Aus der Beobachtung von Krähen können wir einiges über ihr Verhalten und ihre „Sicht der Dinge“ lernen. Besonders interessant wird es, wenn einer der Rabenvögel im Beisein seiner Artgenossen ein Futterversteck anlegen will.
Wenn eine Krähe beispielsweise beim Verstecken einer Nuss beobachtet wird, versucht sie dem Blick des potenziellen Plünderers zu entschwinden und legt sogar leere Scheinverstecke an. Erst wenn der Artgenosse diese neugierig inspiziert, nutzt die Krähe den unbeobachteten Moment, um ihr richtiges Versteck anzulegen. Und auch die spionierenden Krähen tricksen und täuschen: Statt gebannt auf den Versteck-Vorgang zu starren, tun sie betont unbeteiligt und stelzen „uninteressiert“ auf und ab.
Dieses Verhalten setzt voraus, dass Krähen verstehen, wann sie von einem Artgenossen gesehen werden – eine Fähigkeit, die das Hineinversetzen in andere bedingt. Die versteckende Krähe unterscheidet sogar ihre Artgenossen: Wenn ein Vogel in die Nähe des Futterverstecks kommt, der beim Anlegen nicht zugesehen hat, bleibt die Krähe gelassen. Doch sobald sich ein potenzieller Mitwisser nähert, schnappt sie sich lieber schnell das Futter und verscharrt es an einem neuen Ort.
Im Kopf des Gegners
Neben dem ständigen Konkurrenzkampf unter Artgenossen mussten sich viele Krähenvögel wie Raben im Laufe der Evolution auch gegen größere gefährliche Raubtiere behaupten. Denn als leidenschaftlicher Aasfresser muss ein Rabe sehr gut einschätzen können, wie dreist er beim Plündern eines frisch erlegten Beutetiers sein darf, ohne ihr eigenes Leben zu gefährden. Dieses Abwägen beherrschen die Vögel ziemlich problemlos.
Bis zu 90 Prozent eines Kadavers ergattern die Raben. Besonders gerne scheinen sie mit Wölfen „zusammen“ zu arbeiten. Sie führen die Räuber zum Teil sogar durch lautes Rufen zu einem geschwächten Beutetier – um sich nach getaner Arbeit der Wölfe großzügig am geöffneten Buffet zu bedienen. Eine Studie von John Vucetich der Michigan State University wirft sogar die Frage auf, ob das Rudel-Jagen der Wölfe zum Teil als Abwehrmaßnahme gegen die gierigen Rabenvögel entstanden ist.
Ihrer geistige Überlegenheit scheinen sich die Raben durchaus bewusst zu sein. Wenn beispielsweise ein Wolf einen Teil der Beute als Vorrat vergräbt, bemühen sich die Krähen nicht mal, ihr Interesse zu verbergen. Sie schauen ganz offensichtlich und unverhohlen zu. Und sobald der Wolf fort ist, graben sie das Fleisch aus und schlagen sich den Bauch voll.
Christian Lüttmann
Stand: 02.06.2017