Mit seinem Konzept der Zellularpathologie und seinen Beiträgen zur öffentlichen Gesundheitspflege hat sich Virchow einen hohen Rang in der Geschichte der Medizin verdient. Doch der geniale Wissenschaftler ist Zeit seines Lebens längst nicht in allen Bereichen so weitsichtig, wie man vermuten könnte. Auch ihm unterlaufen Fehler.
Kritik am „Bazillenzirkus“
Sein Zeitgenosse Robert Koch bekommt dies am eigenen Leib zu spüren: Der ehemalige Student Virchows ist – wie sein einstiger Lehrer – den Ursachen von Krankheiten auf der Spur. Doch er hat dabei nicht die Körperzellen im Visier, sondern winzige, „unsichtbare“ Feinde: die Bakterien. Diese kleinen Mikroorganismen, glaubt er, könnten Krankheiten wie Tuberkulose und Milzbrand auslösen.
Virchow allerdings hält das für Unsinn. Er giftet offen über den „Bazillenzirkus“ und tut die These seines Arbeitskollegen an der Berliner Universität als kühn und unbewiesen ab. Das ändert sich auch nicht, als Koch nach und nach die Erreger zahlreicher Infektionskrankheiten identifiziert und belegt, dass deren Ausbreitung mit gezielten Maßnahmen wie Händewaschen erfolgreich eingedämmt werden kann.
Keine Anerkennung für Kollegen
An seiner ehemaligen Wirkungsstätte, der Universität Würzburg, erklärt man sich diese Hartnäckigkeit selbst angesichts sich häufender, gegenteiliger Befunde mit dem ungeheuren Selbstbewusstsein Virchows und vielleicht auch einem gewissen Hang zur Eitelkeit: „Während Virchow seine eigenen Hypothesen mit einer fast lutherischen Selbstgewissheit verteidigte, hatte er große Mühe, bahnbrechende Ergebnisse anderer großer Forscher anzuerkennen“, schreibt die Universität in einer Abhandlung zur Geschichte des Pathologischen Instituts.
Doch genau die gibt es damals zuhauf. Denn Virchow ist nicht der Einzige, der von den neuen technischen Möglichkeiten seiner Zeit profitiert. Und so gibt es neben der Zellbiologie gleichzeitig noch viele weitere Bereiche der Wissenschaft, die im Laufe des 19. Jahrhunderts neu entstehen oder sich bedeutend weiterentwickelten – eine davon ist die Bakteriologie.
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Skeptisch gegenüber Darwin
„Manchmal hat man den Eindruck, dass Virchow deren Ideen durchaus enthusiastisch akzeptiert hätte, wären sie nur seiner eigenen Einsicht entsprungen“, heißt es in der Darstellung der Universität weiter. Hätte der Forscher gewusst, dass beide Erklärungsmodelle zutreffen und sich nicht gegenseitig ausschließen, wäre er demnach vermutlich weniger skeptisch gewesen. Doch das wird erst Jahre später bewiesen.
Auch einem anderen Zeitgenossen steht Virchow kritisch gegenüber: dem Evolutionstheoretiker Charles Darwin, dessen „Origin of Species“ ein Jahr nach Virchows „Zellularpathologie“ herauskommt. Für Virchow sind die darin ausgeführten Überlegungen höchstens ein interessantes Denkmodell. Er glaubt jedoch nicht wirklich daran, dass der Mensch wie alle anderen Arten eine Evolution durchlaufen habe.
Fehleinschätzung im Neandertal
Als der Naturforscher Johann Carl Fuhlrott in der sogenannten Kleinen Feldhofer Grotte bei Düsseldorf gefundene, seltsam geformte Schädelknochen einem Urmenschen zuschreibt, stellt Virchow sich daher ebenfalls quer. Er zweifelt die von Fuhlrott in einer Abhandlung von 1859 postulierte Hypothese fossiler, menschlicher Gebeine an – und findet stattdessen eine pathologische Erklärung: Die Knochen gehörten einem Zeitgenossen und seien lediglich krankhaft verändert.
Weil Virchow nicht nur auf dem Gebiet der Medizin eine Instanz seiner Zeit ist, haben seine Bedenken Gewicht. Als Folge wird der Fund jahrzehntelang als kränklicher Zeitgenosse angesehen. Doch Virchow ist zum wiederholten Mal einem großen Irrtum aufgesessen: Tatsächlich handelt es sich bei den damals entdeckten Knochen um die 42.000 Jahre alten Überreste eines Neandertalers.
Daniela Albat
Stand: 08.12.2017