Den Alltag der Neandertaler können wir uns heute nur schwer vorstellen. Zu sehr unterscheidet sich schon das harsche Eiszeitklima vom unserem Wetter, von technologischen Fortschritten ganz zu schweigen. Mit „steinzeitlichen Zuständen“ beschreiben wir geradezu hoffnungslos zurückgebliebene Situationen und nehmen an, dass das Leben der Neandertaler ein einziger harter Überlebenskampf kurz vorm Hungertod gewesen sein muss.
Hart, aber nicht unerträglich
Doch so dramatisch war ihre Lage nicht: Untersuchungen von Neandertaler-Zähnen zeigen zwar, dass mitunter bis zu dreimonatige Hungerperioden nicht ungewöhnlich waren. Solche Spuren gelegentlicher Mangelernährung finden sich aber auch in den Zähnen von rund 2.500 Jahre alten Schädeln von Inuit aus Alaska. Das Leben der Neandertaler verlief vermutlich ähnlich wie der Alltag vergleichbarer Naturvölker, die auch heute noch größtenteils als Jäger und Sammler leben – aus unserer Sicht vielleicht hart, aber nicht unerträglich.
„Die Ergebnisse zeigen, dass die Neandertaler nicht schlechter dran waren als die Inuit, die unter ähnlich harschen Umweltbedingungen lebten, trotz der Tatsache, dass die Inuit viel ausgereiftere Technologien benutzten“, so Debbie Guatelli-Steinberg von der amerikanischen Ohio State Universität. „Es ist schon erstaunlich, dass die Neandertaler nicht so stark unter Entbehrungen gelitten haben, wie wir dachten.“
Kinderstube Neandertal
Die Kindheit im Neandertal war demnach auch keinesfalls so hart, wie wir sie uns vielleicht vorstellen – vielleicht ist sogar das Gegenteil der Fall. Innerhalb der relativ isoliert voneinander lebenden Familiengruppen der Neandertaler muss es enge emotionale Beziehungen gegeben haben, nehmen Forscher an. Diese seien mindestens so ausgeprägt gewesen wie in heutigen Familien, oder eher noch mehr.
„Die Kindheitserfahrungen der Neandertaler unterschieden sich auf subtile Weise von der der modernen Menschen, denn bei ihnen standen die sozialen Beziehungen innerhalb ihrer Gruppe sogar mehr im Mittelpunkt“, so Penny Spikins von der Universität York. Kinder waren demnach ein wichtiger Teil im Alltagsleben der Gruppe, auch wenn sie noch nicht jagten oder sammelten, sondern erst spielten und übten. „Die Kinder könnten daher eine besonders signifikante Rolle in der Gesellschaft gespielt haben, vor allem im rituellen Bereich“, mutmaßen die Forscher.
Fürsorge und aufwändige Bestattungen
Verschiedene Fossilienfunde zeigen, dass sich die Erwachsenen fürsorglich um kranke und verletzte Kinder gekümmert haben müssen – manchmal über Monate oder Jahre. Andere Funde belegen, dass die Neandertaler bereits ihre Toten rituell bestatteten. Die aufwändigsten Gräber sind dabei diejenigen, in denen sie früh verstorbene Kinder beerdigten.
Andere Rückschlüsse auf die Kinderpflege der Neandertaler lassen sich direkt aus Fossilienfunden ableiten. So zeigt die Zusammensetzung ihrer Zähne zum Beispiel, dass Neandertaler-Mütter ihre Kinder ungefähr so lange stillten, wie dies auch bei heutigen Babys noch üblich ist. Nach rund sieben Monaten bekam der Nachwuchs erste feste Nahrung und war nach rund 14 Monaten abgestillt.
Dabei wuchsen die Neandertaler deutlich schneller heran: Sie waren bereits mit 15 Jahren ausgewachsen. Die Kinder moderner Menschen sind mit ihrem vergleichsweise langen Reifeprozess dagegen ausgesprochene „Nesthocker“. Allerdings liegt möglicherweise genau darin ein evolutionärer Vorteil: Die längere Reifeperiode bietet auch mehr Zeit für zusätzliches Lernen.
Ansgar Kretschmer
Stand: 13.03.2015