Eigentlich ist es selbstverständlicher Teil der ärztlichen Beratung: Wenn ein Patient eine Therapie erhalten soll, egal ob ein Medikament oder einen chirurgischen Eingriff, klärt ihn der Arzt über die zu erwartenden Risiken und Nebenwirkungen auf. Das ist wichtig, damit der Patient eine mündige Entscheidung darüber treffen kann, ob er sich dieser Behandlung unterziehen möchte. Aber wie man heute weiß, kann dank des Nocebo-Effekts schon das bloße Erwähnen von Nebenwirkungen dazu führen, dass der Patient diese bekommt.
Beratungsgespräch mit Nebenwirkungen
„Das ist eine ethische Zwickmühle“, konstatiert Rebecca Wells von der Harvard Medical School. „Einerseits erfordern das Prinzip der informierten Einwilligung und der Respekt vor dem Patienten, dass wir die Nebenwirkungen offenlegen. Andererseits aber kann eine detaillierte Information Schaden anrichten.“ Was der Arzt im Beratungsgespräch sagt, spielt daher im Extremfall eine fast genauso wichtige Rolle für dessen späteres Wohlbefinden wie die eigentliche Behandlung.
Wie aber kommen Mediziner aus dieser Zwickmühle heraus? Einen Hinweis geben die Nebenwirkungen selbst. Denn einige von ihnen scheinen anfälliger für den Nocebo-Effekt zu sein als andere. So treten vage, eher unspezifische Reaktionen wie Kopfschmerzen, Müdigkeit, Schwindel oder allgemeines Unwohlsein in Studien besonders häufig auf. Sie sind jedoch meist dosisunabhängig und lassen sich selten auf konkrete physiologische Effekt des Medikaments zurückführen. Sehr spezifische, wirkstoffabhängige Nebenwirkungen dagegen werden eher seltener beobachtet und scheinen weniger anfällig für den Nocebo-Effekt zu sein.
Gezielte Auswahl statt alle Fakten?
Und auch der Patient spielt eine Rolle: Nicht jeder ist gleichermaßen empfänglich für Placebo- oder Nocebo-Effekte. Hat ein Mensch beispielsweise schon zuvor Nebenwirkungen erlebt, wird er dies auch bei einer anderen Behandlung eher erwarten – sein Risiko für einen Nocebo-Effekt ist daher größer, wie Wells erklärt. Auch Patienten, die ohnehin zu unspezifischen oder psychosomatischen Beschwerden neigen, gehören dazu.
Nach Ansicht von Wells, aber auch anderen Forschern, bedeutet dies für die Ärzte: Im Beratungsgespräch ist mehr Information nicht immer besser. Stattdessen kann es sinnvoll sein, Patienten nur über die spezifischen, weniger für den Nocebo-Effekt anfälligen Nebenwirkungen zu informieren. „Das erlaubt es den Patienten, informierte Entscheidungen über ihre Behandlung zu treffen, ohne sie dem Risiko einer Nocebo-Reaktion mit unspezifischen Nebenwirkungen auszusetzen“, so Wells. Zudem sollten die Mediziner die Menge der Informationen auf die jeweiligen Patienten und sein Risiko abstimmen.
Ethisches Minenfeld
Doch dieses „autorisierte Verheimlichen“ ist ethisch nicht unumstritten. „Man kann argumentieren, dass dieser Ansatz unethisch ist, weil er den Patienten Risiko-Informationen vorenthält und damit ihre freie Entscheidung kompromittiert“, erklären Luana Colloca und Franklin Miller von den US National Institutes of Health in Bethesda. Ähnliches gilt auch für das Umgekehrte: Die bewusste Verschreibung eines Placebos, um dem Patienten zu helfen.
Klar scheint daher nur eines: eine Goldene Regel gibt es nicht. Ärzten bleibt daher nichts anders übrig, als sich selbst ihren Weg durch dieses Minenfeld ethischer und medizinischer Konsequenzen zu suchen. „Einen Patienten über die Nebenwirkungen zu informieren ist eben mehr als nur eine simple Präsentation der Fakten – es ist ein wichtiger Bestandteil der medizinischen Kunst“, sagt Wells. Und diese erfordert neben Fachwissen eben auch einiges an Einfühlungsvermögen.
Nadja Podbregar
Stand: 17.10.2014