Vom Neandertaler herrschte lange das Bild des dummen Höhlenmenschen vor – kaum vernunftbegabt und in vieler Hinsicht mehr Tier als Mensch. Doch diese Vorstellung vom gegenüber dem Homo sapiens geistig und technologisch rückständigen Neandertaler ist grundlegend falsch. Das bezeugen schon die zahlreichen Werkzeuge, die die Frühmenschen verwendeten und mit großer Kunstfertigkeit herstellten.
Bahnbrechende Technologie vor dreihunderttausend Jahren
Wichtiges Material dafür war Flint oder Feuerstein – diese Werkzeuge gaben der Steinzeit ihren Namen. Einfache Faustkeile verwendeten Frühmenschen in Europa schon vor mindestens 600.000 Jahren. Für ein solches Werkzeug war jedoch ein Stein mit passender Form nötig, der lediglich etwas nachbearbeitet werden musste.
Vor rund 300.000 Jahren tauchte dann jedoch eine geradezu bahnbrechende Neuerung auf: Die Steinbearbeitung nach der Levallois-Technik. Dabei wird ein nahezu beliebiger Stein zunächst in Form gebracht. Von diesem Kern lassen sich schließlich im Idealfall gleich mehrere Werkzeuge abschlagen: Klingen, Speerspitzen, Fellschaber und ähnliches. Bisher nahmen Wissenschaftler an, auch diese Technik hätte ihren Ursprung in Afrika gehabt und sich von dort mit wandernden Menschen und über soziale Kontakte weiter verbreitet.
Steinwerkzeuge aus der Fundstelle Nor Geghi 1 in Armenien zeigen jedoch: Die vor etwa 325.000 Jahren hier ansässigen Neandertaler beherrschten die Levallois-Technik bereits. Sie können diese Technik nicht von anderen Populationen von Frühmenschen erlernt haben, da sie über eine solche Entfernung keinerlei Kontakt hatten. Wissenschaftler gehen daher davon aus, dass die Neandertaler selbst erfinderisch genug waren.
Nicht dumm oder weniger entwickelt
Das belegt ein direkter Vergleich zwischen den Steinklingen der Neandertaler und den schmaleren, als fortschrittlicher betrachteten Klingen, die die modernen Menschen verwedeten. Überraschenderweise zeigte sich nämlich, dass beide Werkzeugtypen gleichermaßen effizient waren. Tatsächlich waren in einigen Aspekten sogar die einfacheren Neandertalerklingen denen des Homo sapiens überlegen.
Nach Ansicht der Wissenschaftler ist dies ein weiterer Hinweis darauf, dass die Neandertaler keinesfalls weniger intelligent waren als unsere Vorfahren. „Technisch gesprochen gibt es keine klaren Vorteile eines Werkzeugs gegenüber dem anderen“, erklärt Metin Eren „Wenn wir an Neandertaler denken, müssen wir aufhören, damit Begriffe wie ‚dumm‘ oder ‚weniger entwickelt‘ zu assoziieren, und stattdessen an ‚anders‘ denken.“
Ansgar Kretschmer
Stand: 13.03.2015