Obwohl McClure 1854 die Prämie für die Entdeckung der Nordwestpassage von der britischen Regierung eingestrichen hat, bleibt für viele Polarforscher und Arktisfreaks jedoch bis heute Roald Amundsen der eigentliche Erstbezwinger der Nordwestpassage. Knapp 50 Jahre nach McClure gelingt es ihm jedenfalls, mit seinem Schiff Gjöa die Durchfahrt nördlich des nordamerikanischen Festlandes in den Pazifik als Erster in ganzer Länge zu befahren.
1872 in Oslo – damals Christiania – geboren, war er seit seiner Jugend der Meinung, dass Polarforschung eine Sache für Profis sei. Da er unbedingt seinen Vorbildern John Franklin und Fridtjof Nansen nacheifern wollte, musste er sich das seiner Meinung nach dafür notwendige Rüstzeug erst einmal zulegen.
Ehrgeizig und motiviert
Er fuhr deshalb früh zur See und machte sein Kapitänspatent. Im Laufe vieler Reisen auf Robbenfängern und Forschungsschiffen erwarb er zudem die nötige Polarerfahrung. Zudem war er Naturwissenschaftler und eine perfekter Skilangläufer: Konnte es einen Kandidaten geben, der die Herausforderung, an der sich Seeleute aus aller Herren Länder Jahrhunderte lang die Zähne ausgebissen hatten – die Durchquerung der Nordwestpassage – , eher bestehen konnte?
Akribisch hat er sich wie auf alle seine Expeditionen auf diese Tour vorbereitet. Im Sommer 1903 verlässt Amundsen mit dem kleinen, motorisierten 45-Tonnen Walfangschiff Gjöa, in das er sein ganzes Vermögen und noch mehr gesteckt hat, schließlich den Oslofjord. Still und heimlich geschieht dies im Schutze der Nacht – aus Angst vor den Gläubigern. Auf den Spuren von John Franklin erreicht er problemlos mit seinen sechs Gefährten den Lancaster Sund nördlich von Baffin Island. Von da aus geht es über die James Ross Strait nach Süden, wo sie ihr Winterlager aufschlagen.
Freundschaft mit den Inuit
Die Amundsen-Expedition errichtet ein Observatorium für geomagnetische Studien und freundet sich mit einer Gruppe Inuit an, die in der Nähe der Gjöa ihr Winterquartier beziehen. Der kalte folgende Sommer 1904 und die Faszination für die Inuit lassen Amundsen schließlich sogar einen weiteren Winter in Gjöahavn bleiben, bevor das Schiff im August 2005 die Reise nach Westen fortsetzt.
Südlich von Victoria-Island stoßen sie auf den Walfänger Charles Hanson, der über die Beringstraße in den Hohen Norden vorgedrungen ist. Das Ende der Reise durch die Nordwestpassage scheint zum Greifen nahe.
Eisschollen versperren den Weg
Aber zu früh gefreut: Gewaltige Eisschollen versperren den Weg in die Beringstraße. Noch eine Überwinterung ist notwendig. Zusammen mit Walfängern „campiert“ er in der Nähe von Herschel Island. In Begleitung von Inuit und einem befreundeten Kapitän macht er sich von dort aus auf den 800 Kilometer langen Weg zum nächsten Telegraphenbüro in Fort Egbert/Alaska, um der Welt seinen Triumph von der kurz bevorstehenden Durchquerung der Nordwestpassage zu verkünden.
Nach seiner Rückkehr zum Schiff geht es mit der Gjöa im Frühsommer 1906 zunächst weiter durch Beringstraße, bevor Amundsen schließlich im Oktober 1906 – frenetisch gefeiert – im Hafen von San Francisco einläuft.
Der legendäre Polarforscher hat von der Durchquerung der Nordwestpassage aber mehr mitgebracht als nur das historische Ereignis der Ersttat. Die wenigen Crewmitglieder haben während der Fahrt eine Unmenge an wissenschaftlichen Daten und Fakten gesammelt. Messungen und Aufzeichnungen zum Erdmagnetismus, die genaue Lage des magnetischen Nordpols und die völkerkundlichen Studien zu Sprache, Kultur und Jagd- und -überlebenstrategien machen ihn und seine Begleiter zu Polarforschern ersten Ranges.
Doch Amundsens Tatendurst in der Arktis ist noch lange nicht gestillt. Nachdem die Nordwestpassage passiert ist, konzentriert sich sein Interesse auf den Nordpol. Mit einem fetten Kredit in der Tasche und Nansens Fram als perfektem Forschungsschiff geht er wie immer akribisch daran, seinen Vorstoß zum Nordpol vorzubereiten.
Wie sein Vorbild Nansen will er sich vom Eis einschließen lassen und dann mit der Eisströmung durch das Nordpolarmeer bis auf 90 Grad Nord driften. Mitten in seine Planungen platzt jedoch die Bombe. Im September 1909 erhält Amundsen die Nachricht, dass angeblich sowohl Frederick Cook als auch Robert Peary den Nordpol erreicht haben…
Stand: 27.05.2002