Paradoxerweise gelten das Lateinische und andere zu klassischem Nachleben gelangte Sprachzustände als „tot“, während wohl niemand das Urgermanische, das Alt- oder das Mittelhochdeutsche so bezeichnen würde. Denn diese waren allesamt nur ephemere Zwischenstadien der kontinuierlichen Entwicklung vom Indogermanischen zum heutigen Deutschen. Diese Attribuierung wäre demnach nicht sinnvoller, als wollte man behaupten, der Teenager, der ein heute noch lebender Mensch vor Jahrzehnten war, sei tot.
Wandel statt Tod
Das gilt erst recht für Einzelphänomene wie Wörter oder Morpheme. Seit über 2.000 Jahren benutzt man in Italien in ungebrochener Kontinuität von Lautung, Morphologie und Semantik die Form „dico“ – ich sage. Und das lateinische Wort „necare“ – töten – hat sich zwar lautlich und semantisch zu französisch „noyer“ – ertränken – verschoben. Aber man würde diese Entwicklung sicher nicht mit Begriffen wie Tod und Geburt beschreiben.
Nicht einmal ausgestorbene Sprachen ohne klassisches Nachleben sind in jeder Hinsicht tot: Oft leben sie als Substrat in Wortschatz, Morphologie und Syntax einer anderen Sprache weiter. Das sumerische Wort „mar“ – Schaufel, Spaten – hat es über akkadisch „marrum“ sowie aramäisch und lateinisch „marra“ geschafft, bis heute in den romanischen Sprachen zu überleben: als französisch „marre“ und italienisch „marra“.
Sprachkontakt als Katalysator
Die Sprachen, auf die das Lateinische in den römischen Provinzen traf, wirkten als Katalysatoren der dialektalen Ausdifferenzierung und trugen so zur Entwicklung der romanischen Einzelsprachen bei: Das untergehende Festlandkeltische beeinflusste vermutlich die Aussprache und den Wortschatz des nachrückenden Lateinischen in einer Weise, die Merkmale des späteren Französischen erklären könnte, etwa den Lautwandel von lateinisch [u:] zu [y:], der sich gerade in den einst gallischsprachigen Gebieten vollzog.
Es gibt wohl kaum eine sterbende Sprache, die keine Spuren in der sie verdrängenden Sprache hinterlässt. Substrate sind potenzielle Keimzellen einer Herausbildung von Dialekten. In ihnen erscheinen Sprachtod und Sprachgeburt als zwei Seiten derselben Medaille.
Werner Arnold und Gerrit Kloss, Universität Heidelberg / Ruperto Carola
Stand: 10.03.2017