Zugegeben, man ist geneigt Menschen, die so sensibel auf ihre Umwelt reagieren, eine gewisse Hypochondrie und Hysterie zu unterstellen. Und wer gegenüber seinen Arbeitskollegen oder gar dem Chef äußert, dass ihn die Büroluft bleiern müde und krank macht, muss damit rechnen als wehleidig und faul eingestuft zu werden. Die Gesellschaft reagiert auf derartige Klagen gemeinhin mit Unverständnis. Umweltkranke werden gerne als Arbeitsverweigerer, Simulanten oder psychisch gestört betrachtet.
„Subjektiv geäußerte Beschwerde ohne körperlichen Befund“
Haben sich die Betroffenen wirklich in eine Psychose manövriert? Haben sie eine Art „Chemophobie“ entwickelt? Die These vieler herkömmlicher Mediziner lautet: Nicht die Umweltgifte selbst, sondern die Angst vor ihnen macht krank. Die Schulmedizin umschreibt das „Chemikaliensyndrom“ als subjektiv geäußerte Beschwerde ohne körperlichen Befund, die auf eine vermeintliche Gefahrenquelle zurückgeführt würden.
Kein Wunder, dass die Mehrzahl der Ärzte tatsächlich die Psyche für die Leiden vieler Umweltkranker verantwortlich macht. „Nur etwa in einem Prozent der Fälle ist ein kausaler Zusammenhang zwischen Umweltgiften und dem Krankheitsbild nachweisbar.“ – so Hermann Ebel vom Klinikum Ludwigsburg auf einem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde. Dabei betont er immerhin, dass die Umweltkranken dennoch keine Simulanten seien. Die Ursache ihrer Leiden könnten – so der Wissenschaftler – in einem unverarbeiteten traumatischen Erlebnis liegen.
Odyssee von Arzt zu Arzt
Dabei kann schon die Odyssee von Arzt zu Arzt in der Tat zu einem traumatischen Erlebnis werden. Trotz vielfältiger Untersuchungen findet sich bei den Betroffenen einfach kein körperlicher oder laborchemischer Befund. Ihre Leiden werden in der Diagnose daher oftmals als psychosomatisch eingestuft: der Patient hat ein psychisches Problem, aus dem sich ein körperliches entwickelt hat.
So flüchten viele Patienten, die sich von der Schulmedizin unverstanden fühlen, zur Alternativmedizin. Die ganzheitlich orientierten Ärzte wenden andere Diagnosemethoden und -therapien an, die der chronischen Belastung des Organismus mit Umweltgiften Rechnung tragen sollen. Auch erforschen sie die individuelle Lebenssituation des Patienten – auf der Suche nach möglichen Belastungsquellen wie Wohnraumgiften oder Amalgam.
Boom bei alternativen Ärzten
Im Gegensatz zum Schulmediziner – für einen Kassenpatienten bleiben ihm im Schnitt zehn Minuten – nehmen sich die alternativen Ärzte für die Erstellung eines individuellen Belastungsprofils viel Zeit – die muss der Patient dann aber selbst zahlen. Auch die Kosten alternativer Diagnosen und Therapien werden von den Krankenkassen nur in den seltensten Fällen übernommen. Dabei ist nach Meinung vieler Umweltmediziner gerade die Erforschung der individuellen Lebensumstände wichtig. Denn das psychosoziale Umfeld spiele bei Umwelterkrankungen eine entscheidende Rolle.
Überhaupt streiten die Experten den Einfluß der Psyche bei der Ausbildung von Empfindlichkeitsreaktionen nicht kategorisch ab. So kann bei einem MCS-Geschädigten allein die Entdeckung eines Geruchs zum Auftreten eines bestimmten Symptoms führen: besteht die Erwartung, dass einem bei einem Geruch übel wird, stellt sich die Übelkeit prompt ein. Einige Mediziner führen dieses Phänomen auf einen einfachen Lernprozess zurück, als konditionierte Reaktion auf neutrale Reize.
Chemikalien oder Psyche?
Dennoch betonen Umweltmediziner, die Kranken würden sich die Symptome bei Leibe nicht nur einbilden. Chemikalien blieben die Ursache der Empfindlichkeitsreaktionen – oft halt unter Beteiligung der Psyche. Gerade die fehlende gesellschaftliche Akzeptanz solcher Erkrankungen drängt viele Betroffene jedoch schnell in die Rolle eines psychisch Labilen. So stehen Umweltkranke oft unter einem enormen Leidensdruck, da sie trotz vielfältigen medizinischen Untersuchungen keine befriedigende Erklärung für ihre Beschwerden bekommen.
Stand: 21.05.2002