Fußwanderung durch den Periyar-Nationalpark, weit abseits von Menschen und Dörfern – in der Hoffnung, nochmals Glück zu haben. Durch Wald, Elefantengras und sumpfige Seelandschaft sind wir auf der Spur von Tigern, Leoparden, Rothunden, Lippenbären, Elefanten und anderen alten Bekannten aus Rudyard Kiplings „Dschungelbuch“. „Dhole“ nannte der spätere britische Literaturnobelpreisträger den Rothund in seinen Erzählungen und zeichnete ihn als einen blutrünstigen Killer.
Expedition ins Rothund-Land
Zweimal die Woche macht sich ein Trupp Ex-Wilderer auf den „Thekkady Tiger Trail“, im Schlepptau eine Handvoll Wildlife-Touristen. Das Hinterland des Periyar-Stausees, aus dem geisterhaft tote Bäume ragen, ist ein wahres Reich für wilde Tiere. Allein 53 Tiger sollen laut letzter Zählung hier umherstreifen.
Drei Tage geht es quer durch die Wildnis, mit Trägern, Koch und Fährtenleser in olivgrünen Tarnanzügen, vorneweg ein Guide der Forstverwaltung mit Gewehr im Anschlag. Tiger und Leoparden bekommen die wenigsten Dschungelcamper auf dem Trail zu sehen. Zu menschenscheu sind die Katzen.
Mit den Wildhunden ist es kaum anders. Wir sehen sie nicht, wir hören sie nicht. Wären sie in der Nähe, würden sie sich früher oder später akustisch verraten – Rothunde verfügen über ein großes vokales Repertoire aus Jaulen, Knurren, knurrendem Bellen, Schreien und Pfiffen, während die Welpen nur quieken. Die Wildhüter wissen jedes Geräusch, jede Spur und jede Bewegung, und sei sie noch so fern, mit traumwandlerischer Sicherheit zu deuten.
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Tag zwei: Auf dem Weg zum Lager entdeckt der Fährtenleser, der Adivasi Noushad, einen Elefantenknochen, dann eine Tigerspur. Sie ist zwei, drei Tage alt. Rothund-Spuren finden wir keine. Beim Essen erzählt Tanghan, der Guide, dass er erst vier Tiger in Periyar gesehen hat, darunter ein verendetes Tier. Dafür umso mehr Kobras, fünf Meter lange Königskobras. Wir müssen uns mit einem Zwergpython begnügen, der uns beim Zähneputzen am Bach erschreckt.
Tiger, aber kein Rothund
Im Morgengrauen der dritten Nacht kriecht Nebel über den Boden. Um sechs Uhr früh reiß ein langgezogenes „Auuuun“ alle aus dem Schlaf. Der Tiger ist da. Den Dezibel nach könnte er vor dem Zelt stehen. Tanghan läuft aufgeregt ins Camp. Er hat den Tiger gesehen, gerade als er im Schlafanzug zum Waschen an einen nahen Tümpel ging.
Sofortiger Aufbruch. Noushad sagt, der Tiger jage einen Hirsch. Durch Grasland geht es zum Waldrand, wo Tanghan die Katze zuletzt gesehen hat. Noushad entdeckt Tatzenabdrücke. „Es ist ein Tigerweibchen mit Jungen“, sagt er. Alle halten Ausschau, Noushad findet neue Spuren.
Ratlos stehen wir am Waldrand. Der Dschungel hat die Tigerin verschluckt. „Wir gehen lieber nicht weiter, im Wald ist es zu unübersichtlich und zu gefährlich“, sagt Tanghan. Wir packen unsere Sachen und kehren um. Tanghan hat seinen fünften Tiger gesehen. Wir haben Shir Khan, den König des Dschungels, nur gehört. Von Dhole, dem listigen Banditen, durften wir nur träumen.
Kai Althoetmar
Stand: 09.09.2016