Der Pharmakologie-Professor konnte es sich nicht erklären. Warum tränten ihm beim Lesen seiner Arbeitsunterlagen die Augen und brannte das Gesicht so unerträglich, als stächen tausend Nadeln in seine Haut. Und warum entwickelte das Papier bloß so einen bestialischen Gestank? Auch blieben diese Symptome nicht lange auf den Kontakt mit Papier und Druckerschwärze beschränkt, sondern weiteten sich auch auf andere alltägliche Gegenstände oder Tätigkeiten aus: die neue bügelfreie Hose, der Gang durch ein Einkaufszentrum, eine Fahrt im klimatisierten Auto oder aber das Schreiben mit Filzstiften.
Das Leiden des Pharmakologie-Professors ist kein Einzelfall. Es gibt mittlerweile viele Menschen, die bei nur kleinsten Spuren von Chemikalien mit körperlichen Beschwerden reagieren: Menschen, die in Drogerien, Baumärkten oder Schuhgeschäften mit Kopfschmerzen oder gar Atemnot zu kämpfen haben oder denen von dem Haarspray oder Parfüm ihrer Mitmenschen stark übel wird. Und es werden immer mehr. In die Arztpraxen kommen zunehmend Patienten, die über eine Reihe unspezifischer Beschwerden wie extreme Müdigkeit, Kopfschmerzen, Übelkeit, Verwirrtheit, Konzentrationsschwäche, Schwindel, motorische Störungen, Herzrasen oder Atemnot-Attacken klagen.
Umweltmediziner ordnen derartigen Symptomen immer öfter der Diagnose „Chemikaliensyndrom“ zu. Darunter fällt in erster Linie die so genannte Multiple Chemische Sensibilität (MCS), aber auch das Chronische Müdigkeitssyndrom (CMS) oder das Sick-Building-Syndrom (SBS). Nach Schätzungen sind in Deutschland von MCS bereits Zehntausende betroffen. In den USA gehen Umweltmediziner sogar von über 10 Millionen aus.
MCS wird als „toxisch induzierter Toleranzverlust auf Chemikalien“ verstanden. Die diffusen Gesundheitsstörungen betreffen zumeist mehrere Organsysteme, vor allem das Nerven-, Immun-, Kreislauf- und Hormonsystem, entsprechen jedoch keinem genauen Krankheitsbild. Umweltmediziner gehen von schwerwiegenden Stoffwechsel- und Nervenstörungen aus, die obwohl physiologisch in den seltensten Fällen erklärbar, sich in der extremen Empfindlichkeit des Organismus gegenüber Chemikalien äußern.
Die Überempfindlichkeit treten bevorzugt bei Menschen auf, die Chemikalien in großen Konzentrationen – etwa bei Chemieunfällen – ausgesetzt waren. Aber auch kleine Dosen, die über lange Zeiträume kontinuierlich wirken, können zur Ausbildung der Krankheit führen. Als klassisches Beispiel langjähriger Belastungen gelten Wohnraumgifte wie PCP, Dioxine und Lindan in Holzschutzmitteln oder Formaldehyd aus Pressspanplatten. Auch bei Berufsgruppen, die über lange Zeiträume mit Chemikalien in Kontakt gekommen sind – wie Maler, Laborpersonal oder Chemiker – häufen sich die Unverträglichkeitsreaktionen.
Das „Golfkriegssyndrom“ gilt als neues großes Beispiel für MCS. Viele Kriegsveteranen leiden unter lähmender Müdigkeit, Muskelschmerzen, Gedächtnisstörungen und erheblichen Schlafproblemen. Wissenschaftler gehen davon aus, dass die Schäden durch chemische Waffen – eventuell in Zusammenhang mit Medikamenteneinnahmen – hervorgerufen wurden.
Das Chemikaliensyndrom wird von Umweltmedizinern als „erworbene Umweltkrankheit“ bezeichnet, die sich ganz klar von Allergien und akuten oder chronischen Vergiftungen unterscheidet. Anders als bei Allergien ist hier keine Sensibilisierung des Immunsystems beobachtbar. Auch im Vergleich zu Vergiftungen zeichnet sich ein anderer Verlauf ab: Der Betroffene reagiert – stoffunspezifisch – auf alle Chemikalien. Die Symptome verschlimmern sich zunehmend und werden schon bei geringsten – eigentlich wirkungslosen – Schadstoffkonzentrationen ausgelöst.
Die Krankheit läßt sich nicht heilen, altbewährte Therapien gegen Allergien, Vergiftungen oder Immunstörungen versagen, führen häufig noch zu Verschlimmerungen. Als einziger Ausweg bleibt oft nur die völlige Vermeidung aller Chemikalien.
Stand: 21.05.2002