Plötzlich ist die Bergidylle zerstört: Wo vorher noch eine stille weiße Schneelandschaft war, stürzt donnernd und tobend eine Schneemasse zu Tal. Jetzt ist es für Flucht meistens schon zu spät, der überraschte Skifahrer oder Bergwanderer wird von der Lawine erfaßt und mitgerissen.
Jedes Jahr werden Hunderte von Menschen Opfer von Lawinen, allein in der Schweiz sterben jährlich zwischen 20 und 60 Menschen im Schnee.
Untersuchungen haben ergeben, daß von 65 Menschen, die von Lawinen erfaßt wurden, 53 vollständig unter den Schneemassen begraben, 13 nur teilweise verschüttet waren. Während die nur teilweise Verschütteten fast alle überlebt haben, kam für 85 Prozent der vollständig Verschütteten jede Hilfe zu spät.
Statistiken zeigen, daß die Chance, mit dem Leben davonzukommen, für Lawinenopfer in den ersten 15 Minuten sehr groß ist – vorausgesetzt sie gehören nicht zu den unglücklichen fünf Prozent, die noch vor Stillstand der Lawine tödlich verletzt wurden.
Der tödliche Knick
Zwischen 15 und 35 Minuten tritt der „tödliche Knick“ der Überlebenswahrscheinlichkeit ein. In dieser Zeit sterben alle Verschütteten ohne Atemhöhle an raschem Ersticken. Mit dem rettenden Luftraum im Schnee kann man zwar bis zu 90 Minuten in der Lawine in relativer Sicherheit überleben, Sauerstoffmangel und Unterkühlung führen aber nach 90 bis 130 Minuten meist zum Tod. Nur mit sehr großen Atemhöhlen oder einer Luftverbindung nach außen sind auch längere Überlebenszeiten möglich.
Ob ein Mensch eine Lawine überlebt oder nicht, hängt daher entscheidend davon ab, wie er sich während der Lawine im Schnee verhält, welche Ausrüstung er hat und wie schnell er gerettet werden kann.
Durch Schwimmbewegungen an die Oberfläche
Alpenvereine und Lawinenwarndienste empfehlen Lawinenopfern, sich durch Schwimmbewegungen so lange wie möglich an der Oberfläche der Schneemasssen zu halten und mit Hilfe der Hände einen Hohlraum vor Mund und Nase zu schaffen.
Hat der Skifahrer oder Bergsteiger außerdem noch einen Lawinen-Airbag oder einen Lawinenpieper bei sich, steigen seine Überlebenschancen schon erheblich.
Bei den seit 1991 eingesetzten Lawinen-Airbags handelt es sich um ein bis zwei in einen Rucksack integrierte Kunststoffballons, die im Falle eines Lawinenabgangs durch Ziehen einer Reißleine in wenigen Sekunden mit 150 Liter eines Stickstoff – Luftgemisches gefüllt werden.
Zwei physikalische Phänomene sollen es möglich machen, daß der Träger eines solchen „Ballonrucksacks“ während einer fließenden Lawine an der Oberfläche bleibt:
Durch das Luftpolster wird die Dichte des Menschen, die viel höher als die Schneedichte ist, soweit verringert, daß sie der Schneedichte ähnlich wird (von 1.000 kg/m3 auf ca. 400 kg/m3).
Der Skifahrer als großes Granulatteilchen
Der Airbag macht den Skifahrer zu einem „großen Granulatteilchen“. In der Lawine entmischen sich durch den Einfluß der Schwerkraft die vielen einzelnen Schneebrocken und –teilchen (= „Granulat“) so, daß größere Teilchen eher an die Oberfläche gespült werden.
Die Erfolgsbilanz der Lawinen-Airbags bis jetzt: Im Zeitraum von 1991 bis 1997 wurden zwölf Fälle dokumentiert, bei denen Personen mit Lawinen-Airbag von einer Lawine erfaßt wurden – alle überlebten den Unfall.
Wenn alle diese Maßnahmen und Hilfsmittel versagt haben und das Lawinenopfer vollkommen von den Schneemassen verschüttet ist, läuft die Zeit: Bei der Suche nach dem im Schnee Begrabenen zählt jede Minute.
Durch Erfahrung wissen die Lawinenrettungs-Trupps, in welchen Bereichen der Lawinenbahn die Opfer besonders häufig deponiert werden. In einer Reihe nebeneinander vorrückend sondieren sie dort in regelmäßigen Abständen den Schnee. Lawinensuchhunde nehmen Witterung auf, Peilgeräte oder das Lawinen-Verschütteten-Suchgerät (LVS) kommen zum Einsatz.
Kein Bernhardiner mit Rumfässchen
Wird ein Verschütteter noch lebend gefunden, kann er noch nachträglich an den Folgen von Luftmangel und Unterkühlung sterben. Die Bergretter müssen deshalb so rasch wie möglich die Atemwege des Überlebenden vom Schnee befreien und ihn falls nötig künstlich beatmen. Für die Mediziner beginnt jetzt der Kampf gegen die Unterkühlung.
Ist der Überlebende noch bei Bewußtsein, werden ihm heiße, gesüßte Getränke – ohne Alkohol – eingeflößt, um den Körper von innen her aufzuwärmen. Der Bernhardiner mit dem Rumfäßchen um den Hals ist zwar legendär, aber hat mit der Realität nichts zu tun. Mit Windschutz und speziellen Wärmedecken vor weiterer Auskühlung geschützt, werden die wichtigsten Verletzungen notdürftig verarztet, bei Bewußtlosen die Wiederbelebungsmaßnahmen solange fortgesetzt, bis der Rettungshubschrauber oder ein Motorschlitten den Verletzten ins nächste Krankenhaus bringt.
Statistiken des Eidgenösssischen Instituts für Schnee- und Lawinenforschung (SLF) zeigen wie entscheidend der Faktor Zeit für das Überleben einer Lawine ist: von den 473 Totalverschütteten der letzten zwölf Jahre überlebten 31 Prozent derjenigen, die durch Zeugen des Unglücks gerettet wurden. Mußte erst eine Rettungsmannschaft angefordert werden, sank die Überlebensrate auf nur noch elf Prozent.
Stand: 20.10.2001