuropa wurde von einer Tundrenvegetation bedeckt, artenarme Birken- und Kiefernwälder traten hinzu. Die Alpen vergletscherten bis auf einige Ausnahmen vollständig. Die aus Skandinavien vorstoßenden Gletscher ließen nur eine 300 Kilometer breite gletscherfreie Zone übrig.
Keine Ausweichmöglichkeit
Wegen des Ost-West verlaufenden Gebirges konnten die Pflanzen nicht in den wärmeren Süden ausweichen. Deshalb sind in Mitteleuropa nur wenige krautige Pflanzen und keine Holzgewächse aus dieser Zeit erhalten geblieben. Nur besonders widerstandsfähige und anspruchslose Arten konnten sich im rauhen Klima der Eiszeit behaupten. Vor allem am Alpensüdrand, im Gebiet der Dolomiten, des Gardasees, der Julischen und der Tessiner Alpen blieben einige Gebiete eisfrei. An solchen Reliktstandorten überdauerten Pflanzenarten der Tertiärzeit wie die Wulfenie, Kärntens Nationalblume, bis heute.
Vor ungefähr 13.000 zogen sich die Gletscher endgültig zurück. Zwar gab es auch während der Eiszeit immer wieder Phasen des Gletscherrückzugs, die Interglaziale oder Zwischenwarmzeiten, eine Wiederbesiedelung der Alpen fand aber erst in der Nacheiszeit statt. Besonders die klimatisch anspruchsvolleren Waldbäume kehrten wieder zurück. Über die Analyse von Pollen, die in Seesedimenten oder Torfen gefunden wurden, und die Datierungen der Sedimentschichten rekonstruierten Botaniker die Wiederbesiedelung. Die Fichte überlebte die Eiszeit südöstlich der Alpen, zog daher auch zuerst wieder in die Ostalpen. Die Tanne hingegen zog von Südwesten wieder in die Alpen ein. Die bereits vorhandene Tundrenvegetation und die Gebirgspflanzen wurden von den aufkommenden Wäldern in höhere und felsige Gebiete verdrängt, die für den Baumwuchs ungeeignet sind.
Das heutige Bild einer vertikalen Vegetationsabfolge ist daher eine Folge dieses jahrtausendealten Konkurrenzkampfes. Die heutige Alpenflora besteht aus Pflanzen unterschiedlichster Herkunft und unterschiedlichen Alters. Die meisten Pflanzen der Alpen sind Zuwanderer, der geringste Anteil ist direkt in den Alpen entstanden. Das oft als „urtypisch-alpin“ bezeichnete Edelweiss ist ein Relikt aus den zentral-asiatischen Kältesteppen.
Stand: 26.03.2002