Wenn die Ursuppe als Wiege des Lebens ausscheidet, wo stand diese dann? Für diese Frage hat der Münchener Chemiker und Patentanwalt Günter Wächtershäuser eine Antwort parat: Auf der Oberfläche von kristallinen Mineralien. Er und andere Vertreter der Oberflächen- oder Biofilm-Theorie gehen davon aus, dass die Oberflächen bestimmter Kristalle als Katalysatoren und Schablonen zu gleich fungiert haben könnten.
Schon in den 1970er Jahren fanden Wissenschaftler heraus, dass bestimmte Tone, die Montmorillonite, organische Substanzen in ihren Poren binden und deren Reaktionen fördern können. Die aus abwechselnden Schichten von negativ geladenem Silikat und positiv geladenen Kationen aufgebauten Minerale wirken damit wie Katalysatoren.
Montmorillonit, aber auch das inzwischen für diese Rolle favorisierte Mineral Pyrit und ähnliche Substanzen, liefern freie Elektronen für bestimmte Reaktionen und halten gleichzeitig durch ihre Ladung die Reaktionspartner an der Oberfläche fest. Damit verhindern sie, dass sich das Reaktionsgleichgewicht so weit verschiebt, dass der Zerfall der Makromoleküle gegenüber ihrer Produktion überwiegt, wie es im freien Wasser der Fall wäre.
Mineraloberfläche als Schablone
Versuche haben gezeigt, dass sich an solchen Mineralen sogar Polypeptide aus bis zu 60 Aminosäuren erzeugen lassen. Dabei verhilft die Mineraloberfläche den Reaktionen nicht nur zu größerer Stabilität, sie dient auch gleichzeitig als eine Art Schablone: Je nach Struktur der Oberfläche werden die abgelagerten Moleküle durch Wasserstoffbrückenbindungen festgehalten und stabilisiert, aber auch in bestimmter Weise geordnet. Nach Ansicht von Wächtershäuser könnten sich so nicht nur Polypeptide, sondern auch längerkettige Zucker wie Phosphotribosen aus einfachen Zuckerbausteinen gebildet haben. Sie gelten als Vorläufer von Nukleinsäuren, dem Grundgerüst der Erbsubstanzen RNA und DNA.
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Mithilfe des Rastertunnelmikroskops konnten die Wissenschaftler Wolfgang Heckl und Stephen Sowerby in den 1990er Jahren sogar direkt beobachten, wie sich DNA-Basenmoleküle in einer wässrigen Lösung durch den Kontakt mit einer Molybdänit-Mineraloberfläche „wie von selbst“ zu einer hochgeordneten Uracilschicht formierten. An dieser dockte dann, ebenfalls wie von Geisterhand, die Aminosäure Glycin an und hätte so den Ausgangspunkt für die Entstehung einer Polypeptidkette bilden können.
Seltsame Ringstrukturen
Ein ganz neues Gewicht erhielten diese Beobachtungen, als Heckl auf einem 650 Millionen Jahre alten Molybdänsulfid-Brocken auf seltsame, nur vier Nanometer kleine Ringstrukturen stieß, die sich bei näherer Analyse als organisch herausstellten. Konnte es sich hier möglicherweise sogar um eine Art einfacher DNA, ähnlich den bakteriellen Plasmid-Ringen, handeln? Für Heckl ist diese Annahme absolut denkbar. Warum sollte in der Erdfrühzeit nicht genau das geschehen sein, was er in seinem Labor ja quasi „live“ beobachtet hatte? Nukleinsäuren und Aminosäuren hätten sich demnach geordnet gruppiert und mit der Zeit den ersten genetischen Code gebildet.
Das Oberflächen-Szenario gilt heute als durchaus plausible Alternative zur klassischen Ursuppen-Theorie. Oder, wie es der Biochemiker Günter Kiedrowski von der Ruhr-Universität Bochum beschreibt: „Es sieht so aus, als ob die Polymere des Lebens eher in Form eines präbiotischen Pfannkuchens gebacken als in einer präbiotischen Suppe gekocht wurden.“
Nadja Podbregar
Stand: 25.10.2013