Eine typische Situation beim Kinderarzt: Eltern kommen mit einem völlig verschnupften Kind in die Praxis. Die Kleine zeigt alle Anzeichen für eine virale Erkältung und damit eine Erkrankung, gegen die Antibiotika nicht helfen. Dennoch verschreibt der Arzt ein Antibiotikum, um die Ängste der Eltern zu beruhigen – und vielleicht auch, um nicht lange diskutieren zu müssen. Seltsamerweise scheint diese erwiesenermaßen sinnlose Behandlung nicht nur die Eltern positiv zu stimmen, sondern auch dem Kind zu helfen: Es weint weniger und auch seine Symptome bessern sich zusehends. Wie ist dies erklärbar?
Umfeld als Placebo
Die Placeboforscher Ted Kaptchuk und David Grelotti von der Harvard Medical School in Boston haben für dieses Phänomen den Begriff „Placebo by Proxy“ geprägt – Stellvertreter-Placebo-Effekt. Der Placebo-Effekt wirkt in diesem Fall nicht auf den Patienten selbst, sondern auf Personen in dessen Umgebung – hier die Eltern des Kindes. Das für die Erkältung wirkungslose Antibiotikum fungiert hier als Placebo, das die Eltern beruhigt und bei ihnen die Erwartung weckt, das Kind werde damit schneller genesen.
Dem Kind hilft das Medikament zwar nicht, aber es profitiert dennoch. Denn die positive Erwartung der Eltern überträgt sich, wie Kaptchuk erklärt. Sie sind positiver gestimmt, lächeln mehr und vermitteln dem Kind ihre Zuversicht. „Der Stellvertreter-Placebo-Effekt kann Veränderungen im psychosozialen Umfeld des Patienten auslösen, durch die dieser dann wiederum selbst einen Placebo-Effekt entwickelt“, so Kaptchuk. Das kann durchaus Vorteile haben, beispielsweise wenn es den Behandlungserfolg eines Medikaments fördert.
Alles andere als harmlos
Aber es gibt auch gravierende Nachteile, wie der Forscher warnt: „Die Antibiotika-Behandlung kostet Geld und ist nicht harmlos, sie kann Durchfall auslösen und fördert Resistenzen bei bakteriellen Erregern.“ Zudem kann der Placebo by Proxy Effekt eine falsche Zuversicht bei den Betroffenen erzeugen und sie blind machen für die tatsächliche Lage des Patienten: Sie haben den Eindruck, es gehe dem Patienten besser, während dieser in Wirklichkeit abbaut und eine andere Therapie bräuchte.
Und es gibt noch weitere negative Folgen, wie ein anderes Beispiel zeigt: Patienten mit Zahnschmerzen bekamen im Rahmen einer Studie entweder ein Schmerzmittel, ein Placebo oder sogar ein Mittel, das die Schmerzen verschlimmert. Die Ärzte, die die Tabletten verteilten und die Patienten betreuten, waren jedoch nicht eingeweiht. Der Hälfte von ihnen wurde stattdessen gesagt, dass die Patienten nichts Wirksames gegen die Schmerzen erhalten.
Die Einstellung des Arztes wirkt mit
Das Ergebnis: Die Patienten, die bei den Ärzten mit der negativen Information waren, klagten mehr über Schmerzen – selbst mit dem wirksamen Schmerzmittel. Auch der Placebo-Effekt war bei ihnen deutlich geringer. Obwohl sie nichts über die Vorannahme des Arztes wussten, scheint sich seine Einstellung unbewusst auf sie übertragen zu haben.
„Das belegt, dass auch die Erwartungen des Arztes den Placebo-Effekt beeinflussen können“, konstatieren Damien Finiss von der University of Sydney und seine Kollegen. Nach Ansicht der Placeboforscher ist es daher enorm wichtig, bei jeder Therapie und bei jeder klinischen Entscheidung immer auch den Stellvertreter-Placebo-Effekt mit zu bedenken. „Dadurch könnten die Behandlungserfolge maximiert und viele Schäden vermieden werden“, so Kaptchuk.
Nadja Podbregar
Stand: 17.10.2014