Krähen leben in einem komplexen sozialen Gefüge mit ihren Artgenossen. Sie tummeln sich oft in Schwärmen von hunderten Tieren und besetzen gemeinsam ein Brutgebiet. Dort arbeiten sie eng zusammen: Wenn zum Beispiel ein Feind im Revier auftaucht, weiß es nach kurzer Zeit die ganze Rabennachbarschaft: Sobald der erste Vogel den ungebetenen Gast entdeckt, ertönt ein Warnruf und wird von Baum zu Baum weitergetragen.
Die Kommunikation unter den Krähen ist dabei erstaunlich differenziert. Sie haben unterschiedliche Alarmsignale für Katzen, Habichte und Menschen. Über 250 verschiedene Laute haben Wissenschaftler in der „Krähensprache“ identifiziert. Zudem nutzen die gesprächigen Tiere zwei verschiedene „Dialekte“: Einen lauten für Unterhaltungen innerhalb der Gruppe, und einen leisen für Privatgespräche innerhalb der Familie. Eine vergleichbar komplexe Kommunikation gibt es nur sonst nur bei hochentwickelten Säugetieren.
Das Wissen der anderen
Das Zusammenleben mit Artgenossen hat jedoch nicht nur Vorteile. Denn spätestens beim Futter hört die Freundschaft auf. Unter dem ständigen Wettbewerbsdruck, seinen Nachbarn beim Aufspüren von Walnüssen und anderen Leckerbissen immer eine Schnabellänge voraus zu sein, hat sich bei Rabenvögeln womöglich eine Fähigkeit entwickelt, die unter Kognitionsforschern als „Theory of mind“ bekannt ist: das Hineinversetzen in den Gegenüber und das Abschätzen dessen Gedanken und Absichten.
Diese Fähigkeit der Perspektivübernahme entwickelt sich bei Menschenkindern im zweiten Lebensjahr. Lange galt sie als Domäne des menschlichen Geistes. Tiere, so glaubte man, seien zu diesem Hineinversetzen in Andere nicht fähig. Inzwischen allerdings belegen Experimente, dass Hunde und auch einige Vögel dies beherrschen.
Deutliche Hinweise für diese hohe Form der Intelligenz zeigen sich beispielsweise beim einzigartigen Futterversteck-Verhalten der Rabenvögel. Die Tiere sind Meister der Nahrungsverstecke. Dabei merken sich Eichelhäher nicht nur über 30.000 verschiedene Verstecke. Krähen beherrschen beim Anlegen ihrer Geheimvorräte auch die große Kunst der Täuschung und scheinen sich dafür in ihr Gegenüber hineinversetzen zu können, wie verschiedene Experimente nahelegen.
Christian Lüttmann
Stand: 02.06.2017