Dass Vögel zu intelligenten Handlungen fähig sind, wurde viele Jahre lang aber weitgehend ignoriert. Denn ihnen fehlt ein entscheidendes biologisches Merkmal, das Wissenschaftler als Sitz der Intelligenz identifiziert haben: die Großhirnrinde. Dieser erst bei Säugetieren voll ausgebildete Hirnteil gilt als „Arbeitsspeicher“ und als Sitz höherer Denkfunktionen.
Aber offensichtlich nicht im Vogelgehirn. Dieses ist viel kleiner als ein vergleichbar schweres Säugetiergehirn, hat dafür aber bis zu zwei Mal so viele Neuronen. Dabei ist besonders das Großhirn sehr dicht mit Gehirnzellen gepackt, also der Hirnteil, dem bei Vögeln die evolutionsgeschichtlich junge Großhirnrinde fehlt. Trotz Abwesenheit des Neocortex lösen Krähen in Experimenten aber problemlos Memory-Spiele. Ihr Arbeitsgedächtnis muss sich also woanders befinden als bei uns.
Dauerfeuer im Großhirn
Einen ersten Anhaltspunkt für den Ort des „geistigen Notizblocks“ im Vogelgehirn fanden Lena Veit und ihre Kollegen von der Universität Tübingen. Sie zeigten Rabenkrähen für einen kurzen Moment Bilder auf einem Monitor und maßen die Gehirnaktivität der Vögel. Dabei stellten sie fest, dass Nervenzellen in einem Bereich des Großhirns auch dann noch weiter feuerten, wenn das Bild schon wieder verschwunden war.
Wenn solch eine anhaltende Aktivität registriert wurde, fanden die Krähen auch das richtige Motiv in der kurz darauf gezeigten Auswahl von vier Bildern wieder. Bei Krähen, die falsch tippten, war auch die Intensität des Neuronenfeuerwerks im Endhirn nicht mehr so stark. Vermutlich bilden also bestimmte Bereiche im Endhirn den Arbeitsspeicher des Vogels und halten eine Information für kurze Zeit durch ein Dauerfeuer der Gehirnzellen im Gedächtnis.
Klein aber kompakt
Generell ist die Gehirnstruktur bei Vögeln besonders kompakt. So haben Forscher um Seweryn Olkowicz der Charles Universität in Prag festgestellt, dass in einem Starengehirn etwa 483 Millionen Nervenzellen enthalten sind, während es in einem vergleichbar schweren Rattenhirn nur 200 Millionen sind.
Möglicherweise sind die dichten Gehirne der Vögel ein „Nebenprodukt“ des Evolutionsdrucks, der für ihre Flugfähigkeit einen extrem komprimierten und leichten Körperbau abverlangt. Doch zum Fliegen würde auch ein weniger neuronenreiches Gehirn genügen, zumal die hohe Anzahl an Gehirnzellen teuer durch einen erhöhten Energiebedarf erkauft wird. Es muss also andere Gründe für die Entwicklung der überdurchschnittlichen Intelligenz der Rabenvögel geben.
Krähen zeigen auch ohne Großhirnrinde außerordentlich intelligentes Verhalten. Das sehen viele Wissenschaftler als Beleg dafür, dass die Entstehung von Intelligenz nicht an eine bestimmte Hirnregion gebunden ist, sondern auf verschiedenen Wegen zu Tage treten kann. Ein Faktor, der wahrscheinlich maßgeblich zu der Cleverness der Vögel beigetragen hat, ist deren ausgeprägtes Sozialverhalten.
Christian Lüttmann
Stand: 02.06.2017