Die Mondsichel auf der Himmelsscheibe von Nebra sieht auf den ersten Blick ganz normal aus – gebogen und mit spitzen Enden. Aber astronomisch gesehen passt sie nicht so recht ins Bild. Denn sie ist zu dick, um die schmale Sichel des Mondes direkt nach einem Neumond zu zeigen. Sie ist aber wiederum zu dünn, um den Halbmond darzustellen. Stattdessen repräsentiert sie ein Zwischenstadium, einen Mond, der etwa vier Tage alt ist.
Raph Hansen vom Planetarium Hamburg ließ dieser seltsame Sichelmond keine Ruhe. Er suchte daher in den Aufzeichnungen anderer früher Bronzezeit-Kulturen nach Hinweisen auf einen vier Tage alten Sichelmond. Bei den Babyloniern wurde er fündig: Im Mul-Apin, einem astronomischen Keilschrift-Text aus dem 7. Jahrhundert vor Christus diente die Dicke des Mondes bei Frühlingsanfang als wichtiger Anzeiger, ob ein Schaltmonat fällig war oder nicht.
Ein Schaltmonat bringt es ins Lot
Denn ähnlich wie viele Hochkulturen der Bronzezeit folgten auch die Babylonier einer Kombination aus Sonnen- und Mondkalender. Die Monate wurden dabei über die Mondphasen bestimmt, ein Monat reichte von Neumond zu Neumond. Das Problem dabei: Ein Jahr aus zwölf Mondmonaten ist elf Tage kürzer als das Sonnenjahr. Im Laufe der Zeit verschiebt sich daher das Mondjahr gegen die Jahreszeiten – ziemlich unpraktisch.
Als Abhilfe schalteten die Babylonier alle zwei bis drei Jahre einen zusätzlichen Schaltmonat ein. Als Signal dafür, dass es dafür höchste Zeit war, diente ihnen der Mond beim Frühlingsanfang: Stand neben den Plejaden nur eine ganz dünne Mondsichel, war noch alles im Lot, ein Schaltmonat daher unnötig. War der Mond aber bei seiner Konjunktion mit den Plejaden schon einige Tage alt, dann hinkte das Mondjahr hinterher – es musste geschaltet werden.
Dicker Mond neben den Plejaden? Schalten!
Nach Ansicht von Hansen ist diese Konstellation von viertägiger Mondsichel und Plejaden genau das, was auf der Himmelsscheibe von Nebra dargestellt ist. Die Besitzer der Scheibe mussten daher nur beim Aufgang der Plejaden im Frühjahr den Mond anschauen und ihn mit seinem goldenen Ebenbild auf der Scheibe vergleichen. War er dünner, war alles gut, sah er dagegen gleich dick aus, war ein Schaltmonat fällig.
Für die Archäologen und Archäo-Astronomen war dies eine Sensation: Sollten die vermeintlich eher rückständigen Bronzezeit-Menschen von Nebra wirklich schon genügend astronomisches Wissen und Abstraktionsvermögen besessen haben, um einem so komplexen Lunisolar-Kalender zu folgen? „Das hätten wir ihnen niemals zugetraut“, sagt Harald Meller vom Landesamt für Archäologie in Halle. Denn ohne Schrift war auch das langfristige Beobachten von astronomischen Veränderungen schwierig.
Import aus Mesopotamien?
Ob die Erschaffer der Himmelsscheibe dieses Wissen wirklich selbst entwickelten, ist daher strittig. Naheliegender erscheint da schon, dass das Wissen um den Schaltmonat über die bronzezeitlichen Handelswege aus dem vorderen Orient nach Osteuropa und von dort aus auch nach Nebra gelangte. „Dass man diese Regel in einer schriftlosen Kultur erfand, erscheint uns unwahrscheinlicher als die These, dass eine Verbindung nach Mesopotamien dieses Wissen brachte“, sagt Hansen.
Vielleicht lernte ein Schamane, Druide oder sonstiger Gelehrter durch Kontakt mit Händlern den lunisolaren Kalender und die Schaltregel der Babylonier kennen und ließ als Gedächtnisstütze und Erkennungshilfe dann die Himmelsscheibe anfertigen. „Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Funktionsweise der Scheibe nur einem sehr kleinen Kreis von Menschen bekannt war, sagt Meller. Und als diese starben, ohne ihr Wissen weiterzugeben, verlor auch die Himmelsscheibe ihren Zweck.
Die Ergänzungen erst der Horizontbögen, dann der Sonnenbarke und der Befestigungslöcher deuten darauf hin, dass die Himmelscheibe zum Zeitpunkt ihres Vergrabens längst nicht mehr als Kalender-Messwerkzeug diente, sondern nur noch rituellen Zwecken. „Am Schluss wurde sie zu einem Kultobjekt“, erklärt Meller.
Nadja Podbregar
Stand: 28.11.2014