Schon während der Arbeit im Atelier von Verrocchio nimmt Leonardo anatomische Studien auf. Verrocchio erwartet dies von all seinen Schülern, denen dadurch lebensechtere Darstellungen von Menschen gelingen sollen. Im Laufe seiner Karriere schreckt Leonardo da Vinci auch nicht davor zurück, Leichen aufzuschneiden und Körperteile zu untersuchen. Dabei arbeitet er oft mit Ärzten zusammen und geht manchmal auch ungewöhnliche und neue Wege.
Blick aufs Auge mit neuen Methoden
Das Auge ist als Sehorgan für den Maler von besonderer Bedeutung. Es verwundert also nicht, dass Leonardo genau wissen wollte, wie das Auge und das Sehen funktionieren. Ein Auge ist allerdings nicht gerade leicht zu sezieren: Schneidet man es auf, so zerfällt und zerfließt es. Leonardos Lösung bestand darin, das Auge in Eiklar zu kochen, so dass es fest eingeschlossen und stabilisiert wird. Dabei löste sich allerdings die Netzhaut ab und die Linse verformte sich. Leonardo folgte einem seiner Grundsätze: „Es gibt immer mehr als eine Möglichkeit.“ Statt ein tatsächliches Auge zu sezieren, verlegte er sich auf genaue Beobachtung und das Zeichnen von Diagrammen.
Mit diesen Zeichnungen ging er das Problem logisch an und spekulierte über den Verlauf der Lichtstrahlen ins Auge. Einige seiner Schlussfolgerungen belächeln wir mit unserem heutigen Wissen: So ging Leonardo noch davon aus, dass die Pupille Einfluss auf die Perspektive hat – je größer ein Gegenstand erscheint, umso weiter sollte sich die Pupille dehnen.
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Andere seiner Beobachtungen treffen dagegen voll ins Schwarze: Leonardo da Vinci interpretierte korrekt, dass die Sicht im Dunkeln sich bei geweiteter Pupille verbessert, da so mehr Licht ins Auge fällt. Einen Nachweis dafür sah er in den Pupillen nachtaktiver Tiere wie Eulen und Katzen. Diesen schrieb er besonders große Variationen der Pupillenweite zu, je nach dunklen oder hellen Lichtverhältnissen.
Harmonische Proportionen
Wohl sein heute bekanntestes Werk neben der Mona Lisa ist Leonardo da Vincis Darstellung des „Vitruvianischen Menschen“. Der römische Architekt und Ingenieur Vitruv hatte bereits im ersten Jahrhundert vor Christus festgestellt, dass der menschliche Körper bestimmten Proportionen unterworfen ist: Der aufrecht stehende Körper mit Gliedmaßen solle sich demnach sowohl in einen Kreis wie auch ein Quadrat harmonisch einfügen lassen.
Leonardo untersuchte und studierte diese Proportionen genauer und bestätigte Vitruvs These. In der bekannten Zeichnung des Menschen mit gespreizten Armen und Beine verewigte er diese harmonischen Proportionen des menschlichen Körpers. Von Krankenkassen-Kundenkarten bis zur italienischen Ein-Euro-Münze ziert dieses Motiv heute zahlreiche Objekte.
Abgelenkt durch ausgiebige Beobachtung
Nicht nur dem Menschen, auch den Körpern von Tieren widmete Leonardo viel Zeit im Rahmen seiner Kunst. Der erste Arbeitgeber Leonardos nach der Zeit bei Verrocchio war der Mailänder Herzog Ludovico Sforza. Dieser wollte seinem Vater Francesco Sforza, dem Begründer der Dynastie, ein Denkmal in Form eines Reiterstandbilds setzen. Leonardo ging mit Feuereifer ans Werk: Er studierte das Aussehen und die Bewegungen von Pferden und fertigte zahlreiche Skizzen und Zeichnungen an. Mehrere Seiten seiner Notizbücher sind allein mit gezeichneten Pferdebeinen gefüllt.
Diese ausgiebige Hintergrundrecherche kennzeichnet viele von Leonardos Projekten. Allerdings ließ sich der Künstler dadurch offenbar oft vom eigentlichen Ziel ablenken: Das vollständige Reiterstandbild des Francesco Sforza etwa nahm nie Gestalt an, genau wie viele seiner Gemälde unvollendet blieben. Wahrscheinlich war die Statue in Größe und Detailreichtum zu ambitioniert und zu Leonardos Lebzeiten nach dessen Vorstellung schlicht nicht umzusetzen. Es existierte zunächst lediglich ein Tonmodell des Pferdes, ohne Reiter. Im Jahr 1999 schließlich stellte die Stadt Mailand ein nach Leonardos Entwürfen gefertigtes Pferd aus Bronze auf – immerhin beachtliche 7,3 Meter hoch.
Ansgar Kretschmer
Stand: 26.09.2014