Schnee ist nicht nur das Material der meisten Lawinen, er ist auch eines der wichtigsten Hilfsmittel der Lawinenforscher.
Das Wissen über Schnee und Lawinen gehört zwar seit Jahrhunderten zum Erfahrungsschatz der Bergbewohner, systematisch und wissenschaftlich untersucht wird die „weiße Materie“ aber erst seit Ende des letzten Jahrhunderts.
Heute gehört die Untersuchung des Schnees für die Schneeforscher wie die des eidgenössischen Instituts für Schnee- und Lawinenforschung im schweizerischen Davos zum Alltag.
In regelmäßigen Abständen studieren die Wissenschaftler das Schneeprofil, einen Schnitt durch die gesamte Schneedecke von der frischen Neuschneeschicht bis zu den Resten des ersten Schneefalls der Saison.In jeder Schicht prüfen sie die Härte, untersuchen mit der Lupe die Form und Größe der Schneekörner und berechnen den Wassergehalt.
Weitere Projekte des Instituts befassen sich mit der Abbildung des Profils im infraroten und durchscheinenden Licht, womit die Variabilität der Schneeschichten innerhalb kürzester Zeit sichtbar gemacht werden kann. Gesucht wird dabei immer nach einer sogenannten „schwachen Schicht“. Sie kann bei bestimmten Hangneigungen zur Gleitschicht werden, von der sich die oberen Schneeschichten lösen und dann wie auf einer Rutschbahn zu Tal gleiten können.
Metamorphosen…
Von dem Moment an, in dem eine Schneflocke den Boden berührt, ist sie ständig Veränderungen unterworfen. Wind, Sonne, Regen, Druck und Temperatur – alle diese Faktoren wirken auf sie ein. Je länger sie schon am Boden liegt und je tiefer die Schicht, in der sie sich befindet, desto stärker sind die Umwandlungen.
In frischem Pulverschnee, wie er bei Temperaturen weit unter dem Nullpunkt fällt, haben die Schneekristalle die Form filigraner sechsarmiger Sternchen. Durch die vielen Zwischenräume der langen Strahlen ist dieser Schnee sehr locker und enthält viel Luft, er wiegt nur etwa 100 Kilogramm pro Kubikmeter.
Die feinstrahligen Verästelungen verschwinden jedoch sehr schnell. Selbst wenn die Temperaturen gleichmäßig kalt bleiben, entstehen durch Verdunstung von Wasser aus tieferen Schneelagen und Wiedergefrieren dieses Wassers neue Kristalle, die Strahlen verbreitern sich, an den Verästelungen bilden sich die ersten rundlichen Schneekörner.
Je älter der Schnee wird, desto mehr schreitet die Körnerbildung fort. Schmelzen und Gefrieren wechseln sich ständig ab, Wasserdampf und Schmelzwasser bilden sich. Die Schneekristalle werden runder und verschmelzen teilweise miteinander, die Hohlräume verkleinern sich. Der Schnee wird immer feuchter und schwerer, sein Gewicht kann bis zu 500 Kilogramm pro Kubikmeter betragen. Dieser Festschnee nimmt mit zunehmender Körnergröße und Nässe an Beweglichkeit zu und kann zum Ausgangsmaterial für Festschneelawinen werden.
Noch lawinengefährlicher ist aber der sogenannte Schwimmschnee. Er entsteht, wenn Wasserdampf aus bodennahen, wärmeren Schneeschichten nach oben steigt und in der darüberliegenden Schicht erneut gefriert. Dabei bilden sich große becherförmige Kristalle, die durch ihre Hohlform extrem instabil sind. Wird durch Neuschnee, Regen oder Erschütterungen die Schneedecke über dem Schwimmschnee plötzlich schwerer, wird es gefährlich. Die gesamte „schwache Schicht“ kann großflächig zusammenbrechen und wirkt dann wie eine Gleitflüssigfkeit für darüberliegende Schneeschichten. Die Folge: Eine Schneebrettlawine löst sich.
Ebenfalls kritisch wird es, wenn auf einer sehr kalten Schneeoberfläche feuchte Luft zu Reif gefriert und darauf wieder Schnee fällt. Diese nur millimeterdünne, extrem brüchige und glatte Schicht ist in einem Schneprofil kaum sichtbar, kann aber für den darüberliegenden Schnee zur Rutschbahn werden.
Ein Spiel der Kräfte…
„Unberechenbar, tückisch“ so wurde das Verhalten des Schnees schon in vergangenen Jahrhunderten oft beschrieben. Diese Unberechenbarkeit rührt auch daher, das Schneemassen sich unter manchen Bedingungen vikös wie eine Flüssigkeit, in anderen aber elastisch wie ein Gummiband verhalten kann.Bedingt durch die unterschiedliche Konsistenz reagiert jede Schneeschicht anders auf die Kräfte, die auf sie einwirken. Für uns kaum sichtbar ist die Schneedecke einer Hanglage durch die Einwirkung der Schwerkraft in ständiger langsamer Bewegung.
Diese Kriechbewegung schwankt zwischen einem und 30 Millimeter pro Tag. Dabei kriecht der Schnee in den oberen Schichten etwas schneller bergab als der untenliegende, es entstehen Scherkräfte innerhalb der Schneedecke und Spannungen können sich aufbauen. An Schwachstellen der Schneedecke, den sogenannten „weak spots“ kommt es zur Bildung von kleinsten Rissen. Für sich genommen bedeuten diese noch keine Gefahr, wenn aber eine zusätzliche Belastung oder Erschütterung zum Beispiel durch einen Skifahrer hinzukommt, können sich viele dieser Initialrisse vereinigen und zu einem großen Schneeabriß und damit zu einer Lawine führen.
Stand: 20.10.2001