Mayke Wagner erinnert sich noch genau an den Moment, als sie von einem spektakulären Fund erfuhr, den die chinesischen Kollegen im Jahr 2007 gemacht hatten. Die Sensation war ein athletisch gebauter Mann in den „besten Jahren“, körperlich aktiv bis zu seinem Tod, obwohl er eigentlich ein Invalide war. Sein Alter: 2.300 Jahre, und er war äußerst gut erhalten.
Die älteste Beinprothese der Welt
Sein linkes Bein war so nach hinten und innen verdreht, dass er es nicht mehr gebrauchen konnte, was eigentlich das Ende seiner Existenz bedeutete. Stock oder Krücke hätten ihm helfen können, aber gleichzeitig seine Hände beschäftigt, die er zum Arbeiten brauchte. Also konstruierte er ein Stelzbein aus Holz, das er mit Lederriemen an seinem Oberschenkel befestigte – die älteste funktionale Beinprothese der Welt!
Der Mann gehörte zu einer Gesellschaft von Bauern und Hirten, die das Turfan-Becken und die östlichen Ausläufer des Tian Shan zu der Zeit besiedelten, als Alexander der Große nach Osten und das chinesische Kaiserreich Han zum ersten Mal nach Westen vorstießen und auf zentralasiatische Gemeinschaften trafen, von denen sehr wenig bekannt ist, weil sie ihre Geschichte nicht aufschrieben.
Krankheitsursache: Tuberkulose
Nun tun sich Archäologie, Medizin und Geographie zusammen, um die Lebensweise der antiken Bevölkerung im großen Kontext nachzuvollziehen, erforschen so die genaue Funktionsweise der
Prothese und versuchen, mögliche Rückschlüsse auf das technische Wissen der Menschen zu ziehen. Die Paläopathologin Julia Gresky fand heraus, dass das Leiden, welche die äußerst schmerzhafte Deformation des Beines verursachte, die Tuberkulose war, die in Zentral- und Ostasien im ersten Jahrtausend v. Chr. an verschiedenen Orten auftrat und von Rindern übertragen wird, die
aber in der Region nicht heimisch waren.
„Es musste also Handelsbeziehungen und Wanderungsbewegungen gegeben haben“, sagt Mayke Wagner. „Reiche Getreidefunde in den Gräbern lassen uns darauf schließen, dass die Gesellschaft, zu der der Mann mit dem Holzbein gehörte, zumindest teilweise sesshaft gelebt hat“, korrigiert die Archäologin die bislang gehegte Vermutung. Das Holzbein ist natürlich eine spektakuläre Ausnahme. Ein anderer Ausdruck technischen Wissens ist uns so nah, dass wir ihre geradezu bestrickende Genialität völlig übersehen.
Kleidung als Zeitzeugen alter Kultur
Der Invalide, seine Angehörigen und Nachbarn wie auch durchreisende Händler trugen Hosen, Röcke und Kaftane, Stiefel, Ledermäntel – Beispiele für eine bahnbrechende Primärtechnologie: Kleidung. Denn Schafe zu scheren, Fäden zu spinnen, zu einer Fläche zu weben und dieses zweidimensionale Tuch auf einen dreidimensionalen – menschlichen – Körper zu übertragen, brauchte Planung, mathematische Kenntnisse und ein hohes Abstraktionsvermögen, vergleichbar dem in der Architektur.
Auch die Kleidung blieb in dem trockenen Klima gut erhalten, und so konnten an den Handelsstationen der Seidenstraße ganze Ausstattungen des ersten Jahrtausends v. Chr. häufig vollständig geborgen werden. Im Sommer 2014 entdeckten Mayke Wagner und ihr Team beispielsweise in Turfan die älteste Hose der Welt. Das wollene Beinkleid wurde vor rund 3.200 Jahren von Nomaden getragen und ist mit seinen engen Beinen und weiten Hüften für das Reiten optimiert.
Geschmückt von prächtigen Farben und reichen Dekoren sind sie Zeugnisse der Wirtschafts- und Siedlungsgeschichte der Region und Ausdruck kultureller und sozialer Identität, denn eines konnte man damals wie heute auch noch häufig erkennen: woher jemand kam und welcher Schicht er angehörte.
Archäologie weltweit/ DAI
Stand: 24.10.2014